13
Auch sechsunddreißig Stunden nach ihrer Nachricht an Chris war diese zwar als gesendet markiert, aber offenbar noch nicht von ihm gelesen worden.
Wren steckte ihr Handy in den Rucksack, bevor sie diesen in ihrem Spind im Pflegeheim verstaute. Sie würde in der Mittagspause noch einmal nachschauen.
Das Gute, dachte sie, als sie ihren Putzwagen in den Aufzug schob, war, dass Chris, wenn er ihre Nachrichten las, beide auf einmal sehen würde. Dann hätte er keine Zeit, seine Mutter um Informationen zu bitten – auch wenn Wren nicht davon ausging, dass er dies sofort getan hätte, wenn er nur ihre erste Nachricht bekommen hätte. Aber es war beruhigend zu wissen, dass sie den Zeitpunkt, ihre Bitte zurückzunehmen, nicht verpasst hatte.
Als sie aus dem Aufzug trat, rief Greta ihr aus dem Stationszimmer einen Gruß zu. Offensichtlich war die Kälte, die sie gestern wegen Teris Beschwerde empfunden hatte, ob nun real oder eingebildet, dahingeschmolzen. „Ich habe einige Änderungen für heute“, erklärte Greta und winkte sie zu sich.
Wren stellte ihren Putzwagen so ab, dass er nicht im Weg stand.
„Pete hat um zehn Uhr einen Termin beim Friseur. In dieser Zeit könnte sein Zimmer einmal gründlich gereinigt werden, samt den Fußböden. Betty möchte heute Morgen ausschlafen. Wenn ihre Zimmertür während der Mittagszeit offen steht, kannst du dann dort putzen. Und Dorothys Fenster müssen dringend geputzt werden. Die restlichen Dinge können erledigt werden, wie Audrey es dir aufgetragen hat.“ Sie reichte Wren einen Stift, damit sie die Änderungen in ihrem Plan eintragen konnte.
„Audrey ist heute nicht da?“, fragte Wren, während sie sich die Änderungen notierte. Sonst war es immer Audrey, die Änderungen oder besondere Bitten mit ihr absprach.
„Probleme mit der Kinderbetreuung“, erwiderte Greta. „Sie kommt später.“
Wren bedankte sich bei Greta und schob ihren Wagen durch den ersten Flur. Mr Kennedy saß in seinem Sessel und konzentrierte sich auf sein Frühstück. Im Hintergrund lief leise die Übertragung eines Golfturniers. Sie beschloss, ihn nicht zu stören.
Die gegenüberliegende Tür stand einen Spalt offen. Der Erinnerungskasten an der Wand war jetzt neu dekoriert. Neugierig stellte Wren ihren Wagen darunter ab und betrachtete die Gegenstände: ein Pinsel, eine Eintrittskarte für eine Broadwayinszenierung von Les Misérables und ein Schwarz-Weiß-Foto von einem jungen Mann auf einer Bühne im Kostüm einer Shakespeareaufführung. Sie beugte sich vor, um sich das Foto näher anzusehen. Die Bewegung seiner Arme, die Intensität seines Blickes, eine einzelne hochgezogene Augenbraue – alle diese Merkmale hatte Mr Page aus seiner Jugend ins Klassenzimmer mitgebracht. Diese eine hochgezogene Augenbraue hatte alles heißen können – von Neugier über Skepsis bis zu ernsthaftem Nachdenken – und war nicht zuletzt auch als Warnung an die Jungs zu verstehen gewesen, um ihnen zu sagen: „Denkt nicht mal darüber nach.“ Natürlich auch an Casey.
Da sie ihn nicht stören wollte, indem sie an die Tür klopfte, spähte Wren durch den Türspalt. Mr Page lag in seinem Bett, das Essenstablett vor sich. Das Rührei mit Speck war unberührt. Leise sagte sie: „Mr Page?“
Langsam drehte er den Kopf und schaute sie mit einer solch abgrundtiefen Traurigkeit im Blick an, dass sie das Türblatt umklammerte, um sich festzuhalten. Sie konnte nur erahnen, wie viele gravierende Verluste diese einst so lebendigen Augen getrübt haben mochten. Wenn sie ihn hätte zeichnen können, wenn sie den Schmerz hätte einfangen können, der sich zeigte, als er ihr Gesicht musterte, als sehne er sich nach Erleichterung, nur um dann doch wieder enttäuscht zu werden – wenn sie ihn so hätte malen können, wären diejenigen, die das Bild sähen, vermutlich zu Tränen gerührt. Oder zum Gebet bewegt.
Vincent würde ihn malen. Oder besser, er hatte ihn gemalt. Immer und immer wieder in seinen Selbstporträts hatte er genau diesen Schmerz, dasselbe Flehen um Mitgefühl oder Verständnis oder Hilfe gemalt. Gefährten im Unglück. Im Leid. Vincent hätte in Mackenzie Page sofort einen Bruder erkannt. Und ja, wenn Vincent seine Arbeiten gesehen hätte, auch einen Künstlerkameraden.
Sie betrat das Zimmer. Keine Fotos. Keine Bilder. Keine künstlichen Pflanzen. Keine Magnete an dem kleinen Kühlschrank, keine Dekoration an den Wänden oder Erinnerungsstücke auf dem Regal. Nur ein aschgrauer Sessel und dunkle Holzböden, beigefarbene Wände und braune Jalousien am Fenster und eine senffarbene Decke, die man ihm über die Beine gelegt hatte.
Wren trat an sein Bett, wo ein weißes Kabel mit einem roten Rufknopf um das schmale Bettgitter geschlungen war. Anscheinend hatten sie Sorge, er könnte aus dem Bett fallen. „Hallo, Mr Page“, begrüßte sie ihn. Obwohl sein Blick auf sie gerichtet war, deutete nichts darauf hin, dass er sie erkannte. Warum sollte er auch nach all den Jahren? „Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, aber Sie waren in der Schule in Kingsbury mein Kunstlehrer.“
Sie war nicht sicher, ob das Aufflackern von Emotionen, das auf einer Seite seines Gesichts zu erkennen war, nun Freude oder Schmerz signalisierte.
„Ich bin Wren Crawford.“
Sie wartete. Keine verbale Reaktion. Wenn ihr ungewöhnlicher Name noch keine Erinnerung bei ihm weckte, dann könnte er durch ein weiteres Detail vielleicht eine Verbindung ziehen. „Sie waren sehr freundlich zu mir, als ich aus Australien hierhergezogen bin.“
Eine Seite seines Mundes zog sich leicht nach oben. „Sie haben Ihren hübschen Akzent verloren, Wren.“ Welchen Schaden auch immer der Schlaganfall bei seinem Sprachvermögen verursacht haben mochte, der alte Bühnenveteran konnte noch immer so gut artikulieren, dass er verstanden wurde – wenn auch vielleicht nicht ganz hinten in einem Saal, aber doch in diesem Zimmer.
„Meine Mutter hat ihren noch nicht abgelegt“, erwiderte sie und schlüpfte in den alten Akzent wie in einen Lieblingspullover.
„Manche Dinge verschwinden nie“, sagte er. Während sein Blick zum Fenster wanderte, fragte sie sich, woran er wohl dachte.
„Soll ich vielleicht die Jalousien für Sie öffnen?“
„Nein, danke.“
„Sind Sie sicher? Es ist schön draußen.“
„Umso mehr ein Grund, sie geschlossen zu lassen.“
Sie räusperte sich. „Ist es in Ordnung, wenn ich Ihr Zimmer sauber mache, Mr Page?“
Über diese Frage schien er nachzudenken. „Ist es das, was Sie hier tun? Sie putzen die Zimmer?“
Sie errötete. „Ja, Sir.“ Sofort verspürte sie den Drang, sich zu erklären. „Ich bin eigentlich Sozialarbeiterin. Aber ich habe die Arbeit nicht mehr verkraftet, darum nehme ich eine Auszeit.“
Er schloss die Augen. „‚Der beste Plan von Maus und Mann‘“, deklamierte er mit ausgeprägtem schottischen Akzent, „,geht schlimm oft aus und bringt uns Schmerz und Sorge dann statt Freud ins Haus.‘“ Er schlug die Augen auf. „Kennen Sie das?“
„Nur die erste Zeile.“
Ganz langsam hob er die Hand, um sich an der Nase zu kratzen. „Lernen Sie den Rest, solange Sie noch jung sind, Wren. Das wird Ihnen eine Menge Enttäuschung ersparen.“
Da sie nicht sicher war, was sie antworten sollte, blieb sie einfach an seinem Bett stehen.
„Guten Morgen, Mr Page!“, rief eine fröhliche Stimme hinter ihnen. Kayla stand im Türrahmen. Mit einem strahlenden Lächeln betrat sie den Raum, winkte Wren zu und fragte ihn: „Brauchen Sie Hilfe beim Frühstück?“
Er starrte sie nur an.
„Sieht so aus, als hätten Sie Ihr Essen noch gar nicht angerührt. Kann ich Ihnen etwas anderes bringen? Einen Muffin oder Toast?“
„Nein, danke.“
„In Ordnung. Wenn Sie Hunger bekommen, hole ich Ihnen auch gern einen Joghurt, eine Banane oder einen Müsliriegel aus dem Aufenthaltsraum. Und natürlich können Sie sich auf ein gutes Mittagessen freuen.“ Sie räumte das Tablett ab. „Jetzt werden wir Sie erst mal anziehen und in Ihren Rollstuhl setzen, damit Sie in den Tag starten können. Peyton hat viele schöne Aktionen geplant.“
Wren sah, wie sich sein Kiefer anspannte.
„Ich komme dann später zum Putzen wieder, Mr Page“, sagte sie, als Kayla das Handtuch von seinem Pyjama nahm.
„,To a Mouse‘ von Robert Burns“, erwiderte er, und sein trauriger Blick richtete sich auf sie. „Das müssen Sie unbedingt lesen.“
In ihrer Mittagspause folgte sie seinem Rat und las im Garten bei der Fontäne auf ihrem Handy eine moderne Übertragung des Gedichtes von Burns. Es ging um einen Mann, der beim Pflügen seines Feldes unbeabsichtigt das Heim einer kleinen Maus zerstört, die vollkommen verängstigt die Flucht ergreift. Die Arbeit der kleinen Maus ist zunichtegemacht, und noch dazu ist es Winter, sodass sie es nicht wieder wird aufbauen können. Armes kleines Tier. Diese ganze Arbeit, die sie investiert hat, um sich den Komfort dieses bescheidenen Heims zu schaffen, alle Hoffnung und Erwartung, dort Schutz zu finden vor dem eiskalten Wind – mit einem Strich des Pfluges ist alles zerstört. Für immer.
Das Vibrieren ihres Handys ließ sie hochschrecken. Eine Nachricht. Aber nicht von Chris, sondern von ihrer Mutter. Steht deine Verabredung mit Zoe zum Malen heute Abend nach der Arbeit noch?
Wren tippte Ja.
Ihre Mutter antwortete mit einem hochgereckten Daumen.
Sie biss in ihr Sandwich. Vielleicht antwortete Chris auch gar nicht. Und wäre das noch von Bedeutung? Solange er ihre Bitte nicht erfüllte, wäre alles gut. Und warum sollte er das jetzt noch tun? Es war nichts passiert.
Ganz anders als bei dem Mann im Gedicht. Er hatte unabsichtlich einen irreparablen Schaden angerichtet.
Zumindest besaß er Mitgefühl mit dieser kleinen Kreatur und bedauerte, was er getan hatte. Aber es gab keine Möglichkeit, den Schaden wiedergutzumachen, keinen Schutz für das verletzliche kleine Wesen, das jetzt der eisigen Kälte ausgesetzt war. Sie las die letzten beiden Strophen noch einmal.
Doch, Mäuschen, du zeigst nicht allein,
dass Vorsicht kann vergeblich sein,
der beste Plan von Maus und Mann
gelingt oft nicht,
und Leid und Kummer bringt uns dann,
was Lust verspricht!
Nur bist du glücklicher als ich.
Das Heut allein bekümmert dich,
ich, wend ich rückwärts mein Gesicht,
find, ach, nur Schmerz,
und seh ich auch die Zukunft nicht,
bangt doch mein Herz.
Armes Wesen, armer Mann. Beide mussten sie die Widrigkeiten des Lebens erdulden, egal, wie umsichtig sie auch planten. Welche Umstände, fragte sie sich, hatten den Mann dazu gebracht, darüber nachzudenken, dass er in seiner Enttäuschung solidarisch war mit diesem kleinen Wesen? Welche Lasten aus der Vergangenheit machten sein Leiden noch schlimmer als das der kleinen Maus? Reue? Schuld? Eine Anhäufung von Verlusten, angesichts deren Hoffnung keine Erleichterung mehr brachte, sondern nur noch mehr Schmerz? Solche Verluste in Verbindung mit Ängsten vor einer unbekannten Zukunft konnten einen Menschen in die Verzweiflung treiben.
Doch vielleicht zählte er ja nur die Gegebenheiten des Menschseins auf und dachte gar nicht über die Umstände seines eigenen Lebens nach und wie die Vergangenheit und die Zukunft in die Gegenwart hineinspielten und sie durch Trübsinn und Angst verdüsterten.
Sie dachte an Mr Page in seinem kahlen und kalten Zimmer, der auf Hilfe beim Ankleiden wartete und über die Stürme der Zerstörung nachdachte, die ihn hierhergebracht hatten. Sie würde ihm sagen, dass sie das Gedicht gelesen hatte. Und wenn er sie fragte, ob sie es verstanden hätte, würde sie Ja sagen. Und wenn sie genügend Mut aufbrächte, könnte sie diesen Gefährten im Leid fragen, wie jene Verse sich in seinem Leben niedergeschlagen hatten, und sehen, ob er vielleicht auch ein Gefährte in der Hoffnung wäre.
B
Als sie in den ersten Stock zurückkam, um die Gemeinschaftsräume zu putzen, saßen ein Dutzend Bewohner an dem langen Tisch, an dem häufig gespielt, gebastelt und gemalt wurde. Peyton stand vorn am Kopf und hielt Papprollen vom Toilettenpapier hoch. „Kann jemand erraten, was wir heute machen?“
„Ich habe eine Idee“, rief Mrs Clement und warf einen Seitenblick in Mr Pages Richtung, „aber das würde ich lieber nicht sagen. Es ist nicht gesellschaftsfähig.“
Wren, die in der Ecke stand und abstaubte, unterdrückte ihr Lachen.
Peyton ließ sich nicht beirren. „Tropische Fische! Wir werden niedliche kleine Fische als Dekoration für unsere Strandparty basteln. Bestimmt freuen Sie sich doch auf unsere Party, nicht? Nur noch zehn Tage!“ Sie legte die Rollen auf den Tisch und nahm ein Muster aus dem Regal. „Hier, ich habe bereits ein Modell gebastelt, damit Sie sehen, wie das aussehen soll. Wir brauchen nur diese Rollen glatt zu streichen, machen ein paar Schnitte mit der Schere, und schon ist ein Fisch fertig. Jetzt muss er nur noch angemalt werden.“ Nachdem sie den Fisch hochgehalten und gedreht hatte, damit die Bewohner ihn anschauen konnten, gab sie ihn an Mrs Whitlock weiter, die ihr am nächsten saß. „Schauen Sie ihn sich an, und reichen Sie ihn dann bitte weiter.“
Nachdem Mrs Whitlock ihn angeschaut hatte, gab sie ihn weiter an Mr Kennedy, der nur leicht nickte, ihn aber nicht entgegennahm. „Na, wenn das nichts ist“, sagte er.
„Geben Sie ihn weiter, Pete“, forderte Peyton ihn auf, „damit alle ihn anschauen können.“
Aber seine Hand zitterte so stark, dass er ihn fallen ließ. Kayla bückte sich, hob ihn auf und reichte ihn an Mrs Clement weiter.
„Also, ich bin heute richtig aufgeregt“, fuhr Peyton fort, „weil wir einen echten Künstler unter uns haben. Sie haben Mackenzie bereits kennengelernt, nicht wahr? Er war viele Jahre lang Kunstlehrer, nicht wahr, Mackenzie?“
Wren umklammerte ihr Staubtuch und fragte sich, was Mr Page wohl dachte, während er vor sich hin starrte.
Doch Peyton redete unbeirrt weiter. „Wir haben also einen Experten in unserer Mitte, der uns Tipps für unsere Kunstprojekte geben kann, nicht?“ Ihr Blick wanderte über den Tisch hinweg. „Wer hat meinen kleinen Fisch?“
Chelsea, eine von den Helferinnen, nahm ihn von Mrs Vanderwaals Schoß und gab ihn Peyton zurück. „Also gut, Sie haben nun mein Muster gesehen, aber natürlich können Sie Ihren Fisch so verzieren, wie Sie das wollen. Wir haben jede Menge bunte Stifte und Sticker, genug für jeden. Und Bastelpapier – bunte und fröhliche Farben, aus denen Sie auswählen können. Und wenn Sie kleine Wackelaugen aufkleben möchten, auch die gibt es hier.“ Sie hob ihr Muster in die Höhe und wackelte damit. „So süß, nicht?“
Mr Page hatte seine linke Hand auf den Tisch gelegt und schien seinen Rollstuhl zurückschieben zu wollen, aber die Bremse war blockiert.
Kayla trat vor. „Hey, hey, wo wollen Sie hin, Mackenzie?“
„Weg.“
„Ach was, bleiben Sie doch! Nach der Bastelstunde gibt es noch einen leckeren Imbiss.“
„Nein, danke.“
„Sind Sie sicher? Wir könnten Ihre Hilfe bei dem Bastelprojekt brauchen.“
Wren beobachtete, wie er seine Hand hob. Wenn er diese Geste von der Bühne aus vor einem Publikum gemacht hatte, waren die Zuhörer sofort verstummt. „Für das, was Sie hier machen“, sagte er, „brauchen Sie meine Hilfe nicht. Und da Sie mich nicht hinbringen können, wo ich hinmöchte, werde ich mich stattdessen in mein Zimmer zurückziehen.“ Er wandte Peyton sein Gesicht zu, und die Bewegung wirkte umso dramatischer, weil er sich langsam drehte. „Und für Sie, junge Dame, bin ich immer noch Mr Page.“
B
Als Wren später am Tag in ihrem Atelier ihre Malutensilien zusammensuchte, sah sie Peytons gequälten Gesichtsausdruck vor sich, während sie stammelnd eine Entschuldigung vorbrachte. Wenn Wren ihrem früheren Lehrer gegenüber nicht eine solche starke Loyalität empfunden hätte, hätte Peyton ihr vielleicht leidgetan, vor allem, nachdem sie in der Toilette zufällig mitbekommen hatte, wie Peyton Chelsea unter Tränen anvertraute, sie habe das alles so satt. Sie würde sich so große Mühe geben, das Leben der Bewohner abwechslungsreich zu gestalten, und bekomme so wenig Anerkennung dafür. „Mach dir nichts draus“, hatte Chelsea erwidert. „Du leistest hier gute Arbeit. Jeder von uns erlebt schon mal solche Augenblicke.“ Und dann hatte sie sie zur Happy Hour in The Tavern eingeladen. Wren hatte in ihrer Toilettenkabine gewartet, bis die beiden den Raum verlassen hatten.
Sorgfältig legte sie sich auf ihrem Arbeitstisch ihre Pinsel und Palettenmesser zurecht. Sie hatte Zoe zwar gesagt, dass sie vielleicht den kahlen Kardinalsvogel malen würde, doch die Sonnenblumenköpfe in der Nähe ihres Fensters zum Garten waren gerade dabei, sich zu öffnen, und sie wollte sie lieber direkt nach dem Original malen statt später aus dem Gedächtnis oder von einer Fotografie. Wie Vincent. Sie nahm aus ihrer Farbenbox die Tuben mit Kadmiumgelb und Orange, Zitronengelb und Ockerrot, Kupfergrün und Chromoxidgrün und Umbrabraun. Ihr Blick wanderte zum Himmel. Lichtblau mit einem Stich ins Lila.
Nachdem sie die Staffelei in der Nähe des Fensters aufgestellt hatte, lehnte sie ihr Tablet an einen Stapel Kunstbücher auf dem Tisch, damit Zoe während des Malens sowohl ihr Gesicht als auch ihre Leinwand sehen konnte. Kurz hatte sie in Erwägung gezogen, mit ihren Utensilien nach draußen zu gehen, aber das war ihr dann doch zu viel Aufwand gewesen. Doch nachdem sie nun beschlossen hatte, sich in Zukunft wieder mehr Zeit für die Kunst zu nehmen, würde sie demnächst sicher auch wieder im Freien malen.
Mr Page war öfter zum Zeichnen und Malen mit seinen Schülern nach draußen gegangen. Wren erinnerte sich, dass sie mit einer kleinen Leinwand und einem Papierteller mit ihren Farben auf dem Rasen gesessen und zu den orangefarbenen Blättern eines Ahorns vor einem strahlend blauen Himmel hinaufgeschaut hatte. Aber es war ihr nicht gelungen, die Schönheit der Blätter einzufangen, die im Sonnenlicht wie Flammen wirkten. Die Farbe auf der Leinwand war eben nur orange. Kein Leben darin. Sie hatte keine Strahlkraft. Bis Mr Page ihr vorschlug, sich das Blatt des Ahorns doch einmal näher anzuschauen, ob sie vielleicht noch andere Farben darin entdeckte, mit denen sie das langweilige Orange auffrischen könnte. Sie hatte es dann mit Rot und ein wenig Gelb gemischt, und auch wenn es nicht annähernd so leuchtend gewesen war wie das, was sie in der Realität sah, bekam das Blatt eine Struktur und einen leichten Schimmer. Er hatte zustimmend genickt und gesagt: „Und was willst du jetzt mit dem Himmel machen?“
Während sie nun Farben auf ihre Palette drückte, sah sie Mr Page in seinem düsteren Zimmer vor sich. Wenn es wenigstens zum Garten mit dem Springbrunnen hinausginge. Jemand, der so gesellig war wie Mrs Clement, bevorzugte den Blick auf den Parkplatz, denn so konnte sie das Kommen und Gehen der Besucher beobachten. Miss Daisy hatte immer in dem Sessel gesessen, Emmy Lou an sich gedrückt und auf Menschen gewartet, die nie kamen. Dieser Sessel gehörte jetzt Mr Page.
Kein Wunder, dass die Jalousien geschlossen bleiben sollten.
Sie hatte gehofft, vor dem Ende ihrer Schicht noch einmal mit ihm sprechen zu können, aber seine Tür war geschlossen gewesen. Während des Mittagessens hatte sie sein Zimmer geputzt und gehofft, im Schrank vielleicht noch einige Kartons vorzufinden, die ein Hinweis darauf wären, dass sein Zimmer noch nicht fertig eingerichtet war. Aber die einzigen persönlichen Gegenstände im Zimmer waren ein paar Hemden und Hosen an der Kleiderstange. Und diese grauhaarige Frau, war das seine Frau? Oder seine Schwester? Jedenfalls hatte sie ihn herbegleitet. Wren überlegte, ob sie es wohl gewesen war, die die Gegenstände für den Erinnerungskasten ausgesucht hatte. Wenigstens hatte sie seinen Koffer wieder mitgenommen. Ein Koffer ließ auf eine vorübergehende Situation schließen. Vielleicht brachte sie ja bald noch ein paar Fotos, Erinnerungsstücke oder vielleicht sogar einige seiner Bilder, mit denen sie die kahlen Wände ein wenig freundlicher gestaltete.
Aber andererseits fühlte er sich durch die Erinnerung an zu Hause vielleicht gar nicht getröstet. Die Erinnerungsstücke könnten zu schmerzlich für ihn sein. Trotzdem, Wren konnte sich nicht vorstellen, dass ein Künstler wie er einen so sterilen Raum lange ertragen könnte.
Ihr Tablet vibrierte und zeigte einen eingehenden Anruf an. „Hallo, Zoe, mein Mädchen!“, rief Wren, als ihre kleine Schwester auf dem Bildschirm erschien. Sie trug Shorts und ein viel zu großes gebatiktes T-Shirt. Wren erkannte es als eines, das früher Olivia gehört hatte.
„Warte kurz“, sagte Zoe. „Mami meint, ich soll meinen Kittel überziehen.“
„Gute Idee. Ich ziehe auch einen an, ja?“ Sie griff nach ihrem Baumwollkittel.
„Hallo, Schätzchen, wie geht es dir?“ Ihre Mutter trat mit einem kleinen roten Malkittel ins Bild und hielt ihn Zoe hin, damit sie hineinschlüpfen konnte. „Zoe freut sich sehr auf eure gemeinsame Malstunde.“
„Ich auch“, erwiderte Wren, während sie ihre Schürze am Hals zuband.
„Hast du Taschen?“ Zoe zeigte ihre.
„Das ist so cool! Nein, ich habe keine.“
„Ich kann meine Pinsel hier reinstecken, siehst du?“
„Das ist toll, Zoe. Aber steck sie nicht in die Taschen, wenn Farbe dran ist, okay?“
„Okay.“ Sie strich mit der Hand über ihre Schürze und legte die Pinsel aus der Hand. „Aber wenn ich fertig bin, können wir sie alle auswaschen.“
„Das ist gut.“ Wren betrachtete die Leinwand, die sie bereits vor Monaten vorbereitet hatte. „Ich will Sonnenblumen malen, wie du, okay?“
„Ja. Ich male noch mehr dazu.“ Sie drehte den Kopf und lachte über etwas, das Wren nicht sehen konnte. „Papa, hör auf damit!“
„Was macht Papa denn?“
Er erschien im Bild mit einer royalblauen Baskenmütze und einem mit Mascara aufgemalten Zwirbelschnurrbart. „Ich dachte, ich könnte heute Abend vielleicht mit den Crawford-Mädchen malen.“
„Das ist meine Mütze, Papa!“
„Oh, in Ordnung.“ Er nahm sie ab und setzte sie ihr auf. Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange. „Alles gut, Wren?“
„Ja, danke. Und bei dir?“
„Auch.“
Zoe richtete ihre Baskenmütze und beugte sich vor, um ihr Aussehen zu begutachten. „Okay, ich bin so weit.“ Sie trat zurück an ihre Staffelei.
Während sie malten, berichtete Zoe von der neusten Episode ihrer Lieblings-Comicserie, von ihrer Verabredung mit einem neuen Mädchen aus der Gemeinde und von dem gefleckten Rehkitz, das sie am Morgen im Garten gesehen hatte, als sie auf der Schaukel saß. „Aber dann ist es weggelaufen, und seine Mama war sehr böse, weil es über die Straße gerannt ist, ohne zu schauen.“
Wren wappnete sich für ein böses Ende. „Und? Alles gut gegangen?“
„Ja. Aber seine Mama hat geschnaubt, ungefähr so“, sie öffnete den Mund und atmete schwer ein und aus, „und dann ist sie auch über die Straße gerannt.“ Zoe tauchte den Pinsel in einen Tupfen Gelb und malte vorsichtig weitere Blütenblätter auf ihr Blatt Papier. „Aber es sind keine Autos gekommen.“
„Das ist gut.“
„Ja. Sie hatten Glück.“
Wren betrachtete kritisch ihre Leinwand, die stacheligen grünen Deckblätter, die eine noch nicht geöffnete Sonnenblume umgaben wie eine Rosette auf einem Orden. Sie mischte ihr Kupfergrün mit dem Chromoxidgrün. Immer wieder konnte sie staunen über die Vielfalt des Grüns im August. Es war ein anderes Grün als das im Mai.
Olivia kam in die Küche und winkte in den Bildschirm.
„Hallo, Liv!“, begrüßte Wren sie. „Schön, dich zu sehen!“
„Ja, ebenso.“ Olivia strich Zoe über ihre Baskenmütze. „Ist es in Ordnung, wenn ich Kekse backe, Zoe?“
„Ja.“ Zoe tauchte den Pinsel in ein Glas Wasser und rührte darin herum. „Wir machen heute Abend einen Filmabend, weil Papa heute keine Sitzung hat und es Sommer ist.“
„Habt ihr ein Glück!“ Wren nahm ein schmales Palettenmesser und vermischte die Grüntöne auf der Leinwand als Schicht auf der Rosette.
„Ich darf heute länger aufbleiben, weil ich einen Mittagsschlaf gemacht habe“, berichtete Zoe stolz. Olivia holte hinter ihr eine Teigschüssel aus dem Schrank.
„Ich wünschte, ich könnte bei euch sein und mit euch den Film anschauen und Kekse essen“, meinte Wren.
„Und Popcorn. Joel macht Popcorn.“
„Welchen Film wollt ihr euch anschauen?“
„Inside Out.“
„Ich bin sehr neidisch, Zoe! Ich liebe diesen Film! Das ist einer meiner Lieblingsfilme.“
„Meiner auch. Weil es in Ordnung ist, manchmal traurig zu sein, richtig?“
„Du hast recht. Das ist es.“ Sie wischte ihr Messer ab und drückte noch mehr Ocker auf ihre Palette. „Bist du heute traurig?“
„Nein.“
Wren riss sich zusammen, bevor sie sagen konnte: „Das ist gut.“ Wenn ihre Schwester bereits in jungen Jahren lernte, dass Leid und Freude nebeneinander existieren konnten und dass gesunde und angemessene Trauer eine wesentliche Rolle für die emotionale und geistige Gesundheit spielte …
Zoe starrte auf den Bildschirm und legte die Stirn in Falten. „Alles in Ordnung, Zoe?“
„Deine Sonnenblumen sind schöner als meine.“
„Deine Sonnenblumen sind wunderschön!“
„Nein, das sind sie nicht. Sie sehen hässlich aus.“
Wren wusste nicht so genau, ob sie ihre Leinwand verstecken oder zulassen sollte, dass Zoe sie weiter anschaute. Sie ließ den Bildschirm, wo er war. Für den Augenblick. „Als ich so alt war wie du, konnte ich überhaupt noch nicht malen. Du bist eine tolle Künstlerin.“ Sie deutete auf ihren Bildschirm. „Sieh nur, wie du deine Blumen gemalt hast. Alle schauen in unterschiedliche Richtungen, genau wie die von Vincent. Siehst du? Jede ist einzigartig.“
Zoe wirkte nicht überzeugt.
„Und wie du die Blätter gemalt hast – einige gerade und einige hängen herunter. Siehst du? Hey, Olivia!“ Aber Olivia stand mit dem Rücken zu ihnen und gab die Zutaten in die Teigschüssel. Außerdem trug sie Kopfhörer und hörte Wren nicht. „Zoe, bitte doch Olivia oder Mama und Papa, sich dein Bild anzusehen, ja?“
Zoe hatte jetzt die Hände in die Hüften gestemmt. Bevor Wren noch etwas zu ihr sagen konnte, schnappte sie sich das Bild von ihrer Staffelei. „Zoe, vorsichtig damit!“, rief Wren, doch es nützte nichts. Sie riss es in der Mitte durch.
Wren hätte sich ihr Lächeln verkneifen sollen. Aber Zoe in ihrem Kittel und ihrer Baskenmütze und in ihrer trotzigen Pose war einfach zu komisch.
„Das ist nicht lustig!“, rief sie.
Wren legte eine Hand auf ihren Mund. „Ich weiß. Es tut mir leid. Das ist es nicht. Mama oder Papa können es wieder zusammenkleben, keine Sorge.“
Doch anstatt es zur Seite zu legen, damit es repariert werden konnte, zerriss Zoe es in noch kleinere Fetzen.
„Oh!“, sagte Joel, als er in die Küche kam. „Schaut euch die Künstlerin an. Sie hat einen Wutanfall. Cool!“
Zoe rammte ihren Kopf gegen Joels Taille und versuchte ihn gegen die Brust zu boxen. Er lachte nur, und das machte sie noch wütender.
Olivia, die jetzt mitbekommen hatte, was hinter ihr geschah, riss sich die Kopfhörer aus den Ohren und rief: „Hey! Aufhören! Alle beide.“
Aber Joel lachte noch heftiger, und Zoe boxte ihn noch fester, bis Mama und Papa in den Raum kamen. Sie brauchten kein Wort zu sagen, denn Joel rief sofort: „Schon gut, schon gut! Es tut mir leid, dass ich gelacht habe.“ Aber mittlerweile konnte er nicht mehr damit aufhören.
Zoe brach in Tränen aus. Papa nahm sie in die Arme. „Hey, mein Schatz. Komm her. Alles gut.“
Mama sah in die Kamera und sagte: „Es tut mir leid, Wren, aber wir machen jetzt besser Schluss.“ Kurz bevor sie den Anruf unterbrach, konnte Wren noch sehen, wie sich Zoe in die Arme ihres Vaters kuschelte und ihr Schluchzen langsam nachließ.
Die Zärtlichkeit dieses Bildes hing ihr noch lange nach, und während sie ihre Leinwand betrachtete, dachte sie an Casey und erinnerte sich mit Freude und Trauer an den Trost und das Geschenk einer solchen Umarmung.
B
Zwei Stunden später war Wren immer noch in ihrem Atelier und arbeitete weiter an ihren Sonnenblumen. Mittlerweile war es spät geworden, und die Blumen im Garten lagen im Dunkeln, doch ihre gemalte Version explodierte wie ein Sternenrausch unter den fluoreszierenden Lichtern. Nicht schlecht für eine Hobbykünstlerin.
Sie lehnte sich zurück und streckte sich. Es war Zeit, für heute Schluss zu machen. Sie räumte die Farbtuben weg und suchte ihre Pinsel und Messer zusammen, um sie in der kleinen Küche auszuwaschen. Doch als sie gerade ihr Atelier verlassen wollte, hörte sie eine Männerstimme in der Lobby. Von Panik erfüllt, schaltete sie die Lichter aus und drückte so leise wie möglich ihre Tür zu, bevor sie von innen abschloss. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.
Eigentlich sollte sich niemand im Gebäude aufhalten. Der einzige Mann, der hier arbeitete, war der Hausmeister. Aber er hatte hier eine Teilzeitstelle. Und das war auch nicht Mikes Stimme.
Auch die zweite Stimme nicht.
Sie sank auf die Knie. Hatte sie etwa die Eingangstür offen gelassen, oder war diese vielleicht aufgebrochen worden? Ihr Fahrrad stand in der Lobby. Hoffentlich vermuteten die Männer nicht, dass sich noch jemand im Gebäude aufhielt.
Sie drückte ein Ohr an die Tür. Stille. Gar nicht gut. Im Dunkeln konnte sie überhaupt nichts mehr erkennen. Auf keinen Fall würde sie sich in dieser Situation aus ihrem Atelier wagen. Und das Fenster bot den Blick auf den Garten, nicht auf den Parkplatz.
Sie kroch über den Fußboden, schnappte sich ihr Handy und rief Kit an, die sich beim dritten Klingeln mit einem verschlafenen „Hallo?“ meldete.
Unter ihren Arbeitstisch gekauert, flüsterte sie: „Kit, ich bin es. Ich bin noch in meinem Atelier, und da sind Männerstimmen in der Lobby. Ich weiß nicht, wer das ist und wie sie hereingekommen sind.“
„Hast du gerade gesagt, da sind Männer im Gebäude?!“
„Ja. Mindestens zwei.“ Sie hörte gedämpfte Stimmen. Vielleicht wollten sie ins Büro einbrechen. Sobald sie Glas splittern hörte, würde sie versuchen, durch den Flur in die Kapelle und von dort durch die hintere Tür nach draußen zu flüchten.
„Wren? Bist du noch dran?“
„Ja.“
„Ich möchte, dass du die Polizei rufst.“
Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Sie hatte gehofft, Kit würde ihr sagen, dass sie Handwerker bestellt hätte, die am Donnerstagabend spät die Rohrleitungen reparierten oder so etwas. „Du erwartest niemanden hier?“
„Nein. Ruf sofort die Polizei. Bleib im Atelier und schließ ab.“
Mit zitternden Fingern wählte Wren den Notruf. „Bitte“, sagte sie, nachdem sie erklärt hatte, was los war, „könnten Sie am Telefon bleiben?“
Die Telefonistin versprach es. „Hilfe ist unterwegs“, beruhigte sie mit fester und verbindlicher Stimme.
Unter ihrem Arbeitstisch zusammengekauert, ermahnte sich Wren, das Atmen nicht zu vergessen. Sie musste aufmerksam bleiben. Jesus, hilf mir. Wie lange kauerte sie bereits hier und drückte das Handy an ihr Ohr? Minuten? Stunden?
„Sind Sie noch bei mir, Wren?“
„Ja.“
„Hören Sie noch Stimmen im Gebäude?“
„Ja, ich glaube, sie kommen näher.“
„Okay, bleiben Sie, wo Sie sind.“
Sie wiegte sich hin und her. Die Stimmen wurden lauter. „Die Kapelle ist dort hinten“, sagte einer der Männer, und der andere antwortete: „Ah ja, prima.“
Wren hielt inne.
„Oh, da hat aber jemand eine Vorliebe für Kunst, nicht?“
„Ja, Katherine und ihre Nichte haben die Drucke als Anregung zum Gebet aufgehängt.“
Wren kroch unter ihrem Arbeitstisch hervor und schob sich näher an die Tür heran.
„Ich muss gestehen, für Kunst habe ich nicht so viel übrig“, gestand der Mann, der jünger zu sein schien, woraufhin der andere erwiderte: „Ich auch nicht. Aber Katherine hat in ein paar Kursen Kunstwerke als Anregung zum Nachdenken genommen, und das schien den Leuten zu gefallen.“
„Hm“, flüsterte Wren der Telefonistin zu, „ich glaube, das hat alles seine Ordnung.“
„Die Männer sind also weg?“
„Nein, sie sind noch da, aber ich kann jetzt verstehen, was sie sagen, und sie scheinen meine Tante zu kennen.“
„Sie denken, dass sie das Ziel ist?“
„Nein, ich meine, einer von ihnen könnte ein Freund von ihr sein oder so etwas.“ Aber das erklärte immer noch nicht, warum er sich zu dieser späten Stunde im Gebäude aufhielt.
„Bill!“, ertönte Kits Stimme. „Was um alles in der Welt ist hier los?“
Das Telefon fest umklammert, sprang Wren auf und riss die Tür auf. Der Mann, der in der Nähe der Tür stand, wich erschrocken zurück. Der ältere Mann taumelte ein paar Schritte vorwärts und drückte sich die Hände an die Brust. „Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen“, rief er.
„Alles gut, Wren“, sagte Kit, die in ihrem Bademantel und in Pantoffeln auf sie zueilte. „Alles in Ordnung.“ Sie legte die Arme um Wren und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Alles in Ordnung“, erklärte Wren der Telefonistin. Sie begann zu zittern. „Uns geht es gut.“
In diesem Augenblick erschien ein Polizeibeamter am Ende des Flurs. Der ältere Mann wandte sich an den jüngeren und verzog das Gesicht. „Willkommen in Kingsbury, Logan. Ich schätze, es gibt hier einiges zu erklären.“