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Sobald Kit vom Gottesdienst nach Hause kam, zog sie Rock und Bluse aus, schlüpfte in Freizeithose und T-Shirt und machte sich ein Sandwich mit Erdnussbutter. In ein paar Stunden würde Wren von Mara zurückkommen, und sie wollte die Zeit nutzen, um die Abschiedskarten zu lesen, die sie gestern nach dem Seminar nicht mehr geöffnet hatte. Sie war einfach zu müde gewesen. „Bei allem anderen, was gerade geschieht“, hatte Russell ihr in ihrer Supervisionssitzung am Freitag gesagt, „müssen Sie die guten Worte, die Ihnen gesagt werden, ganz bewusst auf sich wirken lassen.“ Ja, auch sie habe Schwachstellen, hatte er gesagt, aber es sei wichtig, das Gute, das Gott durch sie getan habe, nicht überschatten zu lassen durch Reue darüber, dass sie bestimmte Dinge übersehen oder Gelegenheiten verpasst habe.
Sie sprach ein stummes Gebet. „Bei allem, was ich gut gemacht habe, danke ich dir für deine Gnade. Bei allem, was ich nicht gut gemacht habe, danke ich dir für deine Gnade.“
Während sie auf ihrer Terrasse ihr Mittagessen aß und ihren Tee trank, ließ sie die Worte der Dankbarkeit und der Ermutigung auf sich wirken.
„Sie haben mir geholfen, die Liebe Gottes tiefer zu erleben.“
„Sie haben mir geholfen zu erkennen, dass ich in seiner Gnade einfach sein darf. Ohne Verurteilung.“
„Ich sage Ja dazu, meinen Schmerz und Zorn vor Gott auszuschütten, ohne Angst vor einer Strafe.“
„Liebe Katherine“, begann der letzte Gruß, „ich war es, die während Ihrer Panikattacke neben Ihnen auf dem Boden gekniet hat.“
Kits Blick wanderte sofort zur Unterschrift. Barb. Eine Gefährtin im Leid. Kein Wunder, dass sie genau gewusst hatte, was zu tun war.
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich miterlebt, wie jemand so zu kämpfen hat wie ich“, schrieb Barb, „und zum ersten Mal in meinem Leben war ich in der Lage, Hilfe zu leisten, weil ich genau wusste, wie sich das anfühlt. Ich konnte ‚verantwortlich umgehen‘ mit dem, was ich selbst erlitten hatte, wie Sie es in Ihrem Vortrag gesagt hatten. Im letzten Frühjahr hatten Sie in einem Seminar über Ihre Probleme mit Ihrer psychischen Gesundheit gesprochen. Das war eine Sache, aber es war etwas ganz anderes, Ihre Kämpfe persönlich mitzuerleben und zu sehen, dass Sie sich nicht dafür schämen. Und dann haben Sie dieses letzte Seminar gehalten, ohne das Bedürfnis zu haben, sich zu entschuldigen. Ich wollte Ihnen sagen, dass mir das Mut gemacht hat. Ich bete dafür, dass Gottes Kraft in meiner Schwäche sichtbar wird, auch in den Schwächen, für die ich mich schäme. Sie haben mir gezeigt, dass das so ist. Danke dafür. Ich hoffe, eines Tages kommen Sie in unsere Gemeinde und sprechen über Anfechtungen dieser Art und wie Gott uns darin begegnet, wie wir darin mit seiner Kraft rechnen können. Und wie wir mit dem Trost und der Hoffnung, die wir empfangen haben, verantwortlich umgehen und davon weitergeben können. Gut gemacht, gute und treue Dienerin. Jetzt ruhen Sie sich mal so richtig aus.“
Kit legte die Grußkarten auf den Tisch. Vincents Sämann stand ihr wieder vor Augen – er streute den Samen aus, ohne zu wissen, wohin dieser fiel oder welche Frucht er wohl bringen würde. Die Ernte war Gnade, mit allen ihren Überraschungen. Reine Gnade.
B
„Ihr seht fantastisch aus, Freunde!“, rief Kayla vorn im Aufenthaltsraum. Sie schwenkte ihren Bastrock, während Don Hos „Lovely Hula Hands“ aus einem Lautsprecher dröhnte. „Und nun die Hände schwenken! Ja, genau so!“
Wren sah zu, wie die Bewohner die Hände hoben und schwenkten, so gut sie konnten, während die Enkelkinder – manche ernsthafter als andere – ihre Hüften kreisen ließen und Kaylas Bewegungen nachahmten. In der Nähe des Lautsprechers versuchte ein ergrauter Ehrenamtlicher in einem Hawaiihemd und mit einer Girlande aus roten Plastikblumen um den Hals, beim Ukulelespielen mit dem Rhythmus der Aufnahme mitzuhalten. Vor lauter Konzentration fuhr er sich ständig mit der Zunge über die Lippen.
„Und jetzt die Finger bewegen!“, rief Peyton. „Gut! Wunderschöne Hula-Hände. Schaut zu Kayla, sie macht es vor!“
Wren ging näher zu Mr Kennedy in seinem Rollstuhl. Er versuchte, seine zitternden Arme auszustrecken. Sie nahm seine Hand und half ihm, vorsichtige Bewegungen zu machen. Das Lied verklang, aber er ließ ihre Hand nicht los. Er zitterte so stark, dass ihr ganzer Arm bebte.
„Jetzt könnt ihr euch erst mal richtig selbst applaudieren“, sagte Kayla und klatschte. „Das war spitze!“
Wren hob seine Hand im Siegeszeichen, als ein bekannter Beat ertönte und ein Saxofon zu spielen begann.
„Ja“, rief Peyton in die Musik hinein, „und hier ist einer von unseren Lieblingshits. Auf geht’s, lasst uns twisten! Lasst die Schultern kreisen. Ihr wisst ja, wie wir das machen. Genau so, Dorothy, zeigen Sie, wie das gemacht wird!“
Teri, die mit aufgesetztem Lächeln neben ihrer Mutter saß, kämpfte sichtlich gegen die Tränen an, während Mrs Whitlock mit den Schultern zuckte.
Mauser. So viel Mauser.
Mit einem stummen Gebet für Mutter und Tochter ließ Wren den Blick zu Peyton zurückwandern, die den Kindern zuflüsterte, wann sie stehen und wann sie sich wieder drehen und dabei immer mehr in die Knie gehen sollten. Vorne im Raum tanzte ein Mann vom Sicherheitsdienst mit Audrey durch den Saal. Mehrere Bewohner klatschten im Rhythmus und schienen sich zu wünschen, sie könnten aus ihren Rollstühlen aufspringen und den Kindern zeigen, wie das gemacht wurde.
„Take me by my little hand“, sang Chubby Checker.
Wie als Antwort auf diese Worte drückte Mr Kennedy Wrens Hand. Wren beugte sich zu ihm hinunter. „Sollen wir ein wenig mit dem Rollstuhl twisten?“
Er schluckte, bevor er antwortete: „Gern.“
„Gut, dann löse ich jetzt die Bremse.“ Er ließ ihre Hand los, während sie sich davon überzeugte, dass seine Füße fest auf den Fußstützen standen. Dann zog sie ihn rückwärts von der Gruppe weg und begann den Rollstuhl nach links und rechts und im Kreis herumzuwirbeln. Die Blumengirlande um seinen Hals, die sie mit ihm zusammen gebastelt hatte, flog hin und her.
„And go like this“, sagte er und lächelte.
B
Er wolle nicht an einer Party teilnehmen, hatte Mr Page zu Wren gesagt, als sie im Heim angekommen war. Warum sollte er sich Erinnerungen an all das, was er verloren hätte, aussetzen? Oder was er nie gehabt hatte? „Und dann erst der Lärm!“, hatte er gesagt. „Es ist schon schlimm genug, dass ich mir das in meinem Zimmer werde anhören müssen.“
Wren wartete, bis die Partygäste sich über ihre Eisbecher hermachten, bevor sie Vanilleeis in zwei Schalen gab und über das eine heiße Karamellsoße und über das andere Ananassoße goss.
„Na, hast du Hunger?“, neckte Kayla sie, die neben sie getreten war.
Wren grinste. „Ich bringe das zu Mr Page. Er kann sich aussuchen, was er möchte.“
„Lass dich nicht von Greta erwischen. Sie hat ihm gesagt, er bekäme kein Eis, wenn er nicht wenigstens für kurze Zeit bei der Party auftauchen würde.“
Wren verdrehte die Augen. „Das ist aber ziemlich hart, findest du nicht? Ich spiele die Unwissende, falls ich ihr zufällig begegne. Oder ich sage ihr, ich hätte mich nicht entscheiden können, welche Sorte ich möchte.“
Kayla lachte. „Viel Glück.“
Wren war nicht sicher, ob sie nun Greta oder Mr Page meinte. Vielleicht beide.
Die Tür stand einen Spalt offen, als sie beim Zimmer von Mr Page ankam. Vermutlich hatte Greta darauf bestanden. „Klopf-klopf“, rief sie, während sie seine Bilder betrachtete, die neben seinem Erinnerungskasten hingen. Entweder hatte er sie noch nicht bemerkt, oder er hatte beschlossen, keine Einwände zu erheben.
Mit dem Ellbogen stieß sie die Tür auf. Mr Page saß angezogen in seinem Sessel und starrte auf die geschlossenen Jalousien. „Ich bringe Schmuggelware, Mr Page.“
Bei diesen Worten drehte er sich langsam zu ihr um. „Ah. Nicht die Art, die ich gedacht hatte. Schade.“
Sie stellte die Schalen auf seinen Tabletttisch. „Ich esse nicht beide. Welches möchten Sie?“ Er würdigte die Schalen mit keinem Blick. „Heiße Karamell- oder Ananassoße?“, fragte sie. „Sie dürfen wählen.“
„Vergessen Sie es!“, erwiderte er. „Ich werde gar nichts auswählen.“
Da alle Überredungsversuche bisher keine Wirkung bei ihm gezeigt hatten, beschloss sie, die innere Mahnung „Widersprich nie einem Lehrer“ zu ignorieren. „Es wäre unhöflich, wenn Sie mich zwingen, ganz allein zu essen, Mr Page. Entscheiden Sie sich, nicht unhöflich zu sein.“
„Ah“, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns, „Sie appellieren an meine schon lange verlorene Ritterlichkeit. Clever. Also dann, Ladies first.“
„Mögen Sie Ananas?“
„Nein.“
Sie schob ihm die Schale mit der Karamellsoße hin. „Soll ich Ihnen eine Serviette ins Hemd stecken?“
„Wenn Sie meinen.“
Als sie zum Schrank ging, fiel ihr Blick auf den Mülleimer in der Nähe seines Tabletttischs. Auf einem zerknüllten Blatt Papier waren gezielte Striche gezeichnet. Es ähnelte einer Kinderzeichnung, ein paar verwackelte horizontale und vertikale Linien in der Form eines Hauses. Oder einer überdachten Brücke.
Tränen traten ihr in die Augen. Auch wenn er die Zeichnung weggeworfen hatte – dass er sich überhaupt darangemacht hatte, war ein großer Sieg. Der erste von vielen, hoffte sie.
Wren tat so, als hätte sich ihr Schnürriemen gelöst, und kniete sich neben den Papierkorb, mit dem Rücken zu ihm. Unbeobachtet schnappte sie sich die Zeichnung und steckte sie in die Tasche, bevor sie aufstand, um die Serviette zu holen.
„Sie haben den ganzen Spaß bei der Party verpasst“, sagte sie, während sie die Serviette unter seinem frisch rasierten Kinn feststeckte.
„Gott sei Dank“, erwiderte er.
Sie reichte ihm einen Löffel und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Ich habe einige Kinder gezeichnet, zumindest die, die lange genug still gehalten haben.“ Sie hatte auch Teri mit ihrer Mutter gezeichnet, beide mit ihren Blumenkränzen. Teri hatte sich bei ihr bedankt. Überschwänglich.
„An einem Ort wie diesem ist es kein Problem, Modelle zu finden, die sich nicht bewegen“, sagte er. „Sogar dann, wenn sie sich gern bewegen würden.“
Sie lachte. „Da haben Sie vermutlich recht. Viele Gelegenheiten zum Üben.“ Wenn sie es recht bedachte, hatte Vincent viele seiner frühen Skizzen in einem Armenhaus für ältere Menschen in den Niederlanden gezeichnet, auch die Skizze mit dem Titel Worn Out, die Kit so liebte. Die Bewohner hatten ihm gern geholfen und waren bereit gewesen, in den unterschiedlichsten Kostümen zu posieren, die sich in Vincents Umgebung und Themen einfügten.
Sie verteilte die Ananassoße auf ihrem Eis und grub den Löffel hinein. Mit mühevoller Langsamkeit gelang ihm dasselbe mit seiner Schale. Das Eis wäre vermutlich zu einer cremigen Masse zerschmolzen, bevor er damit fertig war, aber sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen, indem sie ihm Hilfe anbot. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, den ersten Löffel in den Mund zu stecken, dann leckte er die warme Soße vom Löffel ab, und ein fast unmerklicher Ausdruck der Zufriedenheit trat auf sein Gesicht. Vermutlich merkte er gar nicht, dass man ihm den Genuss ansah.
Sie würde ihn ganz bestimmt nicht darauf ansprechen.
„Sie tragen heute gar nicht Ihre Uniform.“
Sie schaute an ihrer Bluse und dem Blumenkranz hinunter. „Ich arbeite heute nicht.“
„Und warum sind Sie dann da?“
„Weil ich gern hier bin. Auch wenn das für Sie vielleicht schwer zu verstehen ist.“
Er schnaubte. „Sie haben die Freiheit zu wählen und entscheiden sich hierfür?“
„Ja.“
„Verstecken Sie sich vor etwas?“
„Entschuldigung?“
„Verstecken Sie sich vor jemandem oder etwas, Wren? Sind Sie deshalb hier?“
Sie nahm einen weiteren Löffel Eis. „Als ich anfing, hier zu arbeiten, ja. Ich glaube, das war tatsächlich so.“ Sie steckte ihren Löffel in den Mund und leckte ihn ab. Da er eine konkrete Frage gestellt hatte, beschloss sie, eine konkrete Antwort zu geben. „Mein bester Freund ist gestorben. Casey Wilson. Erinnern Sie sich noch an ihn? Er hat zusammen mit mir Ihren Kunstunterricht besucht, und Sie haben ihn einmal überredet, bei einem Theaterstück der Schule auszuhelfen. Die Außenseiter.“
Er schien zu überlegen.
„Rote Haare“, fuhr sie fort, „dünn, Sommersprossen. Hat eigentlich immer den Klassenclown gespielt.“
„Casey“, wiederholte er. „Ja, ich erinnere mich.“ Er schaute sie verblüfft an. „Er ist gestorben?“
„Im vergangenen Dezember. Selbstmord, glauben wir, aber wir sind nicht sicher.“
„Das tut mir leid.“
Bevor sie überlegen konnte, erzählte sie Mr Page alles: von ihrem langen Kampf gegen Depressionen und Angstzustände, ihrer abgebrochenen Karriere als Sozialarbeiterin, ihrem Aufenthalt in einer psychosozialen Klinik, ihrer Trauer um Casey, ihrem harten Kampf um Genesung, ihrer Dankbarkeit für Vincent und die Kunst. Allerdings sagte sie nichts von der Sache mit Estelle. Das war noch zu frisch. Zu kostbar, um es mit anderen zu teilen.
Er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Seine konzentrierte Aufmerksamkeit, die seiner Schale und seinem Löffel galt, machte es leichter für sie, ihm das alles anzuvertrauen.
„Das Alter hat kein Monopol auf Leid, Verluste oder Ängste“, sagte er leise, nachdem sie ihm ihre Geschichte erzählt hatte. „Zitat von Wren Crawford.“
Sie war erstaunt, dass er sich das gemerkt hatte. „Vincent schrieb über Gefährten im Leid“, sagte sie, „und Kit hat mir geholfen zu erkennen, dass Solidarität den Schmerz zwar nicht wegnimmt, aber hilft, ihn zu ertragen.“ Eines Tages würde sie ihm vielleicht erzählen, was sie über Jesus und seine Solidarität im Schmerz erkannt hatte. Aber nicht heute.
Er legte den Löffel aus der Hand und hob die Schale an seine Lippen. Geschmolzenes Eis lief ihm über die Lippen.
„Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern.
Die eine Hälfte seines Mundes verzog sich zu einem leichten Lächeln, als er die leere Schale auf das Tablett zurückstellte. „Wem sollte ich es erzählen?“
Sie wischte ihm sanft das Kinn ab, nahm die Serviette ab und legte sie neben die Schale. „Ich habe mich für die Stelle der Koordinatorin der Ehrenamtlichen beworben. Audrey meint, ich hätte eine realistische Chance, sie zu bekommen.“
„Ich würde meinen, Sie sind überqualifiziert.“
„Vielleicht, aber ich habe ja auch die Putzstelle bekommen.“ Sie faltete die Hände im Schoß. „Ich denke, das alles war jetzt eine sehr lange Antwort auf Ihre Frage, ob ich mich hier verstecke. Aber wenn ich den Job bekomme, dann ist das vielleicht ein Anfang, um einige meiner Talente wieder einsetzen zu können.“
Er blickte sie lange an. „Sie haben gar nicht damit aufgehört, sie einzusetzen“, meinte er schließlich. „Kapiert?“
Sie schmunzelte und legte ihre Hand auf seine, die auf dem Tabletttisch lag. „Ja“, erwiderte sie. „Kapiert.“
B
Als Wren um kurz nach siebzehn Uhr die Haustür öffnete, legte Kit gerade Kekse vom Backblech auf ein Abkühlgitter.
„Das riecht aber gut hier“, rief Wren, stellte ihre Reisetasche ab und zog die Schuhe aus. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Kit schon einmal Kekse gebacken hatte. „Gibt es einen besonderen Grund?“
„Ein Willkommensgruß für dich. Und ein Probelauf für ein Versprechen, das ich Morgan gegeben habe.“
Wren drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Erdnussbutterkekse! Lecker.“
„Erst mal abwarten.“ Kit schaute durch das Fenster zur Einfahrt. „Hat Mara dich nach Hause gebracht?“
„Ja. Ich soll dich grüßen und dir sagen, dass sie sich auf deine Abschiedsfeier freut.“
Kit deutete auf den Blumenkranz, den Wren immer noch um den Hals trug. „Wie ist eure Party gelaufen?“
„Gut. Die meisten Bewohner hatten ihren Spaß, glaube ich. Für manche der Angehörigen war es allerdings schwierig.“
„Das kann ich mir vorstellen. Es ist nicht leicht, an das erinnert zu werden, was man verloren hat, wenn man nicht sehen kann, was man gewonnen hat.“ Kit legte den Pfannenwender ins Spülbecken und schaltete den Backofen aus. „Was wir vermissen, was wir betrauern – das alles spricht zutiefst davon, wen und was wir geliebt haben.“
Insgeheim kostete Wren noch einmal die Begegnung mit Estelle aus, spürte das Gewicht ihres Kopfes auf ihrer Schulter und die Zartheit ihrer kleinen Hand, die ihre Wange berührte, bevor sie eine Strähne von Wrens Haaren umklammerte und daran zog. „Nicht an den Haaren ziehen, Estelle“, hatte Brooke sie ermahnt, und Wren hatte Angst gehabt, sie könnte sie ihr aus dem Arm nehmen. Aber Brooke ließ sie bei ihr. „Sie mag dich“, sagte Mara, als Estelle Wren in die Augen schaute, und Brooke widersprach nicht. Estelle streckte die Hand aus und berührte ihre Lippen, und Wren küsste ihre Finger, bevor sie sie widerstrebend ihrer Mutter zurückgab. Sie wollte Estelle lieber selbst abgeben, bevor sie ihr weggenommen wurde.
Kit inspizierte die Kekse. „Du kannst gern einen probieren, wenn sie abgekühlt sind. Micha war immer mein Probeesser, wenn ich gebacken habe, was nicht so oft vorkam. Aber diese Kekse mochte er.“
„Ich habe immer für meine Großmutter probiert“, sagte Wren. „Ich habe es geliebt, mit ihr in der Küche zu sein.“ Sie stellte sich vor, wie Oma die Madeleines aus dem Backofen holte. Du musst sie essen, solange sie noch heiß sind, hatte sie immer gesagt. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zuerst an den Tisch zu setzen. Sobald Oma die leckeren Küchlein aus der Form genommen und mit Puderzucker bestreut hatte, nahmen sie den ersten Bissen gleich an der Küchentheke, und der Dampf des heißen Gebäcks mischte sich mit ihrem zufriedenen Seufzen.
„Ich wette, du bist bei Mara gut versorgt worden. Sie ist eine hervorragende Bäckerin.“
„Ja. Sie hat sich in ihrer Nachbarschaft einen Ruf erworben. Die Kinder nennen sie nur Nana.“
„Sie hat sich eine gute Gegend für ihre Talente ausgesucht“, meinte Kit, und Wren stimmte ihr zu.
„Ich hoffe, ich sehe euch wieder“, hatte Mara zu Brooke gesagt, bevor sie das Auditorium verlassen hatten.“ Nicht „wir“. Ich. Wren war nicht sicher, ob es eine bewusste Entscheidung war, diese Hoffnung im Singular zu formulieren. Aber Brooke hatte nicht irritiert gewirkt, als sie erwiderte: „Ganz bestimmt wirst du uns wiedersehen.“ Singular: du. Aber wenn Mara eine Beziehung zu Brooke aufbaute …
Nein, dachte Wren. Stopp. Kein Stalking mehr. Sie würde nicht mehr versuchen, sich Informationen zu beschaffen, die ihr nicht freiwillig angeboten wurden. Das würde eine neue geistliche Übung auf ihrem weiteren Weg sein. Mit Gottes Hilfe könnte sie das schaffen. Doch im Augenblick sollte diese einzigartige, unersetzliche Umarmung als Geschenk genügen.
„Ich hoffe, meine Freundin Wren wird mich mal wieder in den Gottesdienst begleiten“, hatte Mara beiläufig zu Brooke und Chris gesagt. Chris hatte zugestimmt: „Ja, sicher.“ Und Brooke hatte nicht widersprochen. Also vielleicht …
Oder vielleicht auch nicht. Es war nicht ihre Aufgabe, zu manipulieren oder zu kontrollieren. Sie musste einfach nur weitergehen, und zwar in Richtung Freiheit. Und Schritt für Schritt ihr nächstes Ja zu Gott sagen, wie immer das aussehen mochte.
„Du wirkst sehr nachdenklich“, beobachtete Kit.
Wren riss sich zusammen und kehrte zurück in die Gegenwart. „Ich habe dir viel zu erzählen. Wäre es seltsam für dich, wenn wir die Christuskerze anzünden und dabei Kekse essen würden?“
Kit lachte. „Gottes Gegenwart zu suchen, wenn wir feiern – das klingt perfekt!“