20

Wren saß im leeren Warteraum vor Dawns Sprechzimmer und spielte nervös mit ihren Fingern. Sie hätte sowieso nicht für ihn arbeiten wollen. Sicher, ihr Atelier im New Hope-Zentrum würde sie wohl aufgeben müssen, aber da Logan sowieso keinen Sinn für Kunst hatte und keine Wertschätzung für Künstler empfand, hätte er ihr das vermutlich ohnehin nicht gelassen, selbst wenn sie noch dort gearbeitet hätte. Sie sah ihn vor sich, wie er während des Kurses unverwandt auf sein Handy starrte, als Kit ihr Bild hochhielt. Unhöflich und respektlos.

Sie würde alle ihre Bilder aus der Kapelle entfernen, bevor er die Gelegenheit dazu hatte, und sie würde Kit empfehlen, auch die Originale der anderen Künstler zurückzugeben, bevor er sie entsorgte. Die Drucke von van Gogh hatte alle Kit bezahlt. Auch die mussten sie unbedingt vor Logans Zugriff in Sicherheit bringen.

Und dann Gayle. Was sie mit ihr gemacht hatten, tat Wren am meisten leid. Als Kit kurz nach Wrens Anruf im New Hope-Zentrum eingetroffen war, war Gayle weinend in ihren Armen zusammengebrochen. „Wer stellt denn noch eine dreiundsechzigjährige Sekretärin ein, die nur Grundkenntnisse am PC vorzuweisen hat?“ Ihr Sohn, der so lange Single gewesen war, heiratete jetzt endlich. Ihn konnten sie keinesfalls um finanzielle Unterstützung bitten, falls das nötig wäre.

Kit bot Gayle an, den Rest des Tages freizunehmen. Oder den Rest der Woche, falls sie das wollte. „Der Zeitpunkt ist ganz übel“, hatte Kit gesagt, „und es tut mir schrecklich leid. Ich hoffe nur, dass du und Arnie euch auf die Hochzeit konzentrieren könnt, auch wenn das schwierig sein mag.“

Durch das Fenster der Rezeption beobachtete Wren, wie sich Dawns Bürotür öffnete. Da sie demjenigen, der herauskam, ein wenig Privatsphäre gönnen wollte, wandte sie den Blick ab. Doch dann rief eine Frauenstimme: „Danke für das Gespräch!“ Diese Stimme kannte Wren.

Mara Payne. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie dieselbe Therapeutin hatten. Als sich ihre Blicke trafen, begann Mara zu strahlen, und im Wartebereich begrüßte sie Wren mit einer herzlichen Umarmung. „Die Welt ist ja so klein!“, rief Mara. „Du bist wegen Dawn hier?“

„Ja.“

„Oh, das freut mich sehr. Sie ist großartig, nicht?“

„Das stimmt.“

„Sie ist schon seit einigen Jahren mein Rettungsanker“, erklärte Mara. „Ich hatte sie länger nicht gesehen, aber manchmal muss man einfach noch einmal an etwas erinnert werden, was man eigentlich längst weiß.“

Richtig, dachte Wren. Und man muss versuchen, keine Schuldgefühle zu empfinden, weil man diese Erkenntnis vergessen hat oder nicht umsetzt.

„Ich wollte dich schon längst angerufen haben, Wren. Wie wäre es, wenn wir mal zusammen einen Kaffee trinken?“

„Sehr gern, danke.“

Mara schob den Riemen ihrer perlenbestickten Tasche auf der Schulter hoch. „Und? Wie läuft es bei dir?“

Wren lächelte trocken. „Ich bin gerade gefeuert worden, aber sonst …“

„Nicht wahr! Im Pflegeheim?“

„Im New Hope-Zentrum.“

„Machst du Witze?“

„Nein. Es kommt ein neuer Leiter, und der räumt gründlich auf.“

Mara neigte den Kopf zur Seite. „Da scheint ja mehr dahinterzustecken. Wie bald können wir uns treffen?“

Wrens gesamter privater Terminplan würde auf einen kleinen Zettel passen. „Ich arbeite die nächsten Tage. Wie wäre es gegen Ende der Woche?“

„Gut. Ich schaue nach ein paar Lücken in meinem Kalender und melde mich.“

Dawn kam aus ihrem Sprechzimmer. „Hallo, Wren.“

„Hallo.“

Mara umarmte Wren zum Abschied noch einmal. „Halt die Ohren steif, okay? Du bist in guten Händen.“

B

„Ich höre eher Frustration als Trauer“, erklärte Dawn, nachdem Wren ihr erzählt hatte, was seit Logans Besuch geschehen war. „Ist das so?“

„Ja, das stimmt. Sehr viel mehr Frustration.“ Wren nahm ein Kissen von Dawns Sofa und drückte es an sich. „Ich glaube, Zorn ist im Augenblick viel weniger beängstigend für mich als Trauer, denn die kostet mich mehr Energie. Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt oder nicht.“

„Können Sie das näher erläutern?“ Dawn beugte sich leicht vor.

„Trauer führt mich an einen dunklen Ort, an einen Ort, an dem ich nichts fühle. Ich glaube, bei Zorn fühle ich zumindest etwas, das mir helfen kann, aktiv zu werden und mich in eine Richtung zu bewegen, wo ich Hilfe finde.“ Solange sie sich nicht davon überwältigen ließ. Aber diese Gefahr bestand vermutlich immer.

„Was denken Sie, wogegen sich Ihr Zorn richtet?“

Wren zuckte die Schultern. „Ich könnte jetzt natürlich behaupten, ich ärgere mich vor allem darüber, wie man mit Gayle umgeht. Aber es geht in erster Linie um mich. Ich bin wütend, dass Logan für die Dinge, die mir wichtig sind, nichts übrigzuhaben scheint. Zum Beispiel Kunst.“

Ihr Blick wanderte zu Vincents Gemälde Der barmherzige Samariter an der Wand hinter Dawns Sessel. Der verletzte junge Mann hatte den Arm um den Hals des älteren Mannes geschlungen, während der ihn aufs Pferd hob. Vincents wirbelnde Pinselstriche standen für die Energie und die Anstrengung des Samariters.

Wrens Kehle war trocken. Dass sie zornig über Logans mangelnde Wertschätzung für Kunst war – für ihre Kunst –, das war nur die halbe Wahrheit. „Es geht auch um Kit“, erklärte sie.

„Sie sind auch zornig auf sie?“

„Nein, ich meine, ja, das war ich. Aber in erster Linie bin ich wütend wegen dem, was Logan über sie gesagt hat.“ Sie deutete auf das Bild. „Das zeigt Kit und mich.“

Dawn drehte sich kurz um und schaute sich das Bild an.

„Genau das hat Kit für mich getan. Sie hatte Mitgefühl und Trost für mich, als ich nicht selbst für mich sorgen konnte. Als mir alles egal war und ich nicht mehr für mich sorgen wollte.

Viele dieser Tage lagen wie im Nebel, aber woran sie sich erinnerte, war Kits Präsenz. Ihre Kraft. Ihre Freundlichkeit. Ihr Verständnis.

„Kit und ich“, fuhr sie fort, den Blick noch immer auf das Gemälde gerichtet, „sind Gefährten im Leid, weil sie weiß, wie sich Verzweiflung anfühlt, und weil sie mich nicht wegen meiner Schwächen verurteilt. Als sie bei dem Kurs am Wochenende über den Umgang mit Leid sprach und Logan sich dann später am Telefon darüber ausließ, wie deprimierend das alles sei, und als er dann auch noch spottete, die Nachricht von der Auferstehung sei bei Kit offensichtlich noch nicht angekommen, da habe ich rotgesehen. Nicht nur, dass er Kit und das, was sie anderen an Trost, Verständnis und Mitgefühl entgegenbringt, herabgewürdigt hat. Ich hatte auch das Gefühl, dass er das, was sie für mich getan hat, mit Füßen tritt. Sie hat mir geholfen, Jesus in seinem Leiden anzusehen, mich darauf auszurichten, dass er mit uns fühlt, und seine Solidarität mit uns zu erkennen. Mit mir. Und als Logan so abwertend darüber sprach, hatte ich das Gefühl, als hätte er unsere Planung und unser Engagement für den Kreuzweg entwertet. Alles, was wir gemeinsam geschaffen haben.“ Sie atmete tief durch. „Und auch wenn er sich bei ihr entschuldigt zu haben scheint, bin ich trotzdem noch wütend.“

Ihr Blick wanderte zu den beiden Gestalten, die an dem verletzten Mann vorbeigegangen waren und sein Leid ignoriert hatten. Einer von ihnen schien im Gehen zu lesen. Vermutlich im Wort Gottes, was alles noch viel schlimmer machte. Die Szene war so aufgebaut, dass zwei mit sich selbst beschäftigte Männer noch immer in Sichtweite waren. Sie hätten sich nur umzudrehen brauchen, dann hätten sie gesehen, wie das Gewicht seiner Großzügigkeit und seines Mitgefühls den Samariter niederbeugte. Doch er war entschlossen zu helfen, ohne Rücksicht darauf, was es ihn kostete. Aber selbst wenn sie es bemerkt hätten – wären sie umgekehrt und hätten ihm geholfen? Vermutlich nicht.

„In dem hier sehe ich Logan“, sagte sie und deutete auf die Gestalt, die sich in die Schriftrolle oder das Buch vertieft hatte. „Er scheint so mit sich selbst beschäftigt, mit seinem neuen Wirkungskreis oder mit der finanziellen Situation oder was auch immer, dass er sich nicht die Mühe macht, überhaupt zuzuhören, was Kit über Menschen gesagt hat, die vor Verzweiflung nicht mehr aus noch ein wissen.“ Falls Logan Kits Ausführungen tatsächlich mitbekommen hatte, sie ihn aber nicht erreicht hatten, dann wäre das noch schlimmer.

„Kit sagt, er wolle sich für Gerechtigkeit zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft einsetzen. Aber wenn es für ihn schon deprimierend ist, über Leid auch nur zu sprechen, dann frage ich mich, wie ernst er es damit meint. Vielleicht will er mit solchen Themen nur beeindrucken.“ Es gab so viele Posts im Netz, die Menschlichkeit signalisieren sollten. War das reine Angeberei? Dünkel in Höchstform? Oder waren diese Worte begleitet von mitfühlendem Handeln?

Aber wie war das eigentlich bei ihr?

Sie vertiefte sich wieder in das Gemälde. „Ich will nicht mehr länger die Person auf dem Pferd sein. Ich will nicht mehr so bedürftig und auf Hilfe angewiesen sein. Ich sehe, wie erschöpft Kit ist, und ich verursache noch zusätzlichen Stress für sie. Sie gibt sich solche Mühe, geduldig und mitfühlend zu sein, aber …“

Dawn wartete einen Augenblick, dann forderte sie sie auf: „Nur weiter, Wren. Was sehen Sie noch?“

Sie rieb eine der goldenen Quasten des Sofakissens zwischen ihren Fingern. Das Material fühlte sich so weich und beruhigend an. „Ich bin diejenige, die immer nur nimmt“, fuhr sie fort. „In der Welt geschehen so viele große Dinge. Es gibt so viel Bedürftigkeit. Und ein paar Jahre lang habe ich auch an vorderster Front gestanden, habe Menschen aufgerichtet, mich um ihre Verletzungen gekümmert. Ich habe dazu beigetragen, dass sie voller Hoffnung weitergehen konnten. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass das alles schon ein ganzes Leben her ist.“

Kit hatte ihr immer wieder versichert, dass sie durch ihre Anwesenheit in Willow Springs bei den Bewohnern viel bewirken würde. Aber es war ja auch nicht schwer, sich zu jemandem zu setzen und mit ihm ein Golfturnier anzuschauen oder Kniffel zu spielen. Das kostete sie doch nichts. Wie gern wäre sie mehr wie Kit, wie der großzügige Samariter, der sich selbst aufopferte. Oder sogar wie das geduldige Pferd auf dem Bild. Es diente, indem es stillhielt und seine Last annahm und trug, ohne sich zu beklagen. Vincent hatte Tiere häufig mit menschlichen Eigenschaften gemalt. Er sah etwas Heiliges in ihnen.

Erneut deutete sie auf das Bild. „Das hat van Gogh übrigens gemalt, als er in der Nervenheilanstalt war.“

Dawn schaute sie verblüfft an. „Wirklich?“

„Ja. Er wollte nicht ständig auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Genau wie ich. Er hatte Schuldgefühle, weil er finanzielle Unterstützung von seinem Bruder brauchte, und war zutiefst frustriert, dass es ihm nicht gelang, mit dem Verkauf seiner Bilder seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Und natürlich ärgerte er sich, dass sich Theos Investition in ihn niemals ausgezahlt hatte. Aber er wollte trotzdem so gern etwas bewirken. Er wollte Menschen durch seine Kunst trösten. Und er hoffte, wieder so gesund zu werden, dass er das tun könnte.“

Wren betrachtete das Gesicht des Samariters. Ihr Blick blieb auf einmal an seinem orangefarbenen Bart hängen. Wieso hatte sie dieses Detail bisher nicht bemerkt? Ja, vielleicht war es eine künstlerische Farbentscheidung gewesen, aber vielleicht drückte dieses Detail Vincents Sehnsucht aus, anderen zu helfen. Vielleicht sah er sich selbst nicht nur als den verletzten Mann, der Hilfe brauchte, sondern auch als den verletzten Heiler, der Hilfe anbot.

Sie sprach mit Dawn über ihre Theorie. „Das ist eine sehr eindrückliche Erkenntnis, Wren. Was könnte das für Sie bedeuten?“

Wren überlegte einen Augenblick. „Ich weiß, dass ich Kit das, was sie getan hat, niemals werde vergelten können. Ich möchte nicht nur eine Last sein. Und ich möchte in der Welt etwas bewirken. Das kann ein sehr selbstsüchtiger, selbstzentrierter Ansatz sein, damit wir selbst uns gut fühlen. Dass wir auch nach außen gut dastehen. Aber als ich hörte, wie Kit Logans Vision erklärte, dass er sich für bessere Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft einsetzen wolle, da regte sich etwas in mir. Da war der Wunsch, mich auch dafür zu engagieren und einen Beitrag zu leisten für eine Verbesserung zum Guten.“

„Können Sie das denn nicht tun?“

„Nein. Nicht hier. Nicht mit ihm. Zumindest nicht jetzt. Oder noch nicht.“ Sie müsste abwarten, was für ein Mensch er tatsächlich war, bevor sie eine solche Entscheidung traf.

Wrens Blick wanderte zur Uhr an der Wand. Die Zeit war fast um. „Vielleicht muss ich mich einfach auf die Möglichkeiten konzentrieren, die ich in Willow Springs habe. Nicht nur im Hinblick auf die Bewohner, sondern auch auf alle, die dort arbeiten. Bisher war ich zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt und habe mich für sie und ihren Hintergrund nicht interessiert. Aber ich weiß, dass einige Reinigungskräfte und Pflegehelferinnen nur mit mehreren Jobs über die Runden kommen. Manche davon sind alleinerziehende Mütter. Ich wette, keine von ihnen genießt den Luxus, den ich habe. Ich brauche keine Miete zu zahlen, sondern kann kostenlos bei Kit wohnen, bis ich weiß, wie ich mein Leben weitergestalten will.“ Sie schwieg einen Moment. „Das gehört vermutlich auch zum verantwortlichen Umgang mit dem, was uns geschenkt ist, nicht? Ich brauche keine Schuldgefühle zu empfinden wegen dem Guten, das mir widerfährt, sondern kann nach Wegen suchen, das, was ich habe, weiterzugeben. Und nicht nur, um meine Schuldgefühle zu beschwichtigen. Sondern um wirklich Liebe weiterzugeben.“

Dawn schwieg. „Es gibt immer Gelegenheiten, Gerechtigkeit, Liebe, Erbarmen und Demut zu üben“, sagte sie nach einer Weile. „In jeder Lebenssituation.“

B

Kit stand vor ihrem Vorratsschrank und überlegte, was sie zum Abendessen kochen könnte, als Wren mit einer Einkaufstüte hereinkam. „Auf dem Heimweg bin ich beim Supermarkt vorbeigefahren. Ich dachte, wir könnten Fajitas machen.“ Sie stellte die Tüte auf die Arbeitsplatte. „Aber wenn du etwas anderes im Sinn gehabt hast, können wir das auch für morgen aufheben.“

„Nein, das ist eine gute Idee. Danke.“ Kit machte den Schrank zu und holte eine Pfanne aus der Schublade unter dem Herd.

Wren schob sie aus der Küche. „Du gehst und ruhst dich aus. Ich mache das schon.“

Kit nahm das Angebot gern an. Nachdem sie Vogelfutter ins Vogelhäuschen gegeben und mehrere E-Mails beantwortet hatte, brutzelte das Hähnchen in der Pfanne. Wren legte ihr Handy aus der Hand. „Mama lässt dich schön grüßen.“

„Schöne Grüße zurück. Alles in Ordnung bei ihr?“

„Ja. Nur ihre übliche Sorge um mich. Ich habe ihr versichert, dass ich gut mit allem klarkomme. Das ist wirklich so. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn du sie auch noch einmal beruhigen könntest.“

„Wenn sie mich fragt, kann ich das gern machen.“

„Danke.“

Kit zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. „Hattest du heute ein gutes Gespräch mit Dawn?“

„Ja. Es kam gerade zum richtigen Zeitpunkt.“ Wren wendete das Fleisch. „Ich habe ihr von den Vorfällen mit Logan berichtet, dass er sich so abfällig über unseren Kreuzweg geäußert hat und ...“

„Moment mal, Wren. Ich bin nicht sicher, dass er das genau so ausgedrückt hat.“

„Doch, das war so. Du hast sein Telefongespräch nicht mitbekommen. Ich schon.“

„Aber ich bin nicht sicher, dass er über alles so abfällig gesprochen hat“, wandte Kit ein, „nur, dass ich seiner Meinung nach in meinen Ausführungen die Hoffnung und die Auferstehung nicht ausreichend berücksichtigt hätte.“

Wren hob den Pfannenwender. „Warum verteidigst du ihn immer noch, nach allem, was er Gayle angetan hat?“

„Das war eine Entscheidung des Kuratoriums. Logan hat damit nichts zu tun.“

„Da bin ich nicht so sicher. Denn am Samstag hat Logan mir gesagt, er hätte seiner Frau gegenüber Dampf abgelassen, weil das Gehalt, das man ihm angeboten hat, für sie nicht ausreiche. Vermutlich hat er mich deshalb gefragt, wie viele Stunden ich in New Hope arbeite und ob ich noch eine andere Stelle hätte. Das gehörte alles zu seinen Berechnungen. Er hatte schon alles geplant.“ Sie drehte das Fleisch noch einmal um. „Und er machte dich dafür verantwortlich, dass New Hope finanziell so schlecht dasteht und ihm kein höheres Gehalt zahlen kann, weil deine Angebote zu deprimierend seien.“

Kit massierte sich die Schläfen. Dass Wren die letzten Funken des Zorns, die sie den ganzen Tag über mit Gebet zu ersticken versucht hatte, wieder anfachte, konnte sie ganz und gar nicht gebrauchen. Das wollte sie nicht.

„Entschuldige“, sagte Wren, „aber es stimmt. Nicht was er über dich gesagt hat, aber dass er es gesagt hat. Ich weiß, was ich gehört habe.“

„Das glaube ich dir ja, Wren. Aber ich weiß auch, wie zerstörerisch Zorn ist. Es ist nicht gut, wenn wir die Dinge, über die wir uns geärgert haben, ständig wieder durchkauen. So kann keine Ruhe einkehren.“

„Aber du kannst doch nicht alles unter den Teppich kehren und so tun, als wäre nichts geschehen.“

„Hier geht es nicht darum, irgendetwas unter den Teppich zu kehren. Er hat mich doch bereits um Vergebung gebeten. Wir müssen das jetzt hinter uns lassen.“

Wren stemmte ihre freie Hand in die Hüfte. „Denkst du wirklich, dass er aufrichtig ist in dem, was er sagt?“

Kit war sich nicht sicher. Aber ihn als Bruder zu lieben bedeutete, zunächst einmal das Beste von ihm anzunehmen. So viel wusste sie. „Es steht uns nicht zu, seine Motive oder Aufrichtigkeit anzuzweifeln“, erwiderte sie. „Gott sieht das Herz an, nicht ich. Ich weiß nur, dass der Maßstab, den ich in meinem Urteil über einen anderen anlege, auch bei mir angelegt wird. Und ich wünsche mir Barmherzigkeit. Ich habe mit mir selbst schon genug zu tun, ich kann mich nicht noch auf einen anderen konzentrieren. Das verkrafte ich nicht.“

Wren seufzte.

„Gib ihm eine Chance“, bat Kit. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Aber bis die Frucht sichtbar wird, dauert es. Liebe ist geduldig, schon vergessen? Geduldig mit uns, damit wir Geduld für andere aufbringen können. So schwer uns das manchmal auch fällt.“

Wren schob die Hühnerbrust auf einen Teller. „Ich brauche ihm ja keine Chance zu geben. Denn schließlich wurde ich gefeuert. Ich werde also nicht mitbekommen, was er macht.“

„Das tut mir leid, Wren.“

„Nein, es ist in Ordnung. Ich hatte mir sowieso vorgenommen, diese Stelle aufzugeben. Ohne dich wäre es nicht mehr dasselbe, also kann ich auch gleich weiterziehen.“

Kit wollte ihr keinen Stress bereiten, indem sie nach Arbeitsmöglichkeiten fragte, darum beobachtete sie wortlos, wie Wren rote, gelbe und grüne Paprika in Streifen schnitt, in die Pfanne gab und umrührte.

„Bist du denn nicht wütend?“, fragte Wren nach einer Weile.

„Doch, natürlich.“

„Aber wieso explodierst du nicht?“

Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht ist es wegen meines Dünkels. Ich lasse mir das nicht anmerken.“

„Bist du nie wütend auf Robert gewesen? Auch nicht, nachdem er dich verlassen hat?“

Kit dachte daran, wie eindringlich Jesus vor dem Zorn warnt. „In meinen Gedanken habe ich ihm tausendmal den Hals umgedreht, ihm die schlimmsten Dinge gewünscht. Ich konnte ihn und Carol nicht bestrafen, aber ich wollte, dass Gott es tut.“ Sie stützte das Kinn in die Hände. „Es liegt nicht in meiner Art, herumzuschreien und vor Wut zu explodieren, aber die stille Version kann genauso tödlich sein. Ich habe ihm eine ganze Menge Briefe geschrieben, in denen ich meinen Zorn zum Ausdruck gebracht habe. Aber ich habe sie alle zerrissen, und ich habe auch unzählige Rachepsalmen gebetet. In der Bibel gibt es eine stattliche Anzahl davon. Man hat die Wahl.“

„Schreib mir mal auf, welche das sind“, sagte Wren. „Sie könnten mir ganz gelegen kommen.“

Kit lächelte schwach. Diese ungefilterten und aus dem tiefsten Inneren kommenden Schreie und Bitten, Gott möge strafen, hatten damals ihrem eigenen Empfinden entsprochen. Im tiefsten Inneren hatte sie sich gewünscht, Gott möge Unheil oder Strafe oder Vernichtung über Robert und Carol bringen. „Sprich es aus“, pflegte Lucy immer zu sagen. „Schluck es nicht hinunter. Das macht dich krank.“ Ihren Zorn im Gebet vor Gott auszusprechen, hatte Kit geholfen, ihn zu verarbeiten, denn Gott war, so erinnerte Lucy sie immer wieder, groß und gnädig. Er konnte damit umgehen. Sie brauchte nicht erst aufzuräumen, bevor sie damit zu ihm kam.

Kit rieb über die Stelle an ihrem Ringfinger, an der früher ihr Ehering gesteckt hatte. „Nach einer Weile habe ich erkannt, dass ich mir mit meinem Zorn nur selbst schadete, nicht ihnen. Meine geistliche Begleiterin hat mir geholfen zu erkennen, dass ich mit meiner Verachtung den beiden ihre Menschlichkeit abgesprochen hatte. Ich hatte sie auf die Größe ihres Vergehens reduziert, und deshalb fiel es mir leichter, sie zu hassen und mich über sie zu stellen. In meinem Zorn sah ich sie nicht mehr als Menschen, die zum Ebenbild Gottes geschaffen waren.“ Die Erkenntnis, wie eng ihr eigenes Herz geworden war, war ein Weckruf des Heiligen Geistes gewesen und hatte einen Vergebungsprozess in Gang gebracht, der immer noch nicht abgeschlossen war.

Wren drehte den Herd herunter und machte sich daran, die Hähnchenbrust in Streifen zu schneiden. „Ich verstehe, was du meinst. Zorn ist zerstörerisch, aber Dawn und ich haben auch darüber gesprochen, dass Zorn Veränderung hervorbringen kann, nicht nur die Veränderung eines einzelnen Menschen, sondern auch einer ganzen Gemeinschaft. Ich denke, Zorn kann auch umgeleitet werden, um Gutes zu bewirken, zum Beispiel, dass man ungerechte Systeme bekämpft.“

Das sah Kit auch so. In der Bibel wurde immer wieder von prophetischem Zorn gesprochen, es wurde zur Umkehr angesichts von Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufgerufen. „Aber gerechter Zorn darf niemals die Liebe ersticken. Wenn dein Zorn nicht in der Liebe wurzelt, dann ist er nicht heilig. Und ich habe in meinem Leben viel Erfahrung mit der unguten Art gemacht. Sie kann zu einem verzehrenden Feuer werden. Und nicht zum Guten.“

„Ja, stimmt wohl“, bestätigte Wren. „Aber einer meiner Professoren im Studium sagte immer, nicht Zorn und Hass seien das Gegenteil von Liebe, sondern Gleichgültigkeit. Ich will nicht apathisch oder hartherzig oder vollkommen ichbezogen werden angesichts des Leids in der Welt. Ich will nicht behaupten, dass ich eine Art heiligen Zorn empfinde, so wie Jesus. Aber wenn ich mich wieder für Gerechtigkeit begeistern kann und Mitgefühl spüre, so wie früher in meiner Arbeit mit Missbrauchsopfern, dann scheint das ein wichtiger Schritt nach vorn zu sein. Und wenn ich bedenke, wie lange ich innerlich tot war, dann werte ich das als ein positives Zeichen.“

Möge es so sein, dachte Kit und stand auf, um den Tisch zu decken.