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Ich habe gestern Abend gar nicht mehr gehört, wie du nach Hause gekommen bist“, sagte Kit, als Wren am Dienstagmorgen in einem zerknitterten Tanktop und Shorts in die Küche kam. „Hattest du eine gute Zeit beim Malen?“

Wren öffnete den Schrank und nahm einen Kaffeebecher heraus. „Ich bin dann doch nicht mehr ins Atelier gefahren.“

„Oh.“ Kit biss in ihren Toast. Wo Wren stattdessen gewesen war, ging sie nichts an. Aber sie war wirklich lange unterwegs gewesen. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Ich habe Zoe versprochen, heute mit ihr zusammen zu malen, und habe beschlossen, doch nicht vorher schon anzufangen.“

„Aha. Gut. Ich bin froh, dass ihr das zusammen machen könnt.“

Wren rieb sich den Arm. Ihre blasse Haut war mit roten Stichen übersät.

„Sieht so aus, als hätten dich gestern die Mücken erwischt. Im Erste-Hilfe-Schrank findest du Salbe.“

„Danke, das geht schon.“ Wren wählte eine Kaffeekapsel vom Karussell auf der Theke aus und drückte sie in die Kaffeemaschine. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich vergessen habe, deinen Kurs richtig vorzubereiten. Ich habe Sarah versprochen, dir am nächsten Samstag zu helfen. Das ist gar kein Problem.“

Kit erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Toast hing auf halbem Weg zwischen dem Teller und ihrem Mund fest. „Sarah hat mit dir gesprochen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Gestern im Einkehrzentrum.“

Kit legte ihren Toast zurück auf den Teller. „Sarah war dort?“

„Ja.“

Interessant. Sarah hatte nichts davon gesagt, als sie über Logan sprachen.

Wren legte ihre Finger um die Träger ihres Tanktops. „Ich glaube, sie war mit deiner Abschiedsfeier beschäftigt.“

„Verstehe.“ Noch drei Wochen, in denen sie diese Geheimnistuerei wegen der Feier ertragen musste. „Es tut mir leid, dass Sarah es war, die dich darauf angesprochen hat, Wren. Ich wollte das selbst tun, aber wir waren beide so müde. Ich wollte dir nicht noch mehr zumuten.“

Wren zuckte die Schultern. „Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Also, worum geht es?“

Ach du meine Güte! Kit wischte sich mit der Serviette die Krümel von der Hand. Es war schwer, zu entscheiden, wann sie nachhaken und wann sie Wren lieber in Ruhe lassen sollte. „Du scheinst ja eine Menge zu verarbeiten zu haben. Das tut mir leid.“

„Danke.“ Die Kaffeemaschine zischte, gurgelte, summte.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Bete einfach nur, dass ich mich bei der Arbeit konzentrieren kann, dass ich keine Fehler mache.“

Armes Mädchen. „Sarah kann manchmal ein wenig harsch sein, das weiß ich, aber das mit Samstag war wirklich kein allzu großes Problem. Alles wurde erledigt. Nichts passiert.“

Wren schaute aus dem Fenster. „Aber genau darum geht es doch: Wenn ich in New Hope etwas vermassle, dann wird niemand verletzt. Wenn aber im Pflegeheim etwas schiefgeht, wenn ich vergesse, etwas sauber zu machen, das falsche Produkt verwende oder nicht sorgfältig desinfiziere, dann könnte einer der Bewohner Schaden nehmen. Oder sogar sterben.“

Kit runzelte die Stirn. In den drei Monaten, die Wren nun schon in Willow Springs arbeitete, hatte sie nie erwähnt, dass ein solcher Druck auf ihr lastete oder ihr die Verantwortung zu groß wurde. Zumindest hatte sie ihr gegenüber nichts gesagt. Vielleicht hatte sie mit ihrer Therapeutin darüber gesprochen? Hoffentlich. Wann hatte sie den nächsten Termin bei Dawn? Kit hatte irgendwie jegliches Zeitgefühl verloren. „Ist etwas passiert, Wren?“

Der Kaffee tröpfelte in den Becher mit Vincents Sonnenblumen. Die Maschine summte, seufzte und verstummte dann.

„Gestern hat sich jemand bei der Heimleitung beschwert.“

Kits Puls beschleunigte sich. „Über dich?“

„Nicht nur über mich“, erwiderte Wren und erzählte ihr, Mrs Whitlocks Tochter habe sich darüber aufgeregt, dass ihre Mutter nicht richtig versorgt worden sei.

Das schien in letzter Zeit ein häufiges Thema zu sein.

Wren trank einen Schluck Kaffee. „Ich kann es verstehen, wenn Teri sich darüber aufregt, dass ihre Mutter nicht frisiert und angezogen war. Schließlich war es bereits Mittag. Und wenn sie sich vorstellt, dass ihre Mutter schon eine Zeit lang in einer vollen Windel dasitzt, kann ich auch verstehen, warum sie böse auf mich ist. Ich hatte es ja auch tatsächlich bemerkt – der Geruch war ziemlich penetrant, und ich hätte sofort jemanden holen müssen, der sich darum kümmert. Das wäre keine große Sache gewesen.“

„Beim nächsten Mal weißt du Bescheid“, sagte Kit. Sie trug ihr Frühstücksgeschirr zum Spülbecken. „Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, denn jetzt weiß ich, wie ich für dich beten kann.“

„Danke.“ Wren nahm eine Schachtel Cornflakes und zwei Fläschchen mit Medizin aus dem Schrank.

„Soll ich dich mitnehmen? Ich kann dich gern heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit absetzen.“

„Nein, das geht schon. Dawn schärft mir immer wieder ein, dass mir regelmäßige Bewegung guttut. Ich fahre gern mit dem Fahrrad.“

„Gut.“ Kit spülte die Teller und Becher ab, bevor sie das Geschirr in den Geschirrspüler räumte.

Sport. Arbeit. Therapietermine. Medikamente. Gebet. Kunst. Gottesdienst. Wren tat alles, was ihr möglich war, um gegen die Depression anzukämpfen und die Hoffnung nicht zu verlieren. „Sag mir Bescheid, wenn ich irgendetwas für dich tun kann“, sagte Kit und ging in ihr Zimmer, um zu beten.

B

Kaum hatte Kit die Eingangstür des New Hope-Zentrums geöffnet, als Gayle auch schon in das Foyer gestürmt kam. „Du hast mich gestern nicht mehr zurückgerufen. Ist alles in Ordnung? Gibt es Neuigkeiten?“

Kit verstaute den Schlüssel in ihrer Handtasche. Bill hatte sie gebeten, keine Einzelheiten über Logan weiterzugeben. Aber er hatte ihr nicht verboten zu erzählen, dass sie einen geeigneten Kandidaten gefunden hatten. „Das Kuratorium hat endlich jemanden gefunden.“

„Und?“

„Er kommt zu einem persönlichen Gespräch her.“

„Wann?“

„Irgendwann in dieser Woche.“

Gayle begleitete Kit in ihr Büro. „Wann immer das ist, ich will auf jeden Fall hier sein. Du weißt nicht zufällig, an welchem Tag er kommt? Hat Bill nichts gesagt?“

Kit legte ihre Tasche auf den Schreibtisch. Gayle würde am Freitag sowieso im Büro sein, um den Samstagskurs vorzubereiten. Es sprach nichts dagegen, dass sie den Mann traf, der vielleicht ihr neuer Chef werden würde. „Er hat mich gefragt, ob ich am Freitag Zeit habe.“

„Um ihn zu treffen?“

„Soweit ich weiß.“

Gayle atmete tief durch. „Okay, das ist gut. Gibt es sonst noch etwas? Wo kommt er her? Was hat er bisher gemacht? Arbeitet er irgendwo in einem ähnlichen Einkehrzentrum?“

Kein Name, kein Ort, ermahnte sich Kit. „Bill hat mir nicht viel verraten, nur dass der Kandidat sehr ausgeprägte Führungseigenschaften besitzt und dass das Kuratorium ziemlich begeistert von ihm ist.“

Zum Glück hakte Gayle nicht weiter nach. „Wenn du mehr erfährst, was du weitergeben darfst, dann sag mir bitte Bescheid.“ Mit diesen Worten verschwand sie im Flur.

Kit setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm ihren Terminkalender zur Hand, um nachzusehen, welche Termine sie am Freitag bereits vorgemerkt hatte. Ein Begleitgespräch um elf, eines um halb eins und um halb vier eine Konferenzschaltung mit den Leuten, die im Herbst Workshops und Einkehrtage durchführen würden.

Sollte sie das Gespräch mit Logan gleich am Morgen führen, oder wäre es besser zu warten, bis sie die beiden geistlichen Begleitungsgespräche hinter sich hatte? Eine Begegnung mit Logan gleich morgens früh würde sie vermutlich für den Rest des Tages beschäftigen. Aber wenn sie ihn erst später traf, könnte die gedankliche Vorbereitung auf diese Begegnung sie in ihren Gesprächen ablenken.

Sie trommelte mit ihrem Stift auf die Schreibtischplatte. In jedem Fall würde es am Freitag eine Herausforderung sein, wirklich präsent zu sein. Aber vermutlich wäre es leichter, ein bereits geführtes Gespräch aus ihren Gedanken zu verbannen als ein Gespräch, das noch auf sie wartete.

In der Mail an Bill schrieb sie, zwischen acht und halb elf habe sie Zeit und sie hoffe, das lasse sich mit seinem Terminplan vereinbaren.

Die Antwort folgte prompt. Wir sind um neun Uhr da.

Gut. Das wäre also erledigt.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Vor ihrem ersten Termin blieb ihr noch fast eine Stunde Zeit. Sie könnte an dem Entwurf für den Kurs am Samstag weiterarbeiten. In ein neues Word-Dokument tippte sie den Titel: „Umgang mit Leid und Trost“.

Sie hatte sich gefreut, dass Sarah am letzten Samstag an dem Kurs teilgenommen hatte, doch sie bedauerte auch nicht, dass sie in dieser Woche nicht dabei sein würde. Das verschaffte ihr uneingeschränkte Freiheit, so zu sprechen, wie der Heilige Geist sie führte, vor allem bei der Beantwortung der Fragen am Schluss. Wenn offene Worte über eigene Leiderfahrungen für andere eine Bereicherung und Hilfe sein konnten – und diese Erfahrung hatte sie nun mehrfach gemacht –, durfte sie sich in dieser Hinsicht nicht zurückhalten.

Sie schlug in ihrer Bibel den zweiten Korintherbrief auf, den sie seit jeher besonders gern mochte. Hier berichtete Paulus ganz offen von seinem eigenen Schmerz und Leid, von seinem Kampf mit Unsicherheit. Und er beschrieb seine Sehnsucht mit dieser entwaffnenden, bescheidenen Aufrichtigkeit und Verletzlichkeit, die ihr den normalerweise so streitbaren und etwas groben Apostel so lieb machten. Hier gab Paulus seine Schwäche ganz offen zu, seine Frustration darüber, dass er missachtet, nicht wertgeschätzt und missverstanden worden war. Hier sagte er ohne Vorbehalte, dass er andere Menschen brauchte. Hier zählte Paulus seine Verdienste auf, kämpfte gegen seinen Stolz an, rühmte sich seines Leidens und seiner Ausdauer. Hier zeigte sich Paulus in seiner unverschleierten Menschlichkeit, und er pries Gott, dessen Kraft in seiner Schwäche sichtbar wurde und dessen Gnade ihm genug war. Gepriesen sei Gott, der Vater von Jesus Christus, unserem Herrn. Er ist der Ursprung aller Barmherzigkeit und der Gott, der uns tröstet. In allen Schwierigkeiten tröstet er uns, damit wir andere trösten können. Wenn andere Menschen in Schwierigkeiten geraten, können wir ihnen den gleichen Trost spenden, wie Gott ihn uns geschenkt hat.1

Sie nahm das kleine Kreuz zur Hand, das auf ihrem Schreibtisch lag – ein Geschenk, das sie vor Jahren von ihrer ersten geistlichen Begleiterin bekommen hatte. Ein Trostkreuz, so hatte Lucy es genannt, etwas Greifbares, das sie an Gottes Gegenwart, Liebe und Trost erinnern sollte. Tröste, dachte Kit, wie du selbst getröstet worden bist. Ihre Finger umschlossen fest das glatte Holz.

B

Um kurz vor zehn vibrierte Kits Handy und zeigte eine Nachricht von Jamie an: Könntest du mich bitte anrufen, sobald du Zeit hast?

Sie schrieb zurück: Habe gleich einen Termin. Alles in Ordnung?

Nur fünf Worte erschienen auf ihrem Display: Mache mir Sorgen um Wren.

Kit spürte, wie es ihr eng ums Herz wurde. Heute Morgen schien mit Wren noch alles in Ordnung gewesen zu sein. Sie hatte die Herausforderungen, die sie gerade bestehen musste, benennen und in Worte fassen, zugleich aber auch ausdrücken können, wie sehr es sie belastete. Was war in den vergangenen zwei Stunden geschehen?

Sie starrte auf ihr Telefon. Jamie machte sich häufig übertrieben Sorgen um die psychische Stabilität und die Sicherheit ihrer Tochter, aber auch sie hatte mit der Hilfe ihrer Therapeutin gelernt, dass sie Wren nicht überwachen oder kontrollieren durfte.

Kits Blick wanderte erneut zur Uhr, bevor sie kurz entschlossen Jamies Nummer wählte. Zwei Minuten blieben ihr noch.

„Ich werde dich auch bestimmt nicht lange aufhalten“, beteuerte Jamie, nachdem Kit sie begrüßt hatte, „und werde dich auch nicht bitten, vertrauliche Informationen weiterzugeben. Wren hatte sich heute mit Zoe zum Malen verabredet. Das hat sie gerade abgesagt. Ein Bewohner des Pflegeheims ist wohl verstorben, und ich weiß, dass ihr das zu schaffen macht. Keine Ahnung, ob sie ihre Schicht schafft oder nicht.“

Kit lag es auf der Zunge zu sagen: „Das hat sie schon früher geschafft. Mehrmals.“ Stattdessen erwiderte sie: „Ich werde für sie beten. Ich weiß, wie schwer das ist.“

„Danke. Und könntest du bitte besonders aufmerksam sein, wenn du sie nachher siehst? Nur um ganz sicherzugehen?“

Auch das versprach sie. „Ich werde ihr sagen, dass sie doch am besten über alles, was sie dir sagen möchte, direkt mit dir sprechen soll. Und ich werde auch für dich beten, Jamie.“

„Danke. Wenn ich weiß, dass sie so durcheinander ist, dann ist das auch ein Trigger für mich. Es tut mir leid.“

„Das braucht es nicht. Es ist gut, dass du weißt, was deine Trigger sind.“ Sie griff erneut nach ihrem Kreuz. „Wenn ich etwas bemerke, das mich alarmiert, dann sage ich dir Bescheid.“ Erst am Morgen hatte Wren über ihre Angst gesprochen, sie könnte einen Fehler machen und damit einem Bewohner schaden. Bitte, Gott. Lass es nicht das sein. Aber auf keinen Fall würde sie das Jamie gegenüber erwähnen und sie dadurch beunruhigen.

Ein Klopfen an ihrer geöffneten Tür ließ sie zusammenfahren. Rasch beendete sie das Telefonat.

„Entschuldigung!“, sagte eine Stimme. „Bin ich zu früh?“

Kit verstaute Handy und Kreuz in ihrer Schreibtischschublade und streckte der Besucherin die Hand entgegen. „Nein, ganz pünktlich, Maureen. Kommen Sie herein.“ Einatmen. Ausatmen. Loslassen. Empfangen. „Möchten Sie eine Tasse Tee?“