29
Ein letztes Mal noch, sagte sich Kit, als sie am Freitagvormittag auf ihren Computerbildschirm schaute. Ein letztes Seminar, das sie planen und durchführen musste.
Es sollte doch nicht so schwierig sein, die Ziellinie zu überschreiten, zumal sie jetzt einige Tage Zeit zum Ausruhen gehabt hatte.
Mit ihrem Kreuz in der Hand las sie die Verse aus dem Epheserbrief, die bei diesem Seminar im Mittelpunkt stehen sollten, noch einmal durch: „Seid freundlich und hilfsbereit zueinander und vergebt euch gegenseitig, was ihr einander angetan habt, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat, was ihr ihm angetan habt. Nehmt also Gott zum Vorbild! Ihr seid doch seine geliebten Kinder!
Euer ganzes Leben soll von der Liebe bestimmt sein. Denkt daran, wie Christus uns geliebt und sein Leben für uns gegeben hat, als eine Opfergabe, an der Gott Gefallen hatte.“
Liebt, wie ihr geliebt worden seid. Vergebt, wie euch vergeben wurde.
Diese Prinzipien waren einfach zu formulieren und doch so schwer zu praktizieren.
Durch das geöffnete Fenster wehte eine sanfte Brise herein, und Kits Blick wanderte zum Garten; zu dem strahlend blauen Himmel, der einen so deutlichen Kontrast bildete zu dem Kanariengelb, dem Bernstein und dem Goldgelb der Sonnenblumen. Wren wäre bestimmt beeindruckt, dass sie drei verschiedene Gelbtöne benennen konnte.
Sie legte das Kreuz auf ihren Schreibtisch, nahm ihren Sternennacht-Becher und einen Teebeutel vom Regal. Vielleicht sollte sie eine Pause machen und ein wenig abschalten, bevor sie zu ihrem Supervisionstermin mit Russell aufbrach.
Auf dem Weg zur Küche fiel ihr auf, dass Wrens Ateliertür geöffnet war. Ein neues Gemälde stand auf der Staffelei. Kit trat ein und betrachtete den kahlen Kardinalsvogel mit seinem vorstehenden orangefarbenen Schnabel und seinen stumpfen rostfarbenen Federn auf Brust und Flügeln. Zu seinen Füßen lagen schwarze Samenkörner. Viele. Eigentlich, und sie schob ihre Brille höher, um genauer hinschauen zu können, waren sowohl der schwarze Kopf des Kardinals als auch die schwarzen Samenkörner nicht mit schwarzer Farbe gemalt worden. Das war mit Asche gemischte Kohle. Sie erkannte die Technik. Auch bei ihrem Bild von Jesus, dem Angeklagten, hatte Wren sie angewandt.
Da war wohl noch mehr Papier verbrannt worden. Die Asche lag noch in einer Schale auf dem Arbeitstisch. Was immer Wren dazu getrieben hatte, sie hatte dieses verletzliche Wesen mit solcher Würde und Zärtlichkeit gemalt, dass Kit wie gebannt davorstand.
„Hallo“, ertönte die geliebte und vertraute Stimme aus dem Flur.
Kit drehte sich um und lächelte Wren verlegen an. „Du hast mich ertappt. Entschuldige bitte. Ich hätte mir deine Arbeit nicht ohne deine Erlaubnis ansehen dürfen, aber dieser Vogel …“ Sie stellte ihren Becher auf den Tisch und umarmte sie. Drei Tage hatte sie sie nicht gesehen, doch es fühlte sich an, als wären es Wochen gewesen.
„Gefällt es dir?“, fragte Wren.
„Ob es mir gefällt? Es ist absolut fesselnd. Mir fällt kein besseres Wort ein.“
„Danke. Es wird langsam.“
Gemeinsam vertieften sie sich in ihre Arbeit. „Ich bin zwar keine Expertin“, meinte Kit schließlich, „aber ich habe den Eindruck, dass du jetzt sofort deinen Namen daruntersetzen könntest. Es unvollendet zu lassen, würde zum Thema Mauser passen.“
„Ja, vielleicht hast du recht.“
Kit nahm ihren Becher wieder zur Hand. „Ich hatte dich heute Morgen gar nicht hier erwartet. Willst du putzen?“
„Ich wollte es früh hinter mich bringen.“
„Das ist gut. Ich wollte gerade Wasser kochen. Möchtest du zuerst eine Tasse Tee?“
„Nein, danke.“
„Dann komm doch mit mir in die Küche.“ Gemeinsam gingen sie den Flur entlang. „Ich habe gleich ein Gespräch mit Russell, aber ich möchte gern wissen, wie es dir geht. Gibt es etwas Neues?“
„Ja“, erwiderte Wren. „Eigentlich sogar eine ganze Menge.“
Kit zog die Augenbrauen hoch.
„Brooke ist mit Estelle in Kingsbury. Im Haus der Wilsons.“
Kit schnappte nach Luft. „Bist du sicher?“
„Ich habe sie gestern in der Einfahrt gesehen, als ich vorbeigefahren bin. Chris war bei ihnen. Offensichtlich sind er und Brooke jetzt ein Paar. Das erklärt auch, warum er auf meine Nachrichten nicht reagiert hat. Vermutlich hat sie ihm viele Gemeinheiten über mich erzählt.“
Das vermutete Kit auch. Kein Wunder, dass Wren wieder mit Asche malte. „Das tut mir sehr leid!“
„Mara meint, ich soll ihm noch eine Nachricht schicken. Sie ist der Meinung, dies sei meine Chance, Antworten zu bekommen, und dass ich es mir nie verzeihen würde, wenn ich nicht versuchen würde, mit Brooke zu sprechen und Estelle zu sehen. Sie denkt, Gott hätte diese Tür geöffnet, damit ich endlich einen Abschluss finden kann.“
„Und was denkst du?“, fragte Kit, als sie die Küche erreichten.
Wren lehnte sich an die Wand. An der gegenüberliegenden Wand hing Vincents Worn Out. „Ich weiß es nicht. Aber mir ist klar, dass ich erst mal in Ruhe darüber nachdenken muss, ehe ich etwas unternehme.“
„Das ist eine gute Entscheidung“, erwiderte Kit. „Haben die beiden dich gesehen?“
„Nein. Aber jetzt kämpfe ich wie verrückt dagegen an, immer wieder dort vorbeizufahren.“ In ihren Augen schimmerten Tränen. „Sie sieht genauso aus wie Casey. Die gleichen roten Haare. Und als ich sah, wie sie die Arme nach Chris ausstreckte, als ich sah, wie er mit ihr spielte und sie küsste, brach es mir fast das Herz. Denn Casey sollte der sein, der sie aufwachsen sieht. Und ich weiß nicht, ob mir das wie ein Betrug vorkommt, wenn ich einen seiner Freunde mit seiner Tochter zusammen sehe, oder ob ich mich freuen sollte, dass die drei sich gefunden haben, wie auch immer das passiert ist. Ich wünschte nur, ich wüsste mehr. Über alles.“ Sie wischte sich mit der Hand die Wangen ab. „Mara hat recht. Wenn ich mehr erfahren will, dann ist das die beste Gelegenheit dazu. Und vielleicht muss ich nur meinen Stolz und meine Angst ablegen und Chris noch mal eine Nachricht schicken und ihn um ein Treffen bitten. Denn ich weiß, dass ich sie nicht immer wieder von meinem Fahrrad aus beobachten sollte. Und im Netz finde ich nichts über ihre Beziehung.“ Sie lächelte reumütig. „Ich habe schon nachgeschaut.“
Kit schaltete den Wasserkocher ein.
„Ich werde mit den Konsequenzen meiner Entscheidung leben müssen, wie immer sie ausfällt. Das weiß ich. Ich versuche nur herauszufinden, welche Konsequenzen leichter zu ertragen wären.“
Kit lehnte sich an die Küchentheke.
„Ich denke, die Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, was Casey zugestoßen ist, wiegt schwerer als alles andere. Was immer sie über mich denken, sie haben sich ihre Meinung ja schon gebildet. Und wenn ich Chris noch einmal schreibe, dann kann er entscheiden, ob er mit mir reden und wie viel er mir sagen will. Wenn er nicht reagiert, dann habe ich es zumindest versucht. Ja, ich denke schon, dass ich es versuchen muss. Wenn sich mir die Gelegenheit bietet, einen Abschluss zu finden, dann muss ich sie ergreifen.“
Kit rieb mit dem Daumen über den Rand der Arbeitsplatte.
„Du wirst mir nicht sagen, was ich tun soll, nicht?“
Nein. Das würde sie nicht. Aber ihr einen Crashkurs in Sachen Urteilsvermögen zu geben, konnte nicht schaden. „Du hast bereits einen guten Schritt getan, indem du nicht spontan und aus dem Bauch heraus gehandelt hast, Wren. Wenn du einen weiteren guten Schritt tun willst, dann nimm dir noch ein wenig mehr Zeit, um deine Möglichkeiten im Gebet abzuwägen. Warte ab, was in deinem Geist passiert, wenn du dir vorstellst, Kontakt zu Chris aufzunehmen. Achte darauf, ob sich Hoffnung und Frieden einstellen oder ob Aufruhr und Angst stärker werden. Und halte es genauso mit der anderen Möglichkeit. Achte darauf, was innerlich in dir vorgeht, wenn du dir vorstellst, keinen Kontakt zu ihm aufzunehmen und ihn loszulassen. Und dann triff deine Entscheidung. Handle nicht sofort danach, sondern warte ein paar Tage ab. Sieh, ob Frieden und Hoffnung sich verstärken oder weniger werden. Und dann kannst du von da aus weiter vorangehen.“
Wren wirkte nachdenklich. „Aber ich weiß nicht, wie lange Brooke und Estelle in der Stadt sein werden und ob sie überhaupt noch einmal wiederkommen, denn ich weiß ja noch nicht einmal, wann die Wilsons umziehen und wohin. Und wenn es die Möglichkeit gibt, Estelle zu sehen, dann muss ich so bald wie möglich Kontakt zu Chris aufnehmen. Ich habe den Eindruck, dass es dringend ist.“
Kit würde nicht versuchen, ihr das auszureden. Wren musste selbst entscheiden. Es musste ihre Entscheidung sein. „Ich werde für dich beten. Ich werde Gott bitten, dich zu führen und seinen Weg mit Frieden zu bestätigen.“
„Danke. Ich denke, ich weiß bereits, was ich tun muss. Aber ich werde hier zuerst meine Arbeit machen. Und dann sehen, was sich in meinem Inneren auftut, wenn ich ihm eine Nachricht schicke.“
„Das scheint doch ein Plan zu sein.“ Kit holte eine Tüte Milch aus dem kleinen Kühlschrank. „Ich bin bald wieder hier, um an meinen Notizen für morgen zu arbeiten. Hast du schon Pläne fürs Abendessen?“
„Ein Nachbarschaftspicknick.“
Kit überspielte ihre Enttäuschung mit einem fröhlichen: „Das hört sich doch gut an!“
„Ja, Maras Nachbarn sind wunderbar.“ Wren unterbrach sich. „Mara sagt, ich kann noch länger bei ihr bleiben, damit du mehr Zeit für dich hast. Wenn dir das hilft, meine ich.“
„Entscheide so, wie es gut für dich ist, Wren. Ich bin mit allem einverstanden.“ Aber Kits Gedanken und Gefühle waren längst nicht so distanziert, wie ihre Worte vermuten ließen.
Auch das gehörte auf die lange Liste mit Dingen, über die sie mit Russell sprechen musste, dachte sie, als sie sich eine Tasse Tee kochte. Eine halbe Stunde später verabschiedete sie sich. Wren staubte gerade summend Vincents Sämann ab.
B
„Ich habe für Sie gebetet, Katherine“, sagte Russell, nachdem er sie in seinem Büro begrüßt hatte. „Wie geht es Ihnen?“
„Nach meinem öffentlichen Zusammenbruch, meinen Sie?“
„So sehen Sie das?“
Sie lächelte. „Nein. Und die Leute waren sehr freundlich und nachsichtig.“ Sie ließ sich auf ihrem üblichen Platz im Sessel ihm gegenüber nieder. „Aber wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, dass meine Panikattacke gar nicht auf der Liste der Dinge steht, über die ich heute mit Ihnen reden will, bekommen Sie dann einen Eindruck von meiner Woche?“
Seine Augen weiteten sich. „Nun dann. Wir sollten zur Ruhe kommen und anfangen.“
Nach der ausgedehnten Zeit der Stille sprachen sie dann doch nicht über den neuesten Konflikt mit Carol, über Kits Erkenntnisse in Bezug auf ihre Beziehung zu Sarah und darüber, wie sie Wrens Abwesenheit erlebte, womit sie eigentlich hatte anfangen wollen. Vielmehr sprachen sie über Logan und alles, was sie seit ihrem ersten Gespräch in ihrem Büro beschäftigte.
„Er und ich scheinen unterschiedlicher Meinung darüber zu sein, wie sehr das Kreuz im Mittelpunkt der Arbeit stehen sollte und ob man auch das Leid – das Leiden Jesu und das der Menschen – zum Thema machen sollte“, sagte sie. „Und ich wäre tief enttäuscht, wenn ich feststellen müsste, dass er tatsächlich mit der Entscheidung des Kuratoriums zu tun hat, Gayle und Wren zu entlassen. Aber lassen wir diese Dinge jetzt mal außer Acht. Mit seiner Meinung, im New Hope-Zentrum fehle es an Diversität, hat er nicht ganz unrecht, und seine Fragen dazu waren schmerzlich prägnant. Bei allem anderen, was im Augenblick meine Aufmerksamkeit fordert, will ich sicher sein, dass ich mir die nötige Zeit nehme, um intensiv darüber nachzudenken. Das ist tatsächlich ein wichtiges Thema.“ Denn sonst, dachte sie, würde die Gelegenheit zur Weiterentwicklung wieder einmal der Tyrannei des Dringlichen zum Opfer fallen. Und das wollte sie nicht zulassen.
Russell beugte sich auf seinem Stuhl vor. „Was sind Ihre Erkenntnisse dazu?“
Sie nahm sich einen Augenblick Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. „Ich spüre ganz unterschiedliche Reaktionen in mir, von Scham und Schuldgefühlen bis hin zu einer Verteidigungshaltung und Erklärungsversuchen für alles, was ich in New Hope vielleicht vernachlässigt und nicht getan habe. Nicht nur in Bezug auf die Angebote, die wir nicht entwickelt haben, sondern auch in Bezug auf die Leute, die wir nicht bewusst mit einbezogen haben.“
Doch es ging noch weiter, tief ins Persönliche hinein. Kit dachte daran, wie sie – ihr Unbehagen hinter einer Maske aus Freundlichkeit verborgen – Mara gegenübergesessen hatte, als die offen über Hautfarbe und über die Formen von Rassismus sprach, gegen die sie beim Crossroads-Haus ankämpfte. Sie dachte an Logan und daran, wie Gott ihm mithilfe seines afroamerikanischen Kollegen seine eigenen blinden Flecken gezeigt und ihn für Dinge sensibilisiert hatte, über die er wegen seiner Hautfarbe nicht nachzudenken, über die er sich keine Sorgen zu machen und die er nicht zu betrauern brauchte. Auch sie hatte nie über solche Arten des Kampfes nachgedacht.
„Ich möchte dieses Wir in ein Ich abändern“, fuhr sie fort. „Die Angebote, die ich nicht entwickelt, und die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, die ich nicht bewusst mit einbezogen habe in unsere Programme. Ich möchte ganz bewusst die Verantwortung dafür übernehmen. Denn allmählich erkenne ich, dass mein bewusstes Ignorieren der Hautfarbe mich blind gemacht hat. Ganz einfach. Ich habe immer gedacht, ethnische Zugehörigkeit als solche wahrzunehmen sei eine Form von Rassismus. Darum habe ich dieses Thema vollkommen ausgeblendet, nicht nur in meinem persönlichen Leben, sondern auch in den Kursen und Seminaren, die ich in New Hope geleitet habe. Ich habe mich vollkommen auf den einzelnen Menschen konzentriert, nicht auf ungerechte Systeme oder auf Veränderungsprozesse von Gemeinschaften. Und ja, ich weiß, dass das teilweise zu tun hat mit meiner Berufung und meinen Gaben. Aber in all den Jahren des Dienstes habe ich mich nicht für Diversität engagiert oder mich aktiv für Gerechtigkeit eingesetzt. Und das bedaure ich zutiefst.“
Logan hatte Gerechtigkeit als „den alles übertreffenden Weg der Liebe“ bezeichnet, den Weg, vor Gott und den Menschen gerecht zu leben, den Ruf, nicht nur mit Worten zu lieben, sondern mit gelebter Barmherzigkeit, die der Welt Gottes Gerechtigkeit und sein erbarmungsvolles Herz vor Augen führte. Und sie wollte von ganzem Herzen ihr Ja dazu sagen, mit Gott in dieser Hinsicht für sein Reich zusammenzuarbeiten.
„Die Wahrheit, Russell, ist, ich genieße den Luxus, das Privileg, dass ich mich nicht für den Kampf für Gerechtigkeit und Versöhnung von Menschen unterschiedlicher Ethnien zu interessieren brauche, weil ich davon nicht unmittelbar betroffen bin. Ich kann einen Augenblick des Erwachens erleben und meine Sünde bekennen und sie sogar von ganzem Herzen beklagen, aber dann lebe ich weiter wie bisher und brauche nicht mehr darüber nachzudenken. Und das will ich nicht. Wenn meine Reue aufrichtig ist, dann bedeutet das, dass ich meine Richtung ändern muss. Ich bin nur noch nicht sicher, wie.“
In der sich ausbreitenden Stille schien Russell in sich hineinzulauschen. „Mir fällt die Geschichte ein, wie Jesus den Blinden heilt“, bemerkte er schließlich. „Die Heilung, bei der Jesus ihn zweimal berührt.“
Sie schaute ihn an. Mit diesem Bibeltext hatte sie schon lange nicht mehr gebetet. „Das ist eine sehr gute Geschichte als Grundlage zur Meditation für mich. Ich danke dir.“ Ihr deutliches Unbehagen bei ihrem Gespräch mit Mara war in gewisser Weise die erste Berührung dieser Blindheit durch Jesus gewesen. Das Gespräch mit Logan die zweite.
„Manchmal denke ich“, fuhr Russell fort, „dass wir die vorläufigen Phasen eines neuen Erwachens zu schnell als unwichtig abtun. Aber sie sind ein notwendiger Teil des Prozesses.“
Sie atmete langsam aus. Das war eine gute Erinnerung. Ein Wort der Gnade und des Trostes. Aber auch eine sanfte Mahnung an ihren inneren Perfektionismus, der sie veranlassen wollte, vorschnell nach einer Lösung zu suchen, nachdem ihre Erregung über die Konfrontation und Entlarvung abgeklungen war.
„Ich bleibe bei dem Wort ‚vorläufig‘ hängen“, erwiderte sie. „Ich höre es und denke sofort an etwas Unvollkommenes oder an etwas, das vielleicht korrigiert werden muss, weil es nicht vollständig oder fehlerhaft ist. Irgendwie nicht gut genug.“
Er lächelte. „Nun, Sie kennen mich, ich habe ein Faible für Wortstämme. Es stammt von demselben lateinischen Wort wie liminal – an der Schwelle stehend. Vorbereitend.“
Sie hob die Augenbrauen. „Tatsächlich?“ Sie liebte Übergänge. Schwellensituationen. Sie liebte die Möglichkeiten, die sie eröffneten; die freudige Erregung, einen fruchtbaren Raum in Neuland zu bewohnen, in dem es eine Fülle von Möglichkeiten für Wachstum und Veränderung gab.
Vorläufig als vorbereitend zu interpretieren könnte sie wieder neu ausrichten auf die Hoffnung.
Am Abend, als sie mit ihrer angezündeten Christuskerze am Küchentisch saß, las sie die Geschichte des blinden Mannes in Betsaida. „Ja, ich sehe die Menschen; sie sehen aus wie wandelnde Bäume“, erklärte der Mann, nachdem Jesus seine Augen zum ersten Mal berührt hatte. Zumindest gab er seine Begrenzungen ehrlich zu. Viel gefährlicher war es, so zu tun, als könnte man alles deutlich erkennen, obwohl es gar nicht so war.
Sie stellte sich vor, in der Menschenmenge mitzulaufen, warme Körper dicht gedrängt, auf der staubigen Landstraße. Jemand ergriff ihre Hände, und sie gab nach, ließ sich mitziehen, taumelte, als jemand sie von hinten anrempelte. Um sie her ein Chor flehender Stimmen, die Jesus baten, sie zu heilen.
Dann kamen sie abrupt zum Stehen. Die beiden Hände, die die ihren gefasst hatten, ließen los. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen und lauschte auf vertraute Stimmen, suchte nach bekannten Düften, nach der schützenden Deckung derer, die sich jetzt zurückgezogen hatten. Sie war allein zurückgeblieben und wartete.
Nein, nicht allein. Raue Finger legten sich um ihre, und sie spürte, wie sie sich entspannte bei der Fürsorge von jemandem, dessen Griff entschlossen, gleichzeitig aber auch unendlich sanft war. Jesus hatte sie über die staubige Straße geführt, bis der Lärm der Stimmen verstummte und nur noch das Summen der Insekten und der ferne Schrei eines Habichts zu hören waren.
Er ließ ihre Hand los. Sie hob den Kopf und schaute ihn an. „Herr?“
Das Schnalzen seiner Zunge war zu hören, dann spürte sie, wie Feuchtigkeit in ihre geöffneten Augen drang. Hatte er sie gerade angespuckt?
Bevor sie seinen Speichel mit dem Ärmel wegwischen konnte, legte er ihr die Hände auf die Augen. Sie umklammerte fest seine Handgelenke, Jesus in Fleisch und Blut. Er hatte sich nicht damit zufriedengegeben, mit einer körperlosen Stimme zu ihr zu sprechen, sondern hatte ihr das greifbare Geschenk seiner Gegenwart gemacht.
Sie gab sich diesem Gefühl hin. Und auf einmal wich die schwarze Dunkelheit, die Wärme der Sonnenstrahlen und ihr Licht drangen durch seine Finger. Sie blinzelte. Er strich ihr übers Kinn und trat zurück.
„Kannst du etwas sehen, Katherine?“
Seine freundliche Stimme hallte in ihr nach. Sie blinzelte erneut. Die Umrisse seines Gesichts waren noch verschwommen.
Konnte sie ihm die Wahrheit sagen, wie es der blinde Mann getan hatte? Oder sollte sie vorgeben, dass eine Berührung ausgereicht hätte, dass seine Macht ihr bereits gegeben hätte, was sie brauchte, und dass dieses verschwommene Sehen ausreichend wäre? Welcher Impuls würde sie den Versuch unternehmen lassen, die Wahrheit vor dem Einzigen zu verbergen, der alles ganz deutlich sah? Die Furcht, ihn zu kritisieren, dass die Heilung nicht vollständig war? Oder Stolz, der sie davon abhielt einzugestehen, dass sie immer noch nicht klar sehen konnte, nachdem sie vom Sohn Gottes angerührt worden war?
„Kannst du etwas sehen, Katherine?“, fragte er erneut.
Sie schluckte. „Nur ein wenig, Herr. Und ich weiß nicht, wie ich deuten soll, was ich sehe. Oder wie ich darauf reagieren soll.“
Er berührte ihre Augen erneut. „Wache mit mir, Geliebte“, sagte er. „Wache und bete.“