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Du hast doch hoffentlich kein Problem mit Hunden, oder?“, fragte Mara, als sie den Wagen in die Garage fuhr. „Entschuldige bitte, das hätte ich dich früher fragen sollen.“
„Nein, zum Glück nicht“, erwiderte Wren. „Als ich klein war, hatten wir Schäferhunde.“
Mara schnallte sich ab und öffnete die Fahrertür. „Als Kind durfte ich nie ein Haustier haben, aber mein Ex-Mann hat Brian vor ein paar Jahren eine kleine Promenadenmischung zu Weihnachten geschenkt, und als Brian zur Armee gegangen ist, war Bailey einsam. Darum habe ich einen Freund für ihn besorgt.“ Aus dem Haus drang tiefes Gebell, gefolgt von einem leiseren Kläffen. „He! Brewster! Bailey! Das reicht jetzt!“
Wren nahm ihre Reisetasche vom Rücksitz. „Wo soll ich mein Fahrrad hinstellen?“
„Lass es für den Augenblick noch im Kofferraum. Ich muss erst ein wenig Platz schaffen.“
Wren wand sich um Recyclingtonnen herum, randvoll mit Kartons und Getränkedosen, und folgte Mara ins Haus. Beinahe wäre sie über einen kleinen Hund gestolpert, der sie umkreiste, bevor er an ihr hochsprang. „Bailey! Runter!“ Mara packte ihn am Hals und nahm ihn auf den Arm. „Du bist ein Ungeheuer, das sage ich dir. Ein kleines Ungeheuer.“ Er schleckte ihr Gesicht ab.
Wren streichelte seinen Kopf und strich ihm das Fell aus den Augen. Er leckte ihre Hand, bevor Mara ihn wieder auf den Boden setzte. Dann gesellte er sich zu dem dunklen Labrador, der neben dem Küchentisch saß und Mara erwartungsvoll anschaute, ohne sich zu rühren.
Mara hängte ihre Schlüssel ans Brett und stellte ihre Tasche auf den Boden. „Gib Pfote“, befahl sie. Brewster tat wie befohlen. „Guter Junge.“ Sie tätschelte seinen Kopf, bevor sie in einen Glasbehälter auf der Theke griff, um ein Leckerli für ihn herauszuholen, das sie Wren reichte. „Wenn du ihm das gibst, wird er für immer dein Freund sein.“
Wren stellte ihre Reisetasche neben Maras Handtasche und packte den Hundekuchen ganz am Rand an, damit seine Hundezähne nicht ihre Finger erwischten.
„Ich weiß, ich weiß“, sagte Mara. Bailey stand hinter ihm auf seinen Hinterbeinen und machte ein paar Schritte zurück. „Du bekommst auch einen. Sitz!“ Bailey gehorchte sofort. Mara deutete auf den offenen Behälter. „Er bekommt einen halben.“
Wren brach den Hundekuchen in der Mitte durch und legte eine Hälfte vor ihn auf den Boden. Er schnappte sofort danach und trottete in einen anderen Raum. Brewster hob erneut die Pfote. Mara lachte. „Er möchte gern die andere Hälfte haben.“
Wren ließ los, bevor er ihn ihr aus der Hand reißen konnte. Brewster fing ihn auf und folgte Bailey.
„Soll ich meine Schuhe ausziehen?“, fragte Wren.
„Nur, wenn du möchtest. Hier gibt es keine Regeln.“
„Oh, okay. Danke.“
Mara lehnte sich an die Küchentheke. „Normalerweise mache ich einen Spaziergang mit den Hunden, wenn ich mich umgezogen habe. Du kannst uns gern begleiten. Anschließend können wir zu Abend essen.“
„Okay, klingt gut.“
„Ich zeige dir, wo du schlafen kannst. Nichts Besonderes. Es ist Kevins früheres Zimmer.“
Wren nahm ihre Tasche, folgte Mara durch ein kleines Wohnzimmer, das mit zwei Hundekörben, einer Couch, einem Sessel und einem Fernseher ausgestattet war, und schließlich die Treppe hinauf. „Das ist mein Zimmer.“ Mara deutete nach links, als sie durch den kurzen Flur gingen. „Deins ist das hier.“ Sie deutete nach rechts. „Und dort drüben ist das Bad. Wie ich sagte, es ist nichts Besonderes.“
Wren betrat den Raum und stellte ihre Tasche auf das Bett mit der dunkelblauen Tagesdecke. „Das ist doch prima, Mara. Vielen Dank. Ich bin dir so dankbar, dass du mir so kurzfristig einen Unterschlupf gibst.“
„Für Katherine tue ich das doch gern“, erwiderte sie und fügte schnell noch hinzu: „Und natürlich auch für dich.“ Sie tätschelte Wrens Arm. „Ich ziehe mich schnell um, dann können wir unseren Spaziergang machen.“
Wren ließ sich auf das Bett sinken und wartete. Als Bailey ein paar Minuten später im Türrahmen erschien, klopfte sie auf die Bettdecke. „Na komm.“ Er sprang aufs Bett und ließ sich neben ihr nieder. „Mach es dir nicht zu bequem. Gleich geht es los.“ Bei diesen Worten richteten sich seine Ohren auf. Er sprang vom Bett und drehte sich in der Nähe der Tür im Kreis.
„Kaum zu glauben, dass er schon fast zehn Jahre alt ist, nicht?“, sagte Mara, als sie in langen, locker sitzenden Shorts und einem grünen Oberteil aus ihrem Zimmer kam. Sie beugte sich vor und rieb beide Seiten seines Gesichts. „Mit diesem Hund wollte mein Ex-Mann mir eins auswischen, denn er wusste genau, dass ich kein Haustier haben wollte.“ Sie mäßigte ihre Stimme. „Aber wir haben es ihm gezeigt, nicht, Bailey? Ja, das haben wir. Das haben wir ganz bestimmt!“ Bailey tänzelte an ihrer Seite in die Küche. „Komm, Brewster. Spaziergang!“
Mara nahm zwei Hundeleinen von einem Haken an der Wand und machte sie an den Halsbändern der Hunde fest. „Du kannst Brewster nehmen. Er ist viel besser erzogen.“
Unterwegs mussten sie sich anstrengen, um mit Baileys Tempo Schritt halten zu können. Mara erzählte von ihren Nachbarn. Sie schien jeden zu kennen und wusste von jedem etwas zu berichten. Mr Jones, der mit seinen Katzen Misty und Molly nebenan wohnte, zeigte die ersten Anzeichen von Demenz. Seine Tochter, die in Benton Harbor zu Hause war, wollte ihn in einem Pflegeheim in ihrer Nähe unterbringen. „Keine Ahnung, was dann aus den Katzen wird. Wenn ich die Hunde nicht hätte, würde ich sie nehmen.“ Mr und Mrs Hassan, die mit ihren vier Kindern auf der anderen Straßenseite wohnten, waren aus Syrien eingewandert. „Das Grauen, das diese kleinen Kinder schon gesehen haben, ist unbeschreiblich.“ Manchmal waren die Kinder am Wochenende bei ihr, wenn die Eltern arbeiten mussten. „Sechs Menschen in einem kleinen Haus mit zwei Schlafzimmern“, sagte sie. „Wenn ich das sehe, dann bin ich umso dankbarer für das, was ich habe.“
Während Mara von ihren Nachbarn erzählte, wurde Wren nachdenklich. Sie selbst lebte nun schon fast ein Jahr bei Kit, wusste aber so gut wie nichts über deren Nachbarn.
Mara winkte einem kleinen Mädchen auf einem Dreirad. „Hast du schon mal von den türkisen Picknicktischen gehört?“
„Nein. Aber ich habe einen in deinem Vorgarten gesehen.“
„Das ist so ein nationaler Brauch“, erklärte Mara. „Man streicht den Tisch türkis an und stellt ihn in seinen Vorgarten. Das ist dann eine Einladung an die Menschen, zusammenzukommen. Es gibt kein Programm. Nur einen Ort, wo man zusammensitzen und miteinander reden, essen oder spielen kann.“ Sie lachte. „Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue oder von der Arbeit zurückkomme, dann sehe ich Leute dort sitzen. Sie freuen sich an der Gesellschaft. Es ist wirklich cool, einen solchen Gemeinschaftsort zu haben. Denn so viele Menschen in dieser Straße haben keine Familie in der Nähe.“
Wren blieb stehen, als Brewster an einem Busch das Bein hob.
Mara hielt Bailey an der Leine fest. „Du brauchst, während du bei mir wohnst, nicht dabei mitzumachen. Es ist in Ordnung, wenn du keinen Kontakt zu den Leuten aufnimmst. Aber wundere dich nicht, wenn du wildfremde Menschen am Tisch sitzen siehst.“
Wren lachte. „Ich bin froh, dass du mir eine kleine Vorwarnung gegeben hast.“
„In meinem früheren Viertel wäre so etwas undenkbar gewesen. Mein Ex hätte das verabscheut. Brian war auch nicht begeistert, als ich diesen Tisch aufgestellt habe, aber ich habe ihm gesagt: ‚Hey! Du bist nicht so oft zu Hause. Das ist meine Entscheidung. Aber wenn er auf Urlaub hier ist, zieht er seine Uniform an und hängt mit den Kindern ab. Für sie ist er ein Held. Und das ist er auch tatsächlich. Ich bin stolz auf ihn. Natürlich mache ich mir große Sorgen, wenn er drüben ist, aber ich bin stolz auf ihn.“
„Wo ist er denn stationiert?“
„In Afghanistan. Im nächsten Frühling kommt er hoffentlich zurück, dann ist seine Dienstzeit um. Keine Ahnung, was er dann machen will. Vielleicht aufs College gehen.“ Bailey zerrte so fest an der Leine, dass er würgen musste. „He! Immer mit der Ruhe, mein Junge. Geduld.“ Brewster schnüffelte weiter hingebungsvoll an dem Busch und ließ sich nicht dazu bewegen, weiterzulaufen. „Zieh ihn weg, Wren“, bat Mara. „Sonst stehen wir noch den ganzen Abend hier.“
Brewster reagierte bereits auf ein ganz vorsichtiges Ziehen an der Leine.
„Wie geht es dir denn überhaupt?“, fragte Mara, als sie um die Ecke bogen, in eine Straße, die ganz genau so aussah wie Maras Straße. Kleine Häuser, die eng beieinanderstanden, keine Bürgersteige und alter Baumbestand. „Du hast in kurzer Zeit unglaublich viele Veränderungen verkraften müssen.“
Wren dachte an den kahlen Kardinal, der, wie Kit es ausgedrückt hatte, „das Alte auf einmal und ziemlich unvermittelt abwirft“. Später würde sie Mara vielleicht erzählen, wie sehr dieses Bild sie angesprochen hatte und was Kit über die Stoppelfedern gesagt hatte. Mara konnte das bestimmt nachvollziehen, sowohl die Verletzlichkeit als auch die aufkeimende Hoffnung. „Eigentlich geht es mir ganz gut“, erwiderte sie. „Viel besser, nachdem ich nun weiß, dass es nicht Kit war, die wollte, dass ich gehe.“
Mara stieß einen leisen Pfiff aus. „Mann, diese Sarah. Weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Ich plane ja mit ihr zusammen die Abschiedsfeier für Katherine, und ich kann dir sagen, sie hat wirklich ihren eigenen Kopf. Eigentlich im Blick auf alles.“
Das stimmte. Eine passende Beschreibung von Sarah. „Sie liebt ihre Mutter“, erwiderte Wren großzügig.
„Ja. Aber trotzdem ist es nicht in Ordnung, was sie mit dir gemacht hat.“
Wren wusste nicht, was sie antworten sollte. „Vielleicht bist du nur einfach viel barmherziger als ich“, meinte Mara. „Ich wäre ziemlich aufgebracht.“
„Das war ich auch.“
„Das hast du ziemlich gut verbergen können, als wir miteinander gesprochen haben.“
„Ich glaube, das war noch der Schock.“
„Nun, auf jeden Fall bin ich froh, dass du mich angerufen hast. Wir wollten uns ja diese Woche sowieso zum Abendessen treffen. Jetzt können wir eine schöne altmodische Pyjamaparty feiern. Als ich klein war, habe ich mir das so gewünscht. Aber es hat nie geklappt.“
Jetzt blieb Bailey stehen, um sein Geschäft zu machen. Mara nahm eine Plastiktüte aus ihrer Tasche.
„Kommen deine Enkel manchmal zu Besuch?“
„Nein, Kevins Frau mag nicht reisen, und für Jeremy und seine Familie ist ein Flug von Texas hierher viel zu teuer. Das können sie sich nicht leisten. Und außerdem ist das Leben für sie gerade ein wenig“ – sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen – „anstrengend. Also versuche ich, ihnen den nötigen Freiraum zu geben.“
In ihrer Stimme lag so viel Traurigkeit, und Wren fragte sich, ob das der Grund für die „Auffrisch-Sitzung“ bei Dawn gewesen war.
Mara bückte sich, um Baileys Hinterlassenschaft zu beseitigen, während er voller Inbrunst anfing, im Gras zu buddeln. „Verrückte Welt, nicht? Alle haben irgendwelche Probleme.“ Sie verknotete die Tüte und tätschelte Bailey den Rücken. „Außer dir, du kleines Ungeheuer, nicht? Das Leben ist für dich ziemlich gut.“
Auf dem Rückweg zu Maras Haus lief Bailey tänzelnd voraus. Zwei kleine Mädchen mit langen, im Nacken zusammengebundenen dunklen Locken saßen am Picknicktisch und malten. „Nana, schau!“ Eines von ihnen sprang auf und hüpfte, ein Blatt Papier schwenkend, auf sie zu. Wren nahm Mara Baileys Leine und die Tüte ab. Mara beugte sich vor und umarmte das Kind. „Was hast du denn da, Yasmin?“
„Blumen!“
„Oh, wie hübsch!“
Brewster legte sich ins Gras, und Wren schaute Mara über die Schulter. Das Kind hatte eine dunkelrote Vase und dunkelrote Blumen gemalt. Darauf stand „Für dich“, außerdem mehrere rosafarbene Herzchen oben auf der Seite. Yasmin stellte sich auf die Zehenspitzen. „Das ist für dich!“, flötete sie.
„Woher weißt du denn, dass Dunkelrot meine Lieblingsfarbe ist?“
„Weil das auch meine ist!“ Sie ergriff Maras Hand und ging händeschwingend mit ihr zum Tisch.
„Und was malst du, Amira?“, fragte Mara.
Das andere Mädchen hielt ein Bild von einem blauen Hund hoch. „Bailey.“
„Das ist sehr hübsch geworden, nicht?“ Mara winkte Wren heran und löste beide Hundeleinen. Bailey sprang an Amira hoch und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. „Das ist meine Freundin Wren. Sie ist auch eine Malerin.“
„Möchtest du mit uns malen?“, fragte Yasmin. In ihren großen braunen Augen lag ein herzliches Willkommen.
Mara warf Wren einen Blick zu, der besagte: Das ist ganz dir überlassen.
„Gern, das würde mir gefallen. Danke.“
Yasmin klopfte auf die Bank. „Du kannst neben mir sitzen.“
B
Später am Abend stand Wren am Wohnzimmerfenster und zählte die Leute im Vorgarten.
„Wie viele sind es?“, rief Mara aus der Küche.
„Fünfzehn. Nein, warte.“ Da kamen gerade noch zwei Kinder durch die Einfahrt gehüpft. „Siebzehn.“
„Kinder?“, fragte Mara zurück.
„Nein, Moment.“ Sie zählte die Erwachsenen, die sich um den Tisch scharten. „Fünf Erwachsene, zwölf Kinder.“
Mara trat in den Türrahmen und wischte sich die Hände an ihrer Schürze mit der Aufschrift „Meine Lieblingsmenschen nennen mich Nana“ ab. „Die Erwachsenen werden nicht so viel essen wie die Kinder, das müsste also reichen.“
Wren trat vom Fenster zurück. „Ich glaube, die Nachricht hat sich in Windeseile verbreitet.“
Mara grinste. „Weltberühmte Zimtplätzchen. Zumindest in diesem Viertel. Komm und hilf mir beim Rausbringen und Verteilen.“
Als die beiden mit den Tabletts voller warmer Kekse das Haus verließen, schritten Yasmin und Amira vor ihnen her wie Herolde, die eine berühmte Persönlichkeit ankündigten, während ihre älteren Brüder die anderen Kinder aus der Nachbarschaft aufforderten, sich hinzusetzen und zu warten. „Es gibt Kekse für alle, richtig?“, fragte einer der Jungen Mara.
„Ganz genau, Tarik. Genug für alle.“ Sie stellten die Tabletts in die Mitte des Tisches. „Alle mal herhören“, rief Mara, „das ist Wren. Wren, das sind alle.“
Wren winkte ihnen zu, während alle ihr eine muntere Begrüßung zuriefen.
Yasmin zupfte Mara am Shirt. „Mr Jones muss auch welche bekommen.“
„Recht hast du, junge Dame. Nimm zwei vom Tablett und bring sie ihm. Ich passe auf, dass noch welche übrig sind, wenn du zurückkommst.“
„Hebt noch welche für meine Schwester auf!“, rief Yasmin, während sie zum Haus nebenan lief, in jeder Hand einen Keks. Amira rannte hinter ihr her.
Wren beobachtete die lebhafte Gruppe. Dabei kamen ihr zwei Gedanken in den Sinn. Zum einen wünschte sie, sie hätte einen Skizzenblock und könnte diesen Augenblick festhalten, und der andere war, dass man Augenblicke wie diesen nicht festhalten konnte.
„Kommen Sie zu uns, Wren!“, rief eine Frau mit langen grauen Zöpfen vom Tisch aus. Sie rutschte ein Stück zur Seite, um Platz zu machen.
Als die Frau ihr das Tablett reichte, sah Wren Jesus vor sich, wie er lächelnd sagte: „Nehmt und esst.“
B
Eine Stunde später hatten es sich Mara und Wren auf der Couch gemütlich gemacht. Brewster hatte den Kopf auf Maras Beine gelegt und schlief, Bailey hatte sich auf Wrens Schoß zusammengerollt. Draußen saßen die Nachbarn immer noch am Tisch und plauderten miteinander. „Erzähl mir mehr von diesem Logan“, bat Mara. „Ich weiß nicht so genau, was ich von ihm halten soll.“
„Ich auch nicht“, erwiderte Wren. „Er ist eine seltsame Mischung aus weißem Mittelklasse-Erfolgstyp, der die Finanzen im Blick hat und gewinnorientiert arbeiten will, und gleichzeitig behauptet er, er wolle sich für mehr Gerechtigkeit zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft einsetzen.“ Ganz vorsichtig, um den schlafenden Hund nicht aufzuwecken, griff sie nach ihrem Wasserglas. „Nicht, dass diese Dinge nicht zusammenpassen würden. Aber ich kann einfach nicht vergessen, was er über Kit gesagt hat und dass er den Inhalt des Seminars deprimierend fand. Wie kann man behaupten, Menschen dienen zu wollen, die am Rand der Gesellschaft stehen oder unterdrückt werden, und dann einen Vortrag über Leid deprimierend finden? Ich verstehe das nicht.“
Langsam schüttelte Mara den Kopf. „Nein. Ich auch nicht. Wenn du eine solche Arbeit machst, dann weißt du doch, wie wichtig es ist, zu klagen. Du musst wissen, wie du das Schwierige und Hässliche erkennen und beim Namen nennen kannst. Wie du dich ihm wirklich stellen und es betrauern kannst. Wenn du dazu nicht bereit bist, dann wirst du es nie richtig begreifen.“ Maras Gesichtsausdruck verriet, dass sie aus persönlicher Erfahrung sprach. Obwohl sie nie viel von ihrem Sohn Jeremy erzählt hatte, vermutete Wren, dass es nicht leicht für ihn gewesen war, als Junge mit dunkler Hautfarbe ausgerechnet in Kingsbury zu leben. Und wenn ihr Sohn es schwer gehabt hatte, dann hatte sicher auch Mara gelitten.
„Wenn Logan das wirklich ernst meint“, fuhr Wren fort, „und wenn er Kontakte zu Leuten herstellen möchte, die diese Arbeit bereits tun, dann kannst du ihm bestimmt sehr helfen.“ Durch ihre Arbeit beim Crossroads-Haus und weil sie erlebt hatte, wie es war, als weiße Frau zu einer ethnisch gemischten Gemeinde zu gehören, könnte Mara von unschätzbarem Wert für ihn sein. Falls Logan offen dafür war, diese Hilfe anzunehmen.
„Darüber muss ich erst nachdenken“, erwiderte Mara. „Ich müsste wissen, was er tatsächlich vorhat, bevor ich ihn mit Leuten bekannt mache. Man kann nicht einfach in eine Gemeinschaft von Afroamerikanern hineinplatzen und die Leute bitten, dir zu erzählen, wie es ist, farbig zu sein. Niemand ist verpflichtet, dir seine Geschichte zu erzählen. Wenn er bereit ist, die harte und langwierige Arbeit zu tun, prima. Aber um Beziehungen aufzubauen, sind Vertrauen und Zeit notwendig. Und wenn ein weißer Mann kommt, um zu“ – sie malte Anführungszeichen in die Luft – „,helfen‘, dann ist das an sich schon schwierig genug. Er muss zeigen, dass er bereit ist zu dienen und zuzuhören. Er kann nicht einfach hingehen und die Führung übernehmen. Oder nicht anerkennen, dass bereits gute Arbeit geleistet wird, und denken, nur er wisse, wie man es richtig macht.“ Sie trank einen Schluck von ihrem Pfefferminztee. „So wie du ihn beschreibst, bin ich nicht sicher, dass er begreift, was er, wie er sagt, tun will. Aber wer bin ich, das zu beurteilen? Ich habe schon alles durch.“
Wren beobachtete, wie sich Baileys Brust hob und senkte. Der Rhythmus beruhigte sie. „Bei Logan und mir hat es sofort geknirscht, das ist sicher. Kit ist besser darin, einem Menschen erst einmal Vorschussvertrauen einzuräumen. Ich bin einfach nur wütend.“
„Willkommen im Club“, warf Mara ein. „Neuerdings gibt es vieles, über das man zornig sein kann.“
„Ja, Dawn und ich haben darüber gesprochen.“
„Hat sie dir geraten, ein Wut-Tagebuch zu führen?“
„Nein. Ich versuche es mit einem Dankbarkeitstagebuch, aber manchmal vergesse ich das.“ Hatte sie in den vergangenen Wochen überhaupt etwas eingetragen? Vermutlich nicht.
„Ich versuche auch, so etwas zu führen“, sagte Mara. Sie deutete auf einige Notizbücher auf dem Boden neben dem Sessel. „Das hübsche mit den Blumen ist für Dankbarkeit. Das billige schwarz-weiße ist für die Wut. Die kann ich in großen Mengen kaufen.“
Wren lachte. „Dann schreibst du also einfach auf, wenn du wütend bist?“
„Ja. Man schreibt alles auf und dann ordnet man seinen Zorn auf einer Skala von eins bis fünf ein. Eins steht für ‚leicht verärgert‘, fünf für ‚außer sich vor Wut‘. Und einmal in der Woche liest du dir alle deine zornigen Reaktionen noch einmal durch und schaust, wie oft du aus selbstsüchtigen Gründen zornig geworden bist, zum Beispiel, weil du nicht bekommen hast, was du wolltest, oder weil jemand dich beleidigt hat oder weil dein Zeitplan durcheinandergekommen ist. Und dann siehst du nach, wie oft du zornig geworden bist, weil jemand anders übervorteilt wurde – wenn jemand zum Beispiel nicht bekommen hat, was er brauchte. Und du schaust, wie oft du wegen Ungerechtigkeit zornig geworden bist.“ Sie stellte ihren Becher ab. „Ich sage dir was, normalerweise werde ich viel häufiger wütend wegen Dingen, die mich persönlich betreffen, als wegen Dingen, die andere Menschen betreffen, vor allem, wenn sie nicht zu meinem unmittelbaren Freundeskreis gehören. Es gefällt mir nicht, aber so ist es nun mal.“
In aller Eile ließ Wren die letzten Tage Revue passieren. Sie könnte jede Menge Einträge vornehmen. „Vielleicht sollte ich es auch einmal damit versuchen. Ich erkenne bestimmt dasselbe wie du, dass sich der größte Teil meines Zorns um mich selbst dreht.“
„Wir könnten T-Shirts drucken lassen, wenn du magst“, sagte Mara. „Zornig, aber selbstkritisch.“
Wren lachte und weckte damit Bailey auf. „Oh, entschuldige bitte!“ Sie streichelte seinen Kopf und anschließend seinen Bauch, als er sich streckte und auf die Seite legte.
„Ich weiß, das klingt komisch“, meinte Mara, „aber eines Tages bin ich im Römerbrief auf einen Vers gestoßen, der mich sehr getröstet hat: ‚Gebt Raum dem Zorn Gottes.‘4 Es ist gut, nicht zu vergessen, dass man Gott nichts vormachen kann. Er ist viel geduldiger, als ich es bin. Und viel großzügiger. Dawn erinnert mich immer daran, dass es mir im Grunde nicht um Fairness geht, sondern um Gnade. Es ist nur so schwer, sich Gnade für Menschen zu wünschen, die sie meiner Meinung nach nicht verdient haben.“ Sie lachte leise. „Und das ist ja genau der Punkt, nicht? Niemand von uns hat sie verdient.“
Wren wollte gerade fragen, welche Situationen sie besonders wütend machten, als die Türglocke läutete. Bailey und Brewster sprangen bellend auf. „Hey, Jungs! Schluss!“ Mara spähte durch das Fenster. „Das sind die Mädchen, die ihre Gutenachtgeschichte hören wollen.“
Wren folgte ihrem Blick zur Veranda, wo Yasmin und Amira im Schlafanzug warteten. Jede von ihnen hielt ein Buch und ein Plüschtier in der Hand. „Kommen sie jeden Abend?“
„Nein, meistens nur freitags. Tut mir leid. Ich hätte es dir sagen sollen. Also gut, dann sehen wir uns morgen einen Film an, okay?“
„Natürlich.“
Mara erhob sich und streckte sich. „Du kannst dich uns gern anschließen. Aber wenn du lieber deine Ruhe haben möchtest, dann zieh dich ruhig in dein Zimmer zurück.“
Wren dachte an Zoe und wie sehr sie sich freuen würde, wenn sie regelmäßig am Telefon Geschichten lesen würden, denn das gemeinsame Malen war im Augenblick keine gute Idee. Sie nahm sich vor, ihrer Mutter eine SMS zu schicken und nach einem günstigen Zeitpunkt zu fragen. Dann rutschte sie zur Seite. „Passen wir denn alle vier aufs Sofa?“
„Aber natürlich“, erwiderte Mara. „Die Mädchen nehmen wir auf den Schoß.“