17

Dass ihre Mutter nicht ans Telefon ging und nicht sofort auf ihre SMS reagierte, bedeutete ja nicht gleich, dass etwas passiert war, redete Sarah sich ein, während sie auf dem Steg saß und die Beine ins Wasser baumeln ließ. Sie winkte Zach zu, der auf einem von Eds und Lindas Jetskis vorbeikam, und las noch ein paar Zeilen in ihrem Roman. Vermutlich machte sie einen langen Mittagsschlaf, wie so oft nach einem Seminar. Vielleicht hatte sie ihr Telefon ausgeschaltet.

Hinter ihr klingelten zwei Fahrradschellen im Gleichklang. Als sie sich umdrehte, sah sie Linda und Ed auf einem Tandem auf sich zukommen.

„Warum bist du nicht da draußen und jagst ihm hinterher?“, rief Ed ihr zu, als sie abstiegen.

„Ich bin zu alt für so etwas.“

„Unsinn. Alter ist eine Sache der Einstellung.“

Linda schnaubte. „Sprich für dich.“ Sie massierte ihr Knie. „Als wir das Tandem bekamen, dachte ich, das würde ihn vielleicht ein wenig ausbremsen. Stattdessen ruft er ständig, ich solle schneller fahren.“

„Einmal Bestimmer, immer Bestimmer, nicht?“ Sarah erhob sich und schüttelte ihr Badetuch aus.

Zach raste vorbei und beschleunigte noch einmal, bevor er demonstrativ eine Acht fuhr.

„Da, siehst du?“, bemerkte Ed. „Er verhöhnt mich.“

Zach winkte, lehnte sich zurück und zog die Spitze des Jetskis hoch zu einem Wheelie.

„Nicht schlecht, Doc!“ Eds Blick wanderte zu Linda. „Wie lange dauert es noch bis zum Abendessen?“

„Na los, geh schon. Das kann warten.“

Wie ein deutlich jüngerer Mann spurtete Ed zum Haus.

„Vielleicht würde er nicht so beglückt spurten, wenn er wüsste, dass es nur kalte Reste gibt“, meinte Linda. „Wir haben nicht viel anzubieten, aber ihr seid uns herzlich willkommen.“

„Sehr gerne, Linda. Vielen Dank.“

„Zum Nachtisch gibt es Pfirsichkuchen, und ich mache noch einen Kartoffelsalat.“

„Kann ich dir dabei helfen?“

„Ich hätte nichts dagegen.“ Sie schob ihr Fahrrad über den Rasen. „Übrigens nach dem Rezept deiner Mutter.“

„Wirklich?“ Mamas Kartoffelsalat hatte Sarah schon seit Jahren nicht mehr gegessen.

„Sie hat ihn einmal für ein Picknick gemacht, und er hat Ed so gut geschmeckt. Seitdem nehme ich immer nur ihr Rezept.“

Als sie an den Sonnenblumen in Lindas Garten vorbeikamen, bestaunte Sarah die spiralförmige Anordnung der Kerne, die exakt der Fibonacci-Folge entsprach. Papa hatte ihr und Micha beigebracht, dass dieses mathematische Muster überall in der Natur zu finden war, vom Seestern und den Tannenzapfen bis hin zu den Wellen des Meeres und den Galaxien.

Sie hob die Hand und strich über die Blume. Manchmal fragten die Leute sie, warum sie Mathematik so liebe. Deswegen. Genau deswegen. Die elegante Schönheit von Struktur und Ordnung, die einer chaotischen Welt zugrunde lagen. Das war eine der Realitäten, die sie ihren Schülern zu vermitteln versuchte. Das Wissen darum, dass es Vorhersehbares und Verlässliches gab, schien ihr ein wichtiges Geschenk für ihre Schüler zu sein.

„Rettungsweste!“, rief Linda, als Ed im Neoprenanzug aus dem Haus kam.

In der Nähe des Ufers bremste Zach den Jetski ab. „Kommst du, alter Mann?“

„Jemand muss dir mal beibringen, wie man das Teil richtig hochzieht!“

„Ed!“, rief Linda. „Sei vorsichtig!“

Er winkte ab. „Ich weiß, Frau, ich weiß.“

„Männer“, seufzte sie, als sie das Garagentor öffnete.

„Wann habt ihr das Tandem angeschafft?“, fragte Sarah.

„Anfang des Sommers. Du und Zach könnt es euch gern einmal ausleihen.“ Sie schob es an seinen Platz. Ed legte großen Wert auf Ordnung in seiner Garage. Irgendwann würde sie ihn bitten, Zach diesbezüglich ins Gewissen zu reden. Das war viel wichtiger, als Kunstfiguren auf dem Jetski zu fahren.

„Ich habe vor Kurzem erfahren, dass Mama sich schon immer ein Tandem gewünscht hat.“

„Wirklich? Das wundert mich.“

„Ja, mich auch.“

„Sie schien mir nie der Fahrradtyp zu sein“, meinte Linda. „Zumindest soweit ich sie in Erinnerung habe. Carol dagegen? Keine Frage. Sie war immer für ein Abenteuer zu haben. Sie und dein Vater sind ständig um den See geradelt.“ Sie seufzte. „Ich vermisse sie. Was hörst du aus Florida? Haben sie und die Mädchen eine gute Zeit?“

„Ja, eine sehr gute.“

„Ich wette, sie verwöhnt sie in jeder Hinsicht. Das Vorrecht einer Großmutter, du weißt schon.“

Ja. Genau das sagte Carol auch immer.

„Grüß sie von mir, wenn du mit ihr sprichst. Wir zwei müssen unbedingt noch mal telefonieren.“

Sarah hatte gar nicht gewusst, dass die beiden immer noch Kontakt hatten. Denn zu Katherine hatte Linda nie eine enge Beziehung gehabt. Freundlicher Umgang, ja, aber keine Freundschaft. Ihre Mutter war aber auch immer viel zurückhaltender gewesen als Carol.

Sie kratzte an einem Mückenstich an ihrem Handgelenk. „Tandems sind also nicht gefährlich?“

Linda grinste. „Wenn du dem Menschen vertraust, der vorn sitzt, ganz und gar nicht. Warum? Überlegst du, eins zu kaufen?“

„Vielleicht.“

„Probier es doch aus, bevor ihr wieder nach Hause fahrt. Um zu schauen, ob es dir gefällt.“

„Gern, danke.“ Auf dem Weg zum Haus hängte Sarah ihr Badetuch über die Lehne einer Gartenliege und legte ihr Buch ab. „Ich wollte dich immer mal was fragen, Linda, aber ich habe es bisher immer vergessen. Hast du eigentlich noch alte Fotos von uns hier am See?“

„Wie alt?“

„Aus der Zeit, als ich noch klein war? Vielleicht von uns und Micha?“

Linda schob die Verandatür auf. „Ich habe jede Menge alter Fotoalben, die du gern durchsehen kannst. Und vermutlich noch mehr Fotos in irgendwelchen Schachteln. Willst du jetzt gleich nachschauen?“

„Nach dem Abendessen wäre prima.“

Linda wusch sich die Hände im Spülbecken und wandte sich dem Herd zu, auf dem bereits die gekochten Kartoffeln standen. „Da wir gerade von deinem Bruder sprechen, ich habe in letzter Zeit viel an ihn denken müssen.“

„Ja“, erwiderte Sarah. „Ich auch.“ Der Grund dafür war ihr bekannt. Nicht nur hatte ihre Mutter in den letzten Monaten häufiger von ihm gesprochen, auch ihr Aufenthalt im Haus am See hatte viele Erinnerungen an ihn wachgerufen, die alle mit einem Hauch von Wehmut verbunden waren. Vielleicht würde es ihr helfen, wenn sie ihn auf einem Foto lächeln sah.

Während sie sich die Hände wusch, bestaunte Sarah den Kuchen, der auf der Arbeitsplatte stand. Der Rand hatte gerade den richtigen Bräunungsgrad, und die Mitte war mit ausgeschnittenen Teigblättern dekoriert. Der goldene Pfirsichsaft sickerte durch die eingestochene Teigplatte. „Der sieht so lecker aus und riecht auch so.“

„Danke. Micha hat mir immer gern beim Kuchenbacken geholfen.“

Als Linda den Namen aussprach, stieg eine unerwartete Emotion in Sarah hoch. Sie konnte sich nicht erinnern, wann jemand anderes als ihre Mutter das letzte Mal seinen Namen erwähnt hatte. „Ich erinnere mich, dass er dir immer gern beim Himbeer- und Erdbeerpflücken geholfen hat.“

„Ja, der Junge hat genauso viele Beeren in den Mund gesteckt, wie er gepflückt hat. Wir haben hier immer ein ziemliches Chaos angerichtet.“ Aus dem Kühlschank holte sie eine Stange Sellerie und eine Zwiebel. „Ich glaube, deine Mutter hatte nie viel Geduld hinsichtlich seiner Unordnung.“

Sarah richtete den Blick wieder auf den Kuchen. War das so gewesen? Sie erinnerte sich nicht daran.

„Ich habe ihm immer gesagt: ‚In meiner Küche kannst du ruhig Chaos anrichten. Aber alles, was du verschüttest, wird wieder aufgewischt.‘ Wenn wir fertig waren, habe ich ihm einen Lappen in die Hand gedrückt, und er hat brav sauber gemacht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er sich je beklagt hätte. Ich glaube, er hat sich einfach nur über die Gesellschaft gefreut.“

Langsam trocknete Sarah sich die Hände ab. Dieser kurze Erinnerungsfetzen von Linda war eine Anklage – gegen die Mutter, aber ebenso auch gegen die Schwester.

Jeder, der ihren Bruder gekannt hatte, würde sagen, dass er ein Einzelgänger gewesen war. Aber was, wenn er das nie hatte sein wollen? Schnell kramte sie in ihrem Gedächtnis nach Erinnerungen, ob sie ihm jemals den Wunsch nach Gesellschaft oder Aufmerksamkeit abgeschlagen hatte. Aber ihr fiel nichts ein.

Sie nahm ein Messer und ein Holzbrett von der Theke und begann, die Zwiebel zu schneiden. „Woran erinnerst du dich sonst noch?“

Linda seufzte. „Dass meine Jungen ihn übelst aufgezogen haben. Ich habe versucht, das zu verhindern, aber wenn ich nicht in der Nähe war, haben sie es doch getan. Aber Micha hat sie nie verpetzt. Zumindest nicht bei mir.“

Auch Sarah hatte die verbalen Attacken mitbekommen, und auch sie hatte nicht gepetzt. „Stock und Stein“, hatte ihr Vater immer das alte Sprichwort zitiert und erwartet, dass seine beiden Kinder Spötteleien aushielten.

Linda schnitt die Blätter und den unteren Teil des Selleries ab, bevor sie ihn wusch. „Ich erinnere mich, dass Micha an einem Abend mit einem Stock hinter ihnen her ist, weil sie Glühwürmchen in Gläsern fangen wollten. Er war so zornig – er hatte Sorge, dass die Glühwürmchen keine Luft bekämen. Ed hat ihm den Stock weggenommen, bevor er jemanden verletzen konnte, aber meine Jungen haben sich gerächt. Sie nannten ihn Würmchen und anderes, was ich nicht wiederholen will. Ed hat ihnen deswegen ordentlich den Marsch geblasen.“ Sie begann, den Sellerie zu schneiden. „Im Rückblick war es vermutlich nicht so gut, dass ich Micha mit mir habe backen lassen. Aber so hatte er wenigstens etwas zu tun. Und es schien ihm immer viel Spaß zu machen.“

„Ich bin froh, dass du dich so um ihn gekümmert hast, Linda. Danke dafür.“

Linda zuckte die Schultern. „Nachdem ich die schlimme Nachricht erhalten hatte, habe ich mir gewünscht, ich hätte mehr für ihn tun können.“ Ihr Blick ruhte auf dem Brett mit dem Sellerie. „Aber das hilft jetzt auch nicht mehr weiter.“

Sarah war immer noch mit der Zwiebel beschäftigt. Eine Außenstehende hatte gut reden.

„Dein Vater hat mir immer den Eindruck vermittelt, dass sich deine Mutter nie von diesem Schicksalsschlag erholt hat. Nicht, dass er und ich viel darüber gesprochen hätten oder dass ich Katherine deswegen verurteile, ich weiß nicht, wie ich hätte weiterleben sollen, wenn einer meiner Jungs eine Überdosis genommen hätte. Aber Ed und ich waren froh, dass dein Vater es überwunden hat und mit Carol glücklich geworden ist. Du hast das bestimmt auch gesehen. Nach seiner Heirat mit ihr war er ein anderer Mensch.“

Sarah biss die Zähne zusammen. Ja, aber …

„Deine Mutter war immer viel ernster als dein Vater. Vielleicht ist sie deswegen eine so gute Seelsorgerin geworden. Das passte wohl zu ihrer Persönlichkeit.“

Sarah wollte noch etwas sagen über die Gaben ihrer Mutter, über ihren Umgang mit Schmerz und wie sie es geschafft hatte, ihn zu überwinden und anderen zu helfen und ihnen Hoffnung zu geben, aber sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie müsste sie verteidigen. Und sie vermutete, dass Linda kein Verständnis dafür haben würde. Wenn sich jemand erst mal eine Meinung gebildet hatte …

„Neulich habe ich überlegt, wann ich deine Mutter das letzte Mal gesehen habe. Das muss bei Morgans Taufe gewesen sein.“

„Ja, vermutlich.“ Als ihr Vater ihr mitteilte, er und Carol würden nicht zur Taufe kommen, war sie erleichtert gewesen. Eine Gelegenheit weniger für eine anstrengende Begegnung ihrer Eltern. Durch genaue Planungen war es ihr und Zach im Laufe der Jahre gelungen, den meisten dieser Landminen auszuweichen.

„Denkst du, dass sie nach ihrer Pensionierung noch mal mit ins Haus am See kommt? Oder sind zu viele schwierige Erinnerungen damit verbunden?“

Sarah gab ihrer Stimme Festigkeit, damit sie überzeugend klang. „Oh nein, ich glaube nicht, dass sie deshalb nicht mitkommt. Ihre Arbeit nimmt sie einfach so in Beschlag, dass sie keine Zeit hat.“

„Es wäre schön, sie mal wieder zu sehen.“

„Danke. Das werde ich ihr ausrichten.“ Aber sie vermutete, dass das Haus am See ihre Mutter viel zu sehr an Carol erinnern würde.

„Wie auch immer“, fuhr Linda fort, während sie den Sellerie schnitt, „wir werden nach diesen Fotos suchen und sehen, was wir finden können.“

B

„Sieh dir das hier an, Zach“, sagte Sarah später am Abend und nahm ein Foto von dem Stapel auf ihrem Küchentisch. Mama im Badeanzug kniete neben Micha im Sand. Beide schaufelten mit roten Plastikschaufeln Sand in einen Eimer. Sarah hockte neben der Sandburg, die sie gerade bauten, und half ihrem Vater, ein weiteres Türmchen draufzusetzen. „Ich erinnere mich an diese Burg. Sie war ungefähr so groß wie Micha, bevor sie einstürzte. Die größte, die wir je gebaut haben.“

„Beeindruckend“, erwiderte er.

„Papa hat sie immer mit Begeisterung entworfen. Mama hat nie gern im Sand gebuddelt, aber sie hat mitgemacht, weil das eine Art Familienprojekt war.“

Er schaute einige Fotos durch. „Linda hat ein paar wirklich gute Schnappschüsse gemacht.“

„Ja, ich bin froh, dass ich sie danach gefragt habe. Ich glaube, die hier habe ich noch nie gesehen. Oder wenn, dann erinnere ich mich nicht daran. Ich frage mich, ob Mama sie wohl kennt.“ Sie schnappte sich eines der wenigen Fotos, auf denen Micha breit grinste. Er stand in Lindas Küche, sein Gesicht und die Hände waren weiß vom Mehl und er präsentierte stolz einen Kuchen. „Ich weiß nicht, ob diese Fotos Mama glücklich machen würden oder eher traurig.“

„Gib ihr die Gelegenheit, das selbst zu entscheiden, Schatz.“

„Gute Idee.“ Nur auf wenigen Fotos waren sie alle zusammen abgelichtet. Auf keinem tauschten ihre Eltern liebevolle Gesten aus. Fotos konnten nicht lügen. Auf dem einzigen Foto, auf dem sie mit ihrem Bruder zu sehen war, standen sie neben Eds und Lindas altem Pontonboot, beide mit hängenden Schultern.

Sarahs Augen brannten. Wie sehr sie sich doch wünschte, sie könnte die Arme um diesen einsamen Jungen legen!

Ihre Gedanken wanderten zu ihren Schülern. Es gab einige, die einsam waren und mit traurigen Augen in die Welt blickten. Heutzutage würde Micha vermutlich zu den Problemkindern zählen, die die Schulleitung ganz besonders im Auge behalten würde. Aber Micha war keine Gefahr für andere gewesen. Nur für sich selbst. Sie fotografierte dieses Foto ab. Sie wollte es auf dem Handy haben. Es sollte sie daran erinnern, den Kindern, denen ihre Zuneigung nicht so leicht entgegenflog, ein wenig mehr Geduld und Achtsamkeit entgegenzubringen. Weil Liebe so aussah.

Ihr Telefon vibrierte und zeigte eine neue Nachricht an. Endlich! Eine Antwort von ihrer Mutter. Bin eingeschlafen, gleich nachdem ich nach Hause gekommen bin. Tut mir leid! Alles gut. Ich halte jetzt noch meine Abendandacht und gehe dann wieder ins Bett.

Ist gut, tippte Sarah. Dann reden wir später.

Mama antwortete mit einem hochgereckten Daumen.

„Alles in Ordnung mit ihr“, berichtete Sarah. „Sie ist nur müde.“

„Das habe ich dir doch gesagt.“ Zach gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hör auf, dir so viele Sorgen um sie zu machen. Sie wird schon klarkommen. Der Ruhestand wird ihr guttun. Warte nur ab.“ Er schaute zum Fenster hinaus. „Sieht so aus, als würde es eine klare Nacht. Ich denke, ich hole das Teleskop deines Vaters vom Dachboden und stelle es auf.“

„Gute Idee.“

„Wäre es okay, wenn ich Ed und Linda einlade, dazuzukommen? Wir könnten ein Lagerfeuer machen und ein bisschen in die Sterne schauen“, fragte er.

„Wäre es in Ordnung, wenn wir beide allein bleiben?“

Er massierte ihre Schultern. „Du weißt doch, dass ich dazu nie Nein sage.“

B

Ich bestaune den Himmel, das Werk deiner Hände, dachte Sarah, während sie durch das Teleskop die Ringe des Saturns bewunderte. Dieser weiße Unterteller, der am schwarzen Himmel hing wie ein Scherenschnitt auf dunklem Papier, weckte Erinnerungen an wolkenlose Nächte, die sie mit Papa auf dem Anlegesteg verbracht hatte, fest in eine Decke eingehüllt und mit einer Tasse dampfendem Kakao in der Hand. Micha war auch mit dabei gewesen und hatte darauf gewartet, dass er durch das Okular schauen durfte. „Hast du es schon gefunden?“, fragte er mit seiner hohen Stimme, und ihr Vater antwortete: „Immer mit der Ruhe.“ Dann erzählte Papa ihnen wieder, dass das Licht von den Sternen reise und dass ein Teil des Lichts, das sie sahen, diese Sterne bereits vor Tausenden von Jahren verlassen hätte, und Sarah versuchte zu verstehen, wie es möglich war, dass sie Licht anschauen konnte, das seine Reise angetreten hatte, als Jesus geboren wurde oder als Mose die Israeliten durch das Rote Meer führte.

„Das ist so eine Sache mit der Zeit“, würde Zach sagen.

Den Himmel auf diese Weise zu betrachten war ein wichtiger Schritt auf dem Weg gewesen, auf dem Sarah zum Staunen und schließlich auch zum Glauben gefunden hatte. Wie klein ist da der Mensch, wie gering und unbedeutend! Und doch gibst du dich mit ihm ab und kümmerst dich um ihn!

Als der Saturn aus ihrem Blickfeld verschwand, trat sie von dem Okular zurück.

„Unglaublich, nicht?“, fragte Zach. „Es wird mir nie langweilig, in den Sternenhimmel zu schauen.“ Er blickte zum Himmel hoch. „Ich suche jetzt den Jupiter.“

Der Jupiter war Michas Lieblingsplanet gewesen. Er konnte alle langweilen mit seinen Ausführungen über die Streifen und Monde, die Magnetfelder und Masse, und aus irgendeinem Grund bedauerte sie es jetzt, dass sie immer mit ihm gestritten hatte, welcher denn besser wäre, Saturn oder Jupiter. Irgendwann hatte Papa die Hände gehoben und gesagt: „Jetzt ist Schluss! Ich packe das Teleskop weg.“ Und Micha war dann in die Dunkelheit gestürmt und zum Anlegesteg gegangen, wo er Steine aus seiner Sammlung ins Wasser warf.

Sarah schloss die Augen. Sie hörte das zornige Platschen der Steine, hörte, wie ihre Mutter nach ihm rief und ihn bat, zurückzukommen und die Sache mit seiner Schwester zu klären. Und wenn auf das Platschen eine beunruhigende Stille folgte, wickelte ihre Mutter ihren Bademantel fest um sich und ging ihm nach, um ihn zu überreden, zurückzukommen, während Papa sagte: „Ach, lass ihn doch.“ Aber das machte Mama nicht.

In jenen Nächten lag Sarah, so still sie konnte, oben in ihrem Etagenbett und hörte zu, wie ihre Eltern sich im Schlafzimmer darüber stritten, wie sie sich Micha gegenüber verhalten sollten. Dann beugte sie sich über die Bettkante und zischte Micha zu: „Siehst du? Das ist deine Schuld.“ Und er zischte zurück: „Nein. Es ist deine Schuld.“

Wäre sie doch nur die Leiter hinuntergeklettert und hätte sich neben ihn gesetzt, wenn sie ihn in der Dunkelheit schluchzen hörte.

„Verzeih mir“, flüsterte sie. Vielleicht konnte sie Micha ja hören, dort, wo er jetzt war.