12

Zu Hause in ihrem Büro schaute sich Sarah am Computer ein Video an, das die erste geistliche Begleiterin ihrer Mutter aus einem Pflegeheim in Tampa geschickt hatte. „Läuft die Kamera schon?“, hörte man Lucy fragen. Sie saß in einem Rollstuhl am Fenster. Das Licht hinter ihr war so hell, dass Sarah ihr Gesicht kaum erkennen konnte.

Eine lautere Stimme antwortete: „Ich habe den Knopf gedrückt.“ Die Kamera schwenkte von Lucy zum Linoleumboden und über abgewetzte Turnschuhe hinweg. „Ja, sie läuft. Nur zu. Du kannst jetzt sprechen.“

Lucys überbelichtetes Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm. „Katherine?“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich vermisse dich. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen, und jetzt erfahre ich, dass du in den Ruhestand gehst.“ Langsam drehte sie den Kopf zum Fenster. „Du gehst von dem Ort weg, an dem wir uns vor langer Zeit begegnet sind. Du weißt schon, welchen ich meine.“ Sie schaute wieder in die Kamera und hob ein gelbes Blatt von ihrem Schoß. „Warte kurz, ich habe etwas für dich aufgeschrieben. Hol mir doch bitte mal meine Brille, ja, Bea?“

Eine von blauen Adern durchzogene Hand kam ins Blickfeld, nahm die Brille von Lucys Kopf und setzte sie ihr auf. „Danke, so ist es besser.“ Lucy hob das Blatt ein wenig an, sodass es die untere Hälfte ihres Gesichts verbarg. Das Bild wurde herangezoomt und wieder zurück.

„Meine liebe Katherine“, las Lucy vor. Ihre Stimme war jetzt fester. „Ich wünschte, ich könnte bei dir sein, um dieses große Ereignis zu feiern. Aber ich weiß, dass du umgeben bist von Menschen, die dich genauso sehr lieben wie ich. Ich bin froh, dass deine Tochter Susan ein Video für dich macht. Sie sagte, ich könnte etwas für dich vorlesen oder eine Erinnerung mitteilen oder für dich beten. Also werde ich dir den Segen mitgeben, den wir uns am Ende unserer Sitzungen immer zugesprochen haben.“ Sie ließ das Papier sinken, schloss die Augen und sagte mit fester Stimme: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ Sie öffnete die Augen wieder. „Du bedeutest mir viel, meine Liebe, das weißt du. Wir werden uns wiedersehen, wenn wir beide sicher zu Hause angekommen sind.“

Lucy faltete das Blatt wieder zusammen und nahm ihre Brille ab. „Ist das gut?“, fragte sie, erneut in die Kamera schauend. Dann erstarrte das Bild auf dem Bildschirm.

Sarah wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

Wie konnte sie diesen Clip bearbeiten, damit Lucys Beitrag bestmöglich zur Geltung kam? Die Lichtverhältnisse stimmten nicht, und Beas Hände, wer immer sie war, zitterten so stark, während sie die Kamera hielt, dass das Video verwackelt war. Und was würde in Mama vorgehen, wenn sie merkte, dass Lucy Mühe hatte, sich an Namen zu erinnern? Aber wenn sie diese Zeilen wegschnitt, dann würde sie die schlichte Schönheit dieses Geschenks an ihre Mutter ruinieren.

Sie schaute in das Gesicht der geliebten Mentorin ihrer Mutter, der Frau, die sie mit dem Dienst der geistlichen Begleitung vertraut gemacht, sie viele Jahre lang in ihrem Gebet begleitet und ihr geholfen hatte, ihren großen Schmerz zu überwinden und mit ihr jeden Schritt in ein neues Leben zu feiern, den Katherine getan hatte.

Sarah war Lucy nur wenig Male begegnet, doch ihre Mutter hatte sie als eine geradlinige Frau mit schneller Auffassungsgabe beschrieben, als eine Frau mit festen Überzeugungen und der Fähigkeit, die Wahrheit klar und deutlich zu benennen, ohne dabei lieblos zu sein. So manches Mal war ihrer Mutter Lucys sezierender Ansatz ein wenig zu viel geworden, wie Sarah wusste, manchmal hatte sie ihn sogar als verletzend empfunden. „Aber ich wusste immer, dass sie auf meiner Seite stand“, hatte ihre Mutter stets betont. „Sie wünschte sich, dass ich frei und heil werde.“ Lucy hatte bei Kit das Potenzial für Leitungsaufgaben entdeckt und sich bemüht, sie herauszufordern und zu ermutigen, Ja zu dieser Berufung zu sagen. Das nächste Ja, wie ihre Mutter so gern sagte.

Wie lange war es her, seit Lucy in den Ruhestand gegangen und in den Süden gezogen war? Sieben Jahre? Acht? Es war schwer für ihre Mutter gewesen, einen Menschen zu verlieren, der so viel in ihr Leben investiert hatte, ganz besonders nach all den anderen Verlusten, die sie erlitten hatte. Nach vielen Monaten der Suche nach einem neuen geistlichen Begleiter und einigen Versuchen, die sich nicht bewährt hatten, hatte sie Russell gefunden, der ebenfalls begabt war, wenn auch auf ganz andere Art und Weise.

„Ach, los doch!“, rief Zach aus dem Wohnzimmer, wo er ein Baseballspiel seiner Lieblingsmannschaft verfolgte. „Ihr bringt mich um, Leute!“

Sarah trommelte mit den Fingern auf ihren Schreibtisch. Sie musste einen Weg finden, das Video zusammenzuschneiden. Zwar hatte Jess versprochen, ihr nach ihrer Rückkehr aus Orlando bei der Bearbeitung zu helfen, doch Sarah wollte unbedingt schon etwas geschafft haben, wenn sie morgen früh zum Haus am See aufbrachen.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und rief nach Zach. „Hättest du eine Minute Zeit für mich?“

„Unglaublich“, hörte sie ihn sagen. „Wie konntet ihr diesen Typen mit zwei Aus davonkommen lassen?“

Sie ging zur Tür. „Zach?“

„Ja?“ Er lag auf der Couch, das Handy in der Hand.

„Weißt du, ob man die Belichtung eines Videos verändern kann? Das wäre meine Rettung!“

„Bei einem Handyvideo, meinst du?“

„Ja, bei dem Video, das Lucy für Mama geschickt hat.“ Sie machte ihm ein Zeichen, er möge ihr doch bitte ein wenig Platz auf der Couch machen.

„Vielleicht“, erwiderte er, „aber ich habe keine Ahnung, wie. Schreib Jess doch eine Nachricht.“ Er nahm seine Coladose vom Couchtisch und trank einen Schluck.

Sie nahm ihm die Dose aus der Hand und trank ebenfalls einen Schluck. „Wie steht es?“

„Frag lieber nicht.“

„So schlimm, ja?“

„Im Augenblick dreizehn zu null.“

Sie verschluckte sich beinahe an der Cola. „Im Ernst? Warum hast du nicht längst abgeschaltet?“

„Weil es erst das vierte Inning ist. Noch viel Zeit für ein Comeback.“ Zach ließ sich niemals durch unmögliche Gewinnchancen entmutigen.

Da sie wusste, dass Morgan vermutlich schneller antworten würde als Jess, nahm Sarah ihr Handy vom Ladegerät und schrieb eine Nachricht an sie. Hallo, Schatz! Könntest du Jess mal fragen, ob es eine Möglichkeit gibt, die Belichtung eines Videos zu verändern und das Wackeln herauszubekommen?

„Neiiin!“, rief Zach, als der Kommentator ein Doppel ins rechte Feld verkündete, was dem Läufer die Möglichkeit gab, aus dem ersten Feld zu punkten. „Ihr hattet doch zwei Aus, Mann! Zwei Aus, du meine Güte!“

Sie setzte sich neben ihn und strich ihm beruhigend übers Knie. „Atme tief durch, Schatz.“ Drei Punkte erschienen auf ihrem Bildschirm. Jess sagt Ja.

Zach lehnte den Kopf zurück und lauschte. Ball eins. „Na los, wenn ihr den Punkt jetzt nicht macht, dann …“

Sarah tippte: Wie?

Der Rundfunksprecher rief Ball zwei. Zach murmelte etwas.

Morgan schrieb: Sie sagt, sie würde das machen, wenn sie nach Hause kommt.

Sarah antwortete: Aber ich möchte gern schon mal damit anfangen.

Der Kommentator kündigte den nächsten Schlag an. Ein Schwung, und …

Zach sprang von der Couch auf und stampfte mit dem Fuß auf, als der Kommentator beschrieb, wie der Ball über den Zaun des Mittelfelds flog. „Sechzehn!“, schrie er. „Sechzehn zu null!“ Wütend drückte er die Austaste an seinem Handy. Die Übertragung brach ab.

„Wie war das noch mal mit dem Comeback?“, fragte sie.

Er ließ sich aufs Sofa sinken. „Ich bin immer für Wunder zu haben, aber für dieses Spiel ist der Zug abgefahren.“

„Exitus?“, fragte sie.

„Ja. Ohne Chance auf Wiederbelebung.“

Ihr Handy vibrierte. Eine weitere Nachricht, dieses Mal von Jess. Hey, Mama. Warte doch einfach, bis ich zurückkomme. Bis zur Feier ist doch noch jede Menge Zeit.

Sarah seufzte. Sie und Jess hatten eine unterschiedliche Auffassung von „jede Menge Zeit“.

In Ordnung, Schatz. Danke. Sie legte ihr Handy neben das von Zach auf den Couchtisch. „Ich fange an, diese Idee mit dem Video zu bedauern.“

„Du brauchst das doch nicht zu machen.“

„Doch. Jetzt kann ich nicht mehr zurückrudern. So viele Leute haben sich die Zeit genommen und eine Grußbotschaft aufgezeichnet. Ich muss ihre Beiträge doch würdigen.“

„Das verstehe ich, aber es geht doch letztlich um deine Mutter. Und vielleicht müssen die Videos ja nicht vor der ganzen Festgesellschaft gezeigt werden. Du könntest sie ihr als privates Geschenk überreichen.“

Sarah starrte in den Kamin. Ihre Mutter hatte nie das Rampenlicht gesucht und einer offiziellen Feier zu ihrer Verabschiedung in den Ruhestand nur widerwillig zugestimmt. Würde sie ein Video mit Grußworten, das vor allen Gästen gezeigt wurde, tatsächlich als Geschenk empfinden? Oder wäre es eher eine Qual für sie? Wie konnte man sie am besten feiern und würdigen? Was war der beste Ausdruck von Liebe?

Sarah räkelte sich auf der Couch. „Hast du schon gepackt?“

„Gleich.“ Er griff wieder zum Handy.

„Du solltest dich besser beeilen. Ich habe Linda und Ed gesagt, dass wir rechtzeitig zum Mittagessen da sind.“

„Prima“, erwiderte er sarkastisch.

„Warum? Was ist das Problem?“ Die Coopers waren seit ihrer Kindheit wie die eigene Familie für sie, und Ed und Zach spielten schon seit Jahren zusammen Golf.

Er deutete auf sein Display. „Mit dieser Punktzahl? Das wird mir ewig nachhängen.“

Sie tätschelte seinen Arm, bevor sie zu ihrer Liste mit Dingen zurückkehrte, die noch zu tun waren. „Jetzt reiß dich mal am Riemen, mein Lieber, und finde dich damit ab.“

B

Es war doch wirklich immer dasselbe, dachte Sarah, als Zach in die Straße zum Haus am See einbog. Sobald sie an Fredas Eisstand mit den bunten Windrädern vorbeikamen, die sich in den Blumentöpfen mit Geranien und Petunien fröhlich im Wind drehten, war Sarah wieder acht Jahre alt und rutschte voller Vorfreude auf der Rückbank des alten Fords ihrer Eltern herum.

Hinter einem Golfcart, den sie sofort erkannten, bremste Zach ab. „Wage es ja nicht zu hupen“, warnte sie ihn. „Du erschreckst sie sonst zu Tode.“

Er ließ das Fenster herunter. „Hallo, Fremde!“, rief er, als er zum Überholen ansetzte.

Ed und Linda winkten. „Wettrennen!“ Ed beugte sich vor, als wolle er das Gaspedal durchtreten.

„Führe ihn nicht in Versuchung“, erklärte Sarah lachend.

Linda grinste. „Immer im Wettstreit, diese beiden Jungen.“

„Okay, Doc“, sagte Ed und winkte sie vorbei, „ich gebe mich geschlagen. Bis gleich.“

Zach überholte, und Sarah beobachtete sie im Seitenspiegel. Die Coopers führten das Leben, das ihren Eltern nie vergönnt gewesen war – Lachen, Hobbys, Freunde. Und auch wenn Carol und ihr Vater glücklich miteinander gewesen waren, hatten sie keinen langen Ruhestand miteinander genießen können. Nicht so wie Ed und Linda, die immer noch gemeinsame Reisen unternehmen, im Garten arbeiten und auf ihrem Anlegesteg miteinander Wein trinken und über dem Lake Hodge den goldenen Schimmer des Sonnenuntergangs bewundern konnten.

Sie bogen nach links in die Einfahrt ein. Der Kies knirschte unter den Reifen. Dieses Geräusch war für Sarah die Bestätigung, dass die Schwelle in eine andere Welt überschritten war – in eine Welt, in der sich die Zeiger der Uhr langsamer drehten und, wie ihre Mutter sagen würde, die Anforderungen des chronos sich viel bereitwilliger den Einladungen des kairos fügten.

Sarah öffnete die Autotür und atmete den frischen Duft der Kiefern ein, genau wie ihre Mutter es jedes Mal bei ihrer Ankunft getan hatte. Mama hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt und tief eingeatmet. Ihr blau kariertes Kopftuch hatte sie um ihre Haare geschlungen und unter dem Kinn verknotet. Da sie nur im Urlaub ein Kopftuch trug, waren diese bunten Tücher ein Vorbote für Freizeit und Vergnügen. Ihre Mutter summte oder pfiff häufiger, wenn sie ein Kopftuch trug, und das war immer dann der Fall, wenn sie für ein Wochenende ins Haus am See aufbrachen. Es war eine stumme Ankündigung für gemeinsames Vergnügen und Harmonie in der Familie.

Aber die Streitereien, die ihr Zuhause in Kingsbury verdüsterten, kümmerten sich nicht um geografische Grenzen. Häufig war Sarah mit einem Buch an den Strand oder in den Wald geflüchtet, um den Auseinandersetzungen ihrer Eltern zu entkommen. Micha hatte sich lieber auf den Anlegesteg zurückgezogen, die Füße ins Wasser baumeln lassen und seine neuesten Rockalben angehört.

Ihr Blick wanderte zum Anlegesteg, und beinahe konnte sie ihn dort mit seinem Strohhut sitzen sehen. Die Bitte ihrer Mutter, ein Shirt unter seinem Jeansoverall zu tragen, damit er keinen Sonnenbrand bekäme, hatte er immer ignoriert. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er einmal auf dem Steg hockte und eine Katze anlockte, die niemand fangen oder zähmen konnte, und wie er dann später am Abend leise in seinem Bett schniefte, weil seine Mutter allergisch gegen Katzen war und sein neuer Freund draußen bleiben musste. Und weil er ihn auch nicht mit nach Hause nehmen durfte.

„Aber wer wird sich dann um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr hier bin?“, hatte Micha geschluchzt. Fast auf dem ganzen Rückweg hatte er aus dem Autofenster gestarrt, und als sie das nächste Mal ins Haus am See gekommen waren, war sein vierbeiniger Freund fort gewesen.

Seltsam, dass ihr diese Bilder ganz ungebeten auf einmal vor Augen standen.

Sie schaute hoch zu den beiden Schildern, die an der Eingangstür hingen. Auf dem einen stand „Simpson“, auf dem anderen „Kersten“. Vielleicht war die Erinnerung mit solcher Wucht zurückgekehrt, weil die Mädchen heute nicht mit waren.

„Willkommen!“, rief Linda, nachdem Ed den Golfwagen in ihrer Einfahrt abgestellt hatte.

„Herzliches Beileid, Doc“, sagte Ed grinsend.

Zach gab vor, seinen Handschlag zurückzuweisen. „Fang gar nicht erst damit an, alter Mann.“

„War das ein Rekord an Misserfolgen? Ich habe noch nicht nachgeschaut.“

„Doch, hat er“, warf Linda ein. „Gleich heute Morgen hat er danach gesucht, nur um dich zu ärgern, Zach.“

Ed lachte. „Fünfundzwanzig zu vier! Juchhu!“

„Benimm dich.“ Linda stieß ihn in die Seite. „Ich sage dir was, Zach, sollte er jemals in der Notaufnahme versorgt werden müssen, dann wird er sich einen Arzt wünschen, der niemals aufgibt, egal, wie schlimm es aussieht.“

„Recht hast du!“, bestätigte Ed. „Diese Welt braucht mehr Optimisten. Also bewahre dir deine Zuversicht, Doc.“

Zach salutierte.

„Braucht ihr Hilfe beim Reintragen?“, fragte Linda.

Sarah nahm einige Tüten mit Lebensmitteln vom Rücksitz. „Nein, danke, das geht schon.“

„Na gut, dann gehen wir mal rüber, damit ihr euch einrichten könnt. Unsere Verabredung zum Mittagessen steht? Oder wäre euch ein Abendessen lieber? Uns ist das egal. Ed grillt Burger.“

Zach hängte sich seine Reisetasche über die Schulter und nahm Sarahs kleinen Koffer. „Ich hatte nicht viel zum Frühstück, darum wäre ich für Mittagessen.“

„Dann kommt einfach rüber, wenn ihr fertig seid“, sagte Ed. „Ich schmeiße schon mal den Grill an.“ Mit diesen Worten liefen die beiden Hand in Hand über den Rasen zu ihrem Haus, das viel größer war als das bescheidene kleine Holzhaus, das Sarahs Großeltern in den 1950iger-Jahren erbaut hatten.

„Ich denke, ich gehe erst mal eine Runde schwimmen“, erklärte Zach, als sie mit ihrem Gepäck die Verandastufen hochstiegen. „Kommst du mit?“

„Ich warte noch ein wenig, danke.“ In dem Moment, als Sarah die Haustür öffnete, blieb sie wie angewurzelt stehen, und Zach lief von hinten in sie hinein.

„Was ist?“

Ihr Blick hing an den mit Holz verkleideten Wänden. Sie waren weiß und nicht mehr wie früher honigfarben lasiert. Und der Esstisch war aus dem kleinen Küchenbereich in eine Ecke des Wohnzimmers gerückt worden, wo er mitten in der Sonne stand.

„Sarah?“

Das alles war natürlich lächerlich, denn wenn sie sich recht erinnerte, war der Esstisch bereits vor der Geburt der Mädchen hinten ans Fenster gestellt worden. Sie hatte viele Mahlzeiten mit Zach, Papa und Carol dort eingenommen und dabei die Schwäne oder die Paddler auf dem See beobachtet.

Sie ging ins Haus hinein und legte die Tüten mit den Lebensmitteln auf die Arbeitsplatte in der Küche. „Als ich die Tür aufgemacht habe, hätte ich schwören können, dass die Wände die falsche Farbe haben.“

„Welche Farbe hätten sie denn haben sollen?“

Sie kannte diesen Blick. Drück dem Mann ein Stethoskop in die Hand, und er fängt sofort an, die Symptome einzuordnen. „Nein, ich meine, ich weiß ja, dass sie weiß sind.“ Carol und Papa hatten sie nach ihrer Hochzeit weiß gestrichen, weil Carol meinte, das Haus komme ihr vor wie eine Höhle und brauche eine kleine Aufhellung. Genau das hatte auch ihre Mutter immer gesagt, aber Papa hatte immer argumentiert, sein Vater hätte das Haus gebaut und es bleibe genau so, wie er es hätte haben wollen. Bis Carol ihn um eine Veränderung gebeten hatte. Ihren Bitten hatte er immer bereitwillig nachgegeben.

Sarah ließ den Blick durch den Raum wandern. Ihr war es recht gewesen, dass ihre Stiefmutter das Haus mit bunten Teppichen, karierten Kissen, nautischen Bildern und leichten Vorhängen in Blautönen verschönert hatte. Als Sarah das Haus am See nach dem Tod ihres Vaters geerbt hatte, hatte sie keine Veranlassung gesehen, irgendetwas zu verändern, zumal Carol vor ihrer Wiederheirat gelegentlich zu Besuch gekommen war.

Ihre Mutter dagegen hatte nach der Scheidung keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt. Sarah hatte sie oft für ein Wochenende mit ihnen dorthin eingeladen, aber sie hatte immer irgendwelche Ausreden gehabt. Irgendwann hatte Sarah sie dann nicht mehr gefragt.

Sie öffnete den Kühlschrank und stellte Milch, Eier und Käse hinein. Wenn sie ein Foto von ihrer Mutter mit einem Kopftuch oder eines von Micha in seinem Overall in die Finger bekäme, würde sie es rahmen und neben dem von ihrem Vater, Carol, Zach, sich selbst und den Mädchen aufstellen. Um das Leben all der Menschen zu würdigen, die in diesen vier Wänden gelebt hatten.