22

Sarah saß bereits an einem Tisch für zwei Personen am Fenster, als Kit ein paar Minuten zu spät eintraf. „Es tut mir so leid, dass ich dir und den Mädchen gestern absagen musste“, entschuldigte sie sich, als Sarah aufstand, um sie zu umarmen.

„Kein Problem. Hat sich denn alles geklärt?“

„Ja, es ist alles gut.“ Wenn Sarah einen Rat von ihr brauchte, dann war das wichtiger, als über das New Hope-Zentrum und Logan zu sprechen. Sie würde auf die richtige Gelegenheit warten, um Sarah auch von ihrer Panikattacke zu erzählen. Und wenn sie schon dabei war, durfte sie vermutlich auch den Zwischenfall mit der Polizei nicht verschweigen. Es war besser, dem Buschfunk zuvorzukommen und selbst zu berichten, was geschehen war. „Hast du schon Kaffee bestellt?“

„Er war abgestanden, darum habe ich neuen bestellt.“

„Aha, okay.“ Sie war froh, dass sie nicht dabei gewesen war, als Sarah sich über den ungenießbaren Kaffee beschwerte. Robert hätte sich genauso verhalten – keinen Aufstand gemacht, aber der Bedienung klar und deutlich zu verstehen gegeben, was Sache war. Kit hätte sich vermutlich nicht beschwert, sondern einen Schluck getrunken und den Kaffee einfach zur Seite gestellt.

Sarah deutete auf die Speisekarte. „Nimmst du, was du immer nimmst?“

„Ja.“

Sarah winkte die Kellnerin herbei. „Wir können bestellen“, sagte sie, als die junge Frau an ihren Tisch kam. „Nur zu, Mama.“

„Rührei und einen Vollkornpfannkuchen, bitte.“

„Mit echtem Ahornsirup“, fügte Sarah hinzu.

„Wenn Sie haben“, ergänzte Kit entschuldigend lächelnd.

„Sicher.“

„Und ich nehme den Avocadotoast“, bestellte Sarah, „mit von beiden Seiten gebratenen Spiegeleiern. Aber achten Sie bitte darauf, dass sie wirklich durchgebraten sind, okay? Nicht medium.“

„In Ordnung.“ Das Mädchen unterstrich die Worte auf ihrem Block.

Sobald die Kellnerin sich entfernt hatte, legte Sarah los. „Du weißt doch, dass Morgan sich ein Pferd wünscht, nicht?“

„Jetzt sag mir nicht, dass sie mit einem Pferd aus Florida zurückgekommen ist.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich mache nur Spaß. Tut mir leid.“

„Nein, du liegst gar nicht so falsch, Mama.“

Während Kit Sarahs Bericht über Carols Fehlverhalten lauschte, bemühte sie sich, die starken Emotionen, die in ihr hochstiegen, in Schach zu halten. Bei einem professionellen Begleitgespräch fiel es ihr nicht schwer, solche Trigger beiseitezuschieben und betend präsent zu bleiben, selbst wenn die Geschichte, die ihr erzählt wurde, ihre eigenen Erfahrungen von Leid und Verlust wieder hochkommen ließ. Aber wenn es um die Frau ging, die sie betrogen und zutiefst verletzt hatte, fiel es ihr viel schwerer, sich von ihren Gedanken und Gefühlen zu distanzieren. Und Sarah war gar nicht so wütend wegen dem, was Carol getan hatte. Es hatte den Anschein, als wüsste sie nur nicht, wie sie Carol zur Rede stellen sollte.

Seltsam. Normalerweise scheute Sarah vor einer Konfrontation nicht zurück. Und auch wenn sie im Laufe der Jahre gelernt hatte, sich etwas mehr zu zügeln, hatte es eine Zeit in ihrem Leben gegeben, wo ihr ziemlich egal gewesen war, wie die Leute auf das reagierten, was sie zu sagen hatte.

Zumindest ihr gegenüber hatte sich Sarah so verhalten. Vielleicht war das in Sarahs Verhältnis zu Carol ja anders. Kit hatte nur wenige Gelegenheiten gehabt, die beiden zusammen zu beobachten. Oder, genauer, sie hatte solche Gelegenheiten vermieden. Das war einfacher gewesen.

Die Kellnerin kam mit einer Kanne Kaffee an den Tisch. „Probieren Sie doch bitte, ob er jetzt in Ordnung ist“, bat sie, nachdem sie zwei Tassen eingeschenkt hatte.

Sarah trank einen Schluck und reagierte mit einem zufriedenen Seufzen. „Perfekt. Vielen Dank.“

Mit einem Nicken ging die Bedienung weiter zum nächsten Tisch.

„Natürlich möchte ich nichts tun, was Morgans Beziehung zu Carol gefährdet“, fuhr Sarah fort.

Nein, natürlich nicht, dachte Kit. Der Zeitpunkt, die Beziehung zu einer Frau abzubrechen, die in Täuschungsmanövern geübt war, war schon lange verpasst. Alte Worte, die sie einst in ihren Gebeten gesprochen hatte, als sie so zornig auf Carol und Robert gewesen war, stiegen aus dem tiefsten Inneren wieder an die Oberfläche. Die Lügner vernichtest du, du verabscheust die Mörder und Betrüger. Aber Gott hatte sie nicht vernichtet. Im Gegenteil, es war ihnen gut gegangen, und sie hatten nie ein Wort der Reue geäußert über das Unheil, das sie angerichtet hatten.

„Ich will sie im Gespräch auch nicht sofort mit Vorhaltungen bestürmen“, fuhr Sarah fort. „Ich würde ihr gern die Gelegenheit geben, reinen Tisch zu machen.“

Viel Glück dabei, dachte Kit. Eine Frau, die einer trauernden Mutter auf der Beerdigung ihres Sohnes mitfühlend lächelnd ihr Beileid ausgesprochen hatte und dann kurz nach ihrer Einweisung in eine psychiatrische Klinik in ihr Schlafzimmer eingezogen war, würde ganz bestimmt nicht zugeben, dass sie wegen etwas so Unbedeutendem wie einem Pferd gelogen hatte.

„Ich möchte barmherzig mit ihr sein. Und ich dachte, du könntest mir vielleicht einen Rat geben, wie das gelingen kann.“

Kit gab Kaffeesahne in ihren Kaffee und rührte langsam um. Nein. Sie konnte nichts anbieten, was Sarah helfen könnte, im Gespräch mit Carol eine Versöhnung und eine Erneuerung von Vertrauen zu erreichen. Eigentlich täte es Sarah vielleicht einmal ganz gut, den Stachel der Täuschung zunächst deutlich zu spüren, um ihn benennen und wirklich vergeben zu können, statt alles rasch glattzubügeln. „Entschuldige“, sagte sie nach einer Weile, „da fällt mir nichts ein.“

Sarah musterte sie. „Ich wollte zumindest mal fragen“, sagte sie schließlich mit einem leichten Schulterzucken.

An den Nachbartischen klapperte das Geschirr, Gesprächsfetzen drangen zu ihnen herüber, ein Handy klingelte, ein Kleinkind in seinem Hochstuhl quietschte vor Freude.

„So, hier kommt Ihre Bestellung“, sagte die Kellnerin. „Avocadotoast mit Eiern, auf beiden Seiten gebraten.“ Sofort pikte Sarah mit der Gabel eines der Eier an und nickte, als kein Dotter auf ihren Teller lief. „Und ein Vollkornpfannkuchen und Rührei.“ Die Kellnerin stellte Kits Bestellung vor sie auf den Tisch. „In dem Krug ist echter Ahornsirup“, erklärte sie, und Kit bedankte sich. „Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?“

„Nein, danke, ich denke, wir haben alles“, erwiderte Sarah. Sie faltete ihre Serviette auf und legte sie auf ihren Schoß. Die Kellnerin entfernte sich. „Möchtest du das Tischgebet sprechen, Mama?“

Kit schaute auf ihr Frühstück. „Vielleicht solltest du das heute übernehmen.“

B

Schlechte Idee, dachte Sarah, als sie ihren Toast anschnitt. Offensichtlich war Mama in keiner guter Verfassung und nicht dazu aufgelegt, ihr Tipps für das Gespräch mit Carol zu geben, damit es nicht in einem Fiasko endete. Vielleicht war sie aber auch so erschöpft, dass sie nicht einmal so tun konnte, als wäre sie dazu in der Lage. „Ich hätte das Thema nicht anschneiden sollen“, sagte sie.

Ihre Mutter goss Sirup auf den Pfannkuchen und wischte den Tropfen mit der Fingerspitze ab. „Es tut mir leid, dass jetzt du so etwas mit ihr erlebst.“ Sie wischte sich die Hand an der Serviette ab und murmelte etwas vor sich hin.

„Was hast du gesagt?“

„Nichts.“

„Jetzt sei doch offen zu mir, Mama. Ich merke doch, dass du aufgebracht bist. Was hast du gesagt?“

„Ich sagte: Nicht, dass mich das überraschen würde.“

Aha, okay. „Willst du jetzt dieses Gespräch führen?“, fragte Sarah.

„Ich sage nur, dass es für mich keine Überraschung ist. Schließlich habe ich einige unschöne Erfahrungen mit ihr gemacht, die an Niedertracht grenzten ...“

Niedertracht? Das ist doch ein wenig übertrieben, meinst du nicht?“

„Tatsächlich?“

Ihre Blicke trafen sich. Der Tisch war zu einer tiefen Kluft geworden. Ihre Mutter hielt ihrem Blick stand.

Sarah nahm ein Stück Toast mit der Gabel auf. „Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du sie für einen heimtückischen Menschen hältst und dich wunderst, dass ich trotzdem die Beziehung zu ihr pflege und meinen Töchtern eine Beziehung zu ihr ermögliche.“

Ohne zu antworten, nahm ihre Mutter ihr Messer und schnitt ihren Pfannkuchen in vertikale und horizontale Streifen. Langsam und mit Bedacht.

„Alles in Ordnung hier?“, fragte die Kellnerin.

„Ja, vielen Dank“, erwiderte Sarah. Obwohl ihre Mutter ihr Essen nicht einmal angerührt hatte, nickte sie.

Sarah wartete, bis die Kellnerin außer Hörweite war, bevor sie sagte: „Warum gestehst du denn nicht endlich ein, dass du dich über meine Beziehung zu Carol schon immer geärgert hast? Und zu Papa.“

In den Augen ihrer Mutter blitzte, ganz untypisch für sie, Zorn auf. „Ich habe nie versucht, deine Beziehung zu deinem Vater zu stören oder zu unterbinden. Oder die zu Carol. Nie!“

„Das habe ich ja auch gar nicht gesagt. Ich sagte, sei ehrlich und gib zu, dass du dich schon immer darüber geärgert hast.“

Ihre Mutter steckte einen Bissen von ihrem Pfannkuchen in den Mund und kaute langsam. Schließlich legte sie die Gabel aus der Hand. „Ich habe dich immer ermutigt, die Beziehung zu deinem Vater zu pflegen. Und mich immer zurückgehalten, damit dir das möglich war. Dir gegenüber habe ich nie über einen von ihnen schlecht geredet, habe dich nie um Unterstützung ...“

„Ich war achtzehn, Mama. Es wäre nicht angemessen gewesen, wenn du es versucht hättest.“

„Denkst du, ich wüsste das nicht?“

„Ich sage ja nur, dass wir beide einen Weg gefunden haben, unsere Beziehung zu erhalten. Und immer wieder habe ich betont, wie dankbar ich dir bin, dass du nie irgendetwas getan hast, um meine Beziehung zu Papa zu torpedieren. So wie ich nie etwas tun würde, um Morgans Beziehung zu Carol zu stören.“

Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf.

„Was ist?“, fragte Sarah.

„Das ist deine Angelegenheit, nicht meine.“

„Richtig, Mama. Du hast recht. Aber ich dachte, dich würde das vielleicht interessieren. Ich dachte, du würdest mir vielleicht helfen wollen, mich in dieser Angelegenheit richtig zu verhalten. Um meinetwillen. Und um deiner Enkelin willen.“

Der Seitenhieb traf. Ihre Mutter straffte die Schultern. „Wirf mir nicht vor, meine Enkelinnen seien mir nicht wichtig. Nur weil ich nicht in der Lage bin, mit ihnen um die Welt zu fliegen oder ihnen Pfe–“

„Aha, siehst du? Da haben wir es, Mama. Das ist es. Eifersucht und Zorn. Aber das ist doch gut, oder? Lass ruhig alles raus. Lass alles ans Licht kommen. Das sind doch deine Worte. Also hör jetzt nicht auf. Mach weiter. Was ärgert dich noch?“

Ihre Mutter nahm die Gabel wieder zur Hand und aß weiter.

„Es geht um meine Beziehung zu Carol, richtig? Das ist es doch. Es geht nicht um das, was Carol getan oder nicht getan hat. Es geht um mich. Warum sagst du das nicht einfach? Warum kannst du das nicht einfach aussprechen?“

„Warum gehst du jetzt so auf mich los, Sarah? Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu streiten.“

„Ich auch nicht! Ich wollte ein ehrliches Gespräch mit dir führen. So macht man das nämlich, wenn man einen anderen liebt, richtig? Er ist einem so wichtig, dass man ihm die Wahrheit sagt.“ Sie wartete. Keine Reaktion. „Ich bin keine achtzehn mehr. Du brauchst mich nicht mehr vor irgendetwas zu beschützen. Bestimmt nicht. Bitte sprich doch die schwierigen Dinge aus, Mama. Ich höre zu.“

Sarah beobachtete, wie ihre Mutter langsam den Teller zur Seite schob, und fragte sich, welche unzensierten Gedanken ihr wohl gerade durch den Sinn gingen. Mehrmals teilten sich Kits Lippen, aber es kamen keine Worte, sondern nur abgehackte Atemzüge.

Sarah sah die Kellnerin auf sie zusteuern. Bevor das Mädchen etwas sagen konnte, scheuchte Sarah sie fort. „Alles gut hier, danke. Wenn wir aufgegessen haben, können Sie die Rechnung bringen.“

„Ich bin fertig“, sagte ihre Mutter mit schwacher Stimme. Sie hatte ihren Pfannkuchen kaum angerührt.

„Sind Sie sicher?“, fragte das Mädchen.

„Ja.“

„Soll ich den Rest für Sie einpacken?“

„Nein, danke.“

Sarah sah zu, wie die Bedienung den Teller wegnahm. „Das war es dann also?“, fragte sie, nachdem sich die Kellnerin entfernt hatte. „Wir sind fertig?“

Der Blick ihrer Mutter wanderte von ihrem Schoß zum Fenster, dann wieder auf ihren Schoß zurück.

Sarah spießte mit ihrer Gabel ein Stück Toast auf. „Du kannst gern gehen. Wegen mir muss niemand hierbleiben.“

Ihre Mutter schloss die Augen und senkte den Kopf.

Großartig. Passiv-aggressiv mit einem Hauch von Frömmigkeit. Perfekte Kombination. Aber eigentlich waren die Auseinandersetzungen ihrer Eltern häufig so ausgegangen. Schließe ihn aus, bring ihn zum Schweigen, übernimm die Kontrolle, indem du Gott im Gebet alles vorlegst. Kein Wunder, dass er sie verlassen hatte. Mit dem Allmächtigen konnte er nicht konkurrieren, weder in Bezug auf ihre Aufmerksamkeit noch in Bezug auf ihre Worte.

Sarah steckte sich das Stück Toast in den Mund und kaute. Diese Kraftprobe würde sie durchstehen. Auf keinen Fall das Thema wechseln. Weiteressen, bis Mama ihre Tasche nahm und ging oder sich herabließ, etwas zu sagen.

Sie stach mit der Gabel in ihr zweites Ei und schnitt es mit dem Messer in kleine Stücke. Und da wurde behauptet, sie hätte den Eigensinn von ihrem Vater geerbt? Nein, sie hatte eine doppelte Portion abbekommen. Hartnäckig hatte ihr Vater sie genannt, wenn ihre Mutter sich über sie beklagte. Ihre Beharrlichkeit hatte ihr geholfen zu überleben. Ganz bestimmt würde sie sich nicht dafür entschuldigen.

„Katherine!“, rief eine Stimme von hinten. „Wie schön, dich zu sehen!“

Ihre Mutter verzog die Lippen zu einem Lächeln und grüßte.

„Barb und ich haben erst heute Morgen noch über dich gesprochen“, sagte die Frau. Sarah kannte sie. Sie hatte an dem Seminar teilgenommen. „Wir haben uns gefragt, wie es dir wohl geht. Wir alle haben uns solche Sorgen um dich gemacht.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Sarah ihre Mutter an.

„Geht es dir jetzt wieder besser?“, fragte die Frau.

„Ja, prima. Danke.“ Kit senkte den Blick auf ihren Schoß.

„Oh, das ist gut. Und du frühstückst mit deiner Tochter? Wie nett.“ Sie wandte sich an Sarah. „Ich bin Joan. Ein großer Fan Ihrer Mutter.“

Den Blick fest auf sie gerichtet, erwiderte Sarah: „Ich auch.“

Joan lachte. „Das höre ich gern!“

Langsam trank Sarah einen Schluck Kaffee. Während des Seminars musste etwas geschehen sein. Und wenn das etwas mit Wren zu tun hatte, was auch immer –

„Wir freuen uns schon auf Samstag, Katherine. Es ist nur schade, dass es dein letztes Seminar sein wird. Aber vermutlich reicht es dir jetzt auch, nicht? Du brauchst eine lange Pause, wenn das alles vorbei ist.“

Mit einem schwachen Lächeln schaute Kit hoch. „Ja, genau.“

„Ich bin sicher, dass alle für dich beten“, sagte Joan, „und wir werden es auch weiter tun.“

Kit dankte ihr.

„Ich lasse euch jetzt weiterfrühstücken. Wir sehen uns am Samstag!“

Sobald sie weg war, beugte sich Sarah vor. „Gibt es etwas, das du mir erzählen willst, Mama?“

Ihre Mutter knüllte die Serviette zusammen und atmete langsam ein. „Ja.“