18

Ich gehe jetzt hoch und ins Bett“, sagte Wren. „Und du brauchst wirklich nichts? Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“

Kit richtete die Decke auf ihrem Schoß. Nachdem sie fast den ganzen Nachmittag und Abend verschlafen hatte, würde sie vermutlich noch eine Weile wach sein, müde zwar, aber es war eine Müdigkeit, die nicht mit Schlaf gelindert werden konnte. „Ich habe alles, danke. Bin nur erschöpft. Du weißt ja, wie das ist.“

Wren hockte sich vor Kits Lehnstuhl und nahm ihre Hand. „Ich habe mich zwar bereits entschuldigt, aber ...“

„Wir beide haben uns entschuldigt, meine Liebe. Und wir beide haben bereits vergeben. Keine Schuldgefühle. Keine Reue. Keine Verurteilung.“

Was allerdings Logan betraf …

Kits Blick wanderte zum Couchtisch, auf dem immer noch der Zettel mit seiner Nummer lag. Sie war nicht nur zu erschöpft gewesen, um ein Gespräch mit ihm zu führen, sondern sie musste auch erst einmal mit ihrem eigenen Unmut fertigwerden, zumal Hannah bestätigt hatte, dass Wren nicht übertrieben hatte. Die Auseinandersetzung damit müsste noch warten. Bei ihrer abendlichen Gebetszeit war sie unendlich erschöpft und zu nichts anderem in der Lage gewesen, als Wren zuzuhören, die einen Psalm vorlas.

„Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst, Kit, ja? Ich meine, falls irgendetwas ist, ich bin da. Weck mich bitte auf, wenn du mich brauchst.“

„Das mache ich. Danke.“

Wren stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich wünschte, wir wären nicht auch Gefährten in dieser Art von Leid. Und es tut mir sehr leid, dass ich nicht da war, um dir beizustehen. Du warst schon so oft für mich da.“

„Ich hatte alles, was ich brauchte, Wren. Du brauchst auch deswegen keine Schuldgefühle zu haben.“

„Ist gut.“

In dem Durcheinander wusste sie nicht einmal mehr, wer neben ihr gekniet hatte, nachdem sie zu Boden gesunken war. Jemand, der wusste, was zu tun war – vermutlich jemand, der selbst schon eine Panikattacke erlebt hatte. Auf jeden Fall hatte ihr diese Person genügend Platz verschafft, bis sie sich so weit erholt hatte, dass sie mit Hannahs und Nathans Hilfe nach Hause fahren konnte.

Noch lange nachdem Wren zu Bett gegangen war, saß Kit im Wohnzimmer und starrte in die Dunkelheit.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine so heftige Panikattacke gehabt hatte. Das musste Jahre zurückliegen. Vielleicht sogar Jahrzehnte. Und nie hatte sie das vor einer Gruppe erlebt. Nicht so. Bei den weniger heftigen Attacken war es ihr in der Regel gelungen, sich hindurchzubeten und sie zu überspielen. Aber diese – diese hatte sie mitten in ihrem Atemgebet getroffen, als sie in ihrer Schwäche Gott um seine Kraft anflehte. Was für eine Ironie.

Worte, die sie während des Kurses gesagt hatte, fielen ihr wieder ein. Bedrängt. Niedergedrückt. Überwältigt. Atemlos. Eingeschlossen. Gequetscht. Begrenzt und klaustrophobisch.

Die Worte hätten die Beschreibung einer Panikattacke sein können. Man fühlte sich ausgeliefert und verletzlich, kraftlos, und es gab nichts, was helfen konnte.

Der Ort der Bedrängnis war ein Ort des Schreckens: Wollte sie das leugnen, würde sie die Wahrheit leugnen.

Sie dachte an Wrens Gethsemane-Bäume. Die Wurzeln und Äste hatten Ähnlichkeit mit Dornen. Wie ein Dorn im Fleisch, der quälen und Schmerzen bereiten soll. Oder wie die Dornen in der Krone für den König der Könige.

Ja, der Ort der Bedrängnis war ein Ort des Schreckens. Aber er war auch ein Ort der Solidarität mit Jesus, der Ort, an dem Gott stärkte und an dem man sich bewusst machte, dass nicht der Tod das letzte Wort hatte, sondern die Auferstehung. Der Ort der Bedrängnis war der Ort, an dem man Gottes Macht, die sich in der Schwachheit zeigte, erfahren und wieder neu entdecken konnte, der Ort, wo Verzweiflung und Hilflosigkeit verwandelt werden konnten in ein trotziges und fröhliches Dennoch.

Ich kann nicht. Du kannst, Herr.

Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken wandern. Ezra hatte sie damals noch in der Klinik mit diesem Atemgebet vertraut gemacht. Der Seelsorger hatte sie nach ihrer schlimmen Panikattacke besucht, die sie zutiefst geschwächt und in noch tieferen Schmerz gestürzt hatte. Wenn ihr Leben so weitergehen sollte …

Dann sei es ein Leben, in dem sich die Herrlichkeit Gottes offenbaren könne, hatte er gesagt. Denn wenn der Herr in seiner Weisheit beschloss, den Dorn nicht wegzunehmen, dann werde er ihn zu einem heiligen Werkzeug machen, mit dessen Hilfe er sein Ziel erreichen könne.

Das hatte sie nicht überzeugt. Anfangs nicht. Zumal ihr Geist und ihr Körper entschlossen zu sein schienen, ihr den Gehorsam zu verweigern. Aber nach einer Weile kämpfte sie nicht mehr länger gegen die Attacken an, denn das nützte sowieso nichts. Stattdessen bemühte sie sich, sie zumindest in der Rückschau als Erinnerung daran zu sehen, dass sie Gott ganz dringend brauchte.

Langsam schüttelte sie den Kopf. Was für eine Ironie, wirklich. Im zweiten Teil des Kurses sollte es um den Umgang mit den Dornen des Lebens gehen. Darum, was Paulus meint, wenn er sich „seiner Schwächen rühmt“3, darum, sich auf Gottes Stärke zu verlassen. Wenn Gott den Dorn, durch den der Feind Menschen entmutigen und quälen wollte, nicht wegnahm, dann würde er durch ihn zur Demut einladen und den Menschen helfen, Christus ähnlicher zu werden.

Vielleicht hatte sie ja noch genügend Energie, um über ihre Dornensammlung vom Vormittag nachzudenken.

Sie zündete noch einmal die Christuskerze an. Während die Flamme flackernd zum Leben erwachte, standen ihr die einzelnen Dornen vor Augen. Da waren zuerst einmal ihr Zusammenbruch in aller Öffentlichkeit und die Scham, die sie deswegen empfand. Dieser Kurs würde von nun an untrennbar damit verbunden sein.

Langsam strich sie über die Fransen ihrer Decke.

Seltsamerweise war es nicht schwer, diesen Dorn anzusprechen. Hatte sie nicht gerade erst Wren gegenüber ihren langen Kampf gegen den Dünkel eingestanden?

Sollte Gott ihre Schwäche doch für sein gutes Ziel nutzen. Immer wieder erwartete er von ihr, dass sie in ihrem eigenen Leben umsetzte, was sie in den Seminaren lehrte. Allerdings hatte sie nicht mit einem so dramatischen Echtzeitbeispiel gerechnet. Aber dann war das eben so.

Sie zog die Decke bis zur Brust hoch.

Dann waren da ihre Zweifel in Bezug auf das Thema, das sie vorbereitet und vorgetragen hatte. Ihre Zweifel hatten sie so gequält, dass es ihr nicht gelungen war, Atem zu holen. Immer wieder hatte sie die Frage gestellt: „Was, wenn ich anders entschieden hätte?“

Sie schaute zu, wie die Kerze im Dunkeln flackerte.

Sie wusste es doch besser, als sich durch solche Fragen beunruhigen zu lassen. Gott trieb sie nicht durch Furcht an oder leitete durch Verurteilung. Sie wusste das doch. Selbst wenn sie seine Führung nicht erkannt hätte, hätte sie darauf vertrauen müssen, dass er das Geschenk, das sie anbot, segnete und gebrauchte, um einem anderen Menschen Nahrung zu geben, der ein Wort der Bestätigung und Hoffnung und des Trostes mitten in Leid oder Verzweiflung brauchte. Und ganz ehrlich, was hätte sie stattdessen anbieten können? Es war keine Zeit mehr gewesen, um den Kurs umzuplanen, zumal ihr auch kein anderes Thema eingefallen war. Jedenfalls kein Thema, das sie von ganzem Herzen hätte präsentieren können.

Nein, ihre inneren Zweifel und Unruhe hatten sie von Gott weggeführt, nicht zu ihm hin. Das hatte ihre Unruhe nur noch verstärkt. Sie musste ihre Zweifel loslassen. Trotz Logans Kritik. Gott verlangte kein perfektes Opfer – nur eines, das bereitwillig und demütig dargebracht wurde. Sie hatte es so rückhaltlos dargebracht, wie es ihr möglich gewesen war. Auch das musste sie loslassen.

Ihr Blick wanderte von der Kerze zu dem Zettel mit Logans Telefonnummer. Schatten tanzten darüber. Seine Worte waren dazu geeignet zu vernichten, nicht Leben zu spenden. Ein Dorn, der sie vermutlich auf Dauer quälen würde. Wenn er, wie Wren sagte, tatsächlich nur aufgebracht darüber war, dass man ihn ertappt hatte, und nicht, weil er lieblos gewesen war, wenn es ihm nur darum ging, seinen Ausbruch zu erklären und sich dafür zu entschuldigen, dann …

Sie verschränkte ihre Finger miteinander.

Natürlich wusste sie über die Finanzlage des New Hope-Zentrums Bescheid. Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt kämpften sie um die nötigen finanziellen Mittel. Das war nun mal so. Die Zahlen waren ein Zeugnis für Gottes Treue. Gott hatte alle ihre Bedürfnisse immer zuverlässig erfüllt, selbst in mageren Zeiten. Auch wenn sie keinen Überschuss erwirtschafteten und keine Rücklagen bilden konnten, hatten sie immer alles, was sie brauchten, wie Manna vom Himmel bekommen. Sie und das Kuratorium hatten immer wieder darüber staunen können, wie ihre Bedürfnisse erfüllt worden waren, nicht nur durch die Seminarangebote, die angemessene Einnahmen brachten, sondern auch durch treue Spender, die diesen Dienst unterstützten – so „schlimm und deprimierend“ er auch war. Auf ihrer gemeinsamen Glaubensreise hatten sie sich immer den Glauben bewahrt, dass Gott ihnen ihr tägliches Brot geben würde. Wenn das Kuratorium jetzt lieber auf aggressive Marketingstrategien und Spendenaufrufe, auf die eigene Findigkeit oder Logans Talente vertrauen wollte und nicht mehr darauf, dass Gott ihnen für diese Arbeit gab, was sie brauchten, dann lag das nicht mehr in ihrer Verantwortung. Diesbezüglich konnte sie ihre Hände in Unschuld waschen.

Und noch etwas. Sie warf die Decke zurück und erhob sich. Welches Recht hatte Logan, Menschen, die ein Wort der Hoffnung brauchten, abzuwerten und zu verurteilen? Wenn sein Leben bisher geradlinig verlaufen war, wenn er bisher noch kein Leid und keinen Verlust erlitten hatte, wenn sein Mitgefühl für Menschen, die Leid erlebten, rein theoretisch war, wenn er nicht viel hielt von der Theologie des Kreuzes, dann hoffte sie nur, dass die Leute, denen sie durch ihren Dienst hatte helfen können, einen anderen Ort finden würden, an dem sie das bekamen, was sie brauchten. Aber es war unangemessen, lächelnd zu nicken und zu sagen, wie hervorragend das Angebot sei – „Ich meine das ganz ehrlich“ –, und zu behaupten, er wolle nicht ersetzen, sondern erweitern. Er sollte den Mut haben, geradeheraus zu sagen, was er dachte.

Aufgewühlt lief Kit durch den Raum. Und ganz ehrlich, was war das für ein Mann – was war das für ein Kind –, das hereinstürmte und sich ein Urteil über sie erlaubte, ihr vorwarf, sie würde nicht genügend lieben, sich nicht genug Mühe geben, ihr fehle es am Willen zur Inklusion, sie sei nicht „achtsam“ genug oder hartherzig oder engstirnig oder, schlimmer noch, rassistisch. Dabei hatte sie doch immer versucht, allen Menschen, denen sie begegnete, die befreiende Botschaft der Gnade weiterzugeben, egal, welcher Hautfarbe oder Herkunft sie waren. Was war er für ein Mann, dass er …

Tochter.

Dieses geflüsterte Wort ließ sie innehalten, aber es füllte ihre ganze Brust aus, wie ein tiefer Atemzug eiskalter Bergluft. Reinigend. Erfrischend. Beruhigend. Eine heilige Unterbrechung, die sie auf heiligen Boden stellte.

Sie blieb stehen und schaute erneut in die Flamme.

Meine geliebte Tochter.

Sie senkte den Kopf, lauschte, wartete.

Er ist dein Bruder.

Sie umklammerte die Armlehne des Sessels und sank langsam auf die Knie.

Dieser Mann.