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Es bot sich nicht an, den Tag freizunehmen, dachte Kit am Montag auf dem Weg zum New Hope-Zentrum. Je eher sie die Sachen aus ihrem Büro zusammenpackte, desto eher könnte Wren gründlich sauber machen und den Raum für Logan vorbereiten. Früh am Morgen hatte er ihr in einer Mail für ihr Gespräch gedankt und ihr mitgeteilt, dass er die Stelle angenommen habe und sich darauf freue, sie nach ihrer Ankunft in der Stadt Nicki und den Kindern vorzustellen.

Gayle saß bereits an ihrem Schreibtisch, als Kit ins Büro kam. „Du hast gebetet, nicht, Katherine?“

Kit streifte ihre leichte Strickjacke ab und hängte sie sich über den Arm. „Konntet ihr die Hochzeit genießen?“

„Die Hochzeit war wundervoll. Wir haben den Tag alle sehr genossen.“ Gayle drehte sich mit ihrem Schreibtischstuhl um. „Aber ich spreche von der Stelle.“

„Du hast bereits eine neue Stelle?“

„Nein! Die Stelle hier.“

Kit blickte sie verwirrt an.

„Du weißt es noch gar nicht, oder?“, fragte Gayle. „Bill hat mich heute Morgen angerufen. Logans Frau wird die Büroarbeiten wohl doch nicht übernehmen können, und er hat mich gefragt, ob ich bereit sei, doch weiter hier zu arbeiten. Er meinte, ich hätte immer gute Arbeit geleistet und es würde ihnen sehr helfen, wenn ich bleibe.“

„Gayle, das ist wunder–“

„Ja, nicht? Ich dachte mir, dass du vielleicht für ein Wunder oder so etwas gebetet hast.“

„Ich habe Gott gebeten, dir alles zu geben, was du brauchst“, erwiderte Kit mit einem Lächeln, „aber ich bin nicht ins Detail gegangen.“ Gut gemacht, Logan, dachte sie. Gut gemacht, Nicki und Logan. Und auch das Kuratorium. „Ich freue mich sehr für dich, Gayle.“

„Danke. Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Obwohl ich weiß, dass es nicht dasselbe sein wird, für ihn zu arbeiten. Womöglich ist er nicht so geduldig wie du.“

Kit tätschelte ihr die Schulter. „Sei einfach ehrlich zu ihm. Sag ihm, was du brauchst, und dann sieh zu, was er macht.“ Erst nachdem sie bereits durch den Flur ging, wurde ihr klar, dass sich das auch auf Gott beziehen ließ.

Langsam ging sie an Vincents Bilder vorbei: Sämänner, Erntearbeiter, Weizenfelder und Garben. Jedes einzelne war ein visuelles Gleichnis. Sie könnte Logan eine Mail schicken und fragen, ob die Drucke hängen bleiben sollten. Sie könnte ihn beruhigen und schreiben, sie sei bestimmt nicht beleidigt, wenn er sie nicht mehr haben wolle. Ihr wäre nur daran gelegen, dass sie ein gutes Zuhause bekämen.

Vor dem Bild von einem Mann und einer Frau, die in der Mittagszeit ausgestreckt an einem Heustapel lehnten, blieb sie stehen. Ihre Sicheln lagen neben ihnen, das Vieh graste zufrieden an ihrem Wagen. Falls Logan Wertschätzung für Vincents Werk lernen wollte, dann sollte sie ihm vielleicht dieses hier ans Herz legen. Mittagsrast. Mitten beim Pflanzen, Ruhe. Mitten in der Ernte, Ruhe. Warte nicht, bis du erschöpft bist, würde es ihn mahnen. Und ruht gemeinsam aus.

Ihr Handy vibrierte und zeigte eine Nachricht von Wren an. Bill bietet mir meinen Job wieder an.

Kit wählte ihre Nummer. „Wirklich? Was hast du gesagt?“

„Ich habe ihm gesagt, ich würde darüber nachdenken. Aber ich habe das Gefühl, dass es an der Zeit ist, weiterzuziehen. Falls ich die Stelle der Koordinatorin bekomme, könnte ich sowieso nicht mehr in New Hope weiterarbeiten.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich werde ihm für das Angebot danken, aber es nicht annehmen. Es klang nicht so, als bräuchten sie mich ganz dringend. Sie schienen nur nicht zu wollen, dass ich ohne Arbeit dastehe.“

Gut gemacht, Logan. Auch hier.

Nach dem Anruf ging Kit hinüber zu dem Bild vom Sämann, vor dem sie vor ein paar Wochen meditiert hatte. Ihr Blick wanderte zuerst zu seiner geöffneten Hand und dann zu den Samenkörnern, die auf den mit Farbe durchzogenen Boden gefallen waren. Pink. Lavendel. Immergrün und Dunkelblau. Braun – oder war das Gold? Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können. Die Samen waren dunkel, blau oder vielleicht schwarz, einige von demselben Gold durchzogen, das sich auch auf dem Boden fand. Und bildete sie sich das nur ein? Ein paar der Samenkörner sahen aus wie Tränen. Zeilen aus einem Lieblingspsalm fielen ihr ein, und sie flüsterte sie als Gebet. „Mögen alle, die mit Tränen säen, mit Freuden ernten. Mögen alle, die weinend den Samen zur Aussaat tragen, mit Jubel ihre Garben nach Hause bringen.“

Sie schloss die Augen und sah die Gottesdienstbesucher in der Kirche ihrer Kindheit vor sich, die voll Freude ein altes Heilslied sangen, das sie seit Jahren nicht mehr gehört und an das sie auch lange nicht mehr gedacht hatte. „Wir gehen mit Tränen, wir säen für ihn. Unser Geist ist oft betrübt, denn so viel fällt dahin. Wenn das Weinen vorbei ist, heißt er uns willkommen. Und voll Freude bringen wir unsere Garben ein.“

Ruhe jetzt aus, geliebte Tochter, hörte sie den Heiligen Geist flüstern, und komm jubelnd heim. Deine Arbeit hier ist getan.

Sie hängte sich ihre Strickjacke über die Schulter und machte sich summend auf den Weg zur Kapelle.

B

Der Text war in Ordnung, fand Sarah, aber die Melodie zu kitschig. Sie spielte die erste Strophe auf dem Klavier und stöhnte.

Zach blickte von seiner Zeitung hoch. „Was ist los? Ich finde, das klingt gut.“

„Das ist aus einer der alten Folgen von Unsere kleine Farm. Und jetzt möchte Mama, dass wir alle das bei ihrer Verabschiedung singen.“ Sie spielte die Melodie des Refrains und übertrieb dabei den schwungvollen Rhythmus.

Er lächelte. „Das hält niemanden auf den Stühlen.“

„Du kannst den Zug durch den Saal ja anführen.“

„Sie will, dass wir durch den Saal ziehen?“

„Nein. Das sollte ein Scherz sein. Sie will nur, dass wir singen. Und da sie sich für die ganze Feier sonst nichts anderes gewünscht hat, werde ich ihr diesen Wunsch erfüllen.“ Jess und Morgan müsste sie auf jeden Fall vorwarnen. Begeistertes Mitsingen, kein Verdrehen der Augen. „Mama sagte, sie hätte schöne Erinnerungen daran, wie sie das mit ihrer Großmutter gesungen hat, und das Thema vom Säen und Ernten passt. Ich wünschte nur, es hätte eine andere Melodie.“

„Ja, aber ich wette, viele der älteren Gäste kennen es, und die Klassiker sollte man nicht verändern.“

Nein, das sollte man nicht, dachte sie. Aber sie musste daran denken, wie oft ihre Mutter sich im Laufe der Jahre über die modernen Lobpreislieder beklagt hatte. Sie würden sich ständig wiederholen. Doch in diesem Refrain hieß es nur: „Wir bringen unsre Garben, wir bringen unsre Garben, bringen sie mit Jubel, bringen Garben ein.“ Und immer wieder dasselbe.

Sie las die Seite durch, die sie aus dem Netz ausgedruckt hatte. Der Text beschrieb sehr gut die Arbeit, die ihre Mutter getan hatte, das musste sie zugeben: aussäen – am Tag und Abend, im Sommer und Winter, im Sonnenschein und an trüben Tagen. Sie hatte Samen der Freundlichkeit ausgestreut, im Auftrag ihres Herrn. Und jetzt war es an der Zeit, die Ernte und den Abschluss dieser Arbeit zu feiern.

Sarah spielte den Vers erneut und legte ihn schließlich zur Seite. „Ich denke, das reicht“, sagte sie. „Alles andere ist vorbereitet.“ Wren hatte die Tische und Stühle in der Kapelle und die Büfetttische im Aufenthaltsraum bereits aufgebaut. Gayle hatte den Raum mit Lichterketten und Seidenblumengestecken von der Hochzeit ihres Sohnes dekoriert. Das Tandem von Wren und die beiden Helme, die Sarah gekauft hatte, standen im Vorratsraum versteckt und warteten darauf, überreicht zu werden.

Sarahs Blick hing an den Noten. Nachdem sie das Video mit den Grußbotschaften nun nicht bei der Verabschiedungsfeier zeigen wollten, wäre genügend Zeit für weitere Lieder. Bisher hatte sich ihre Mutter nur ein Lied gewünscht, aber sie könnten doch auch noch andere singen. Eine schöne Art, sie zu ehren, nicht nur in ihrer Liebe zur Musik, sondern in ihrem Wunsch, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

Gut. Beschlossen. Sie würde Mama bitten, noch zwei weitere Lieblingslieder auszusuchen.

„Oma ist da!“, rief Morgan, während sie die Treppe heruntersprang und zur Haustür lief. Anscheinend hatte sie ihren Wagen von ihrem Fenster aus gesehen.

Sarah erhob sich von der Klavierbank und folgte Morgan nach draußen, um ihre Mutter zu begrüßen.

„Hallo, meine Süße!“, sagte Kit und umarmte ihre Enkelin in der Einfahrt. „Ich glaube, seit deinem Geburtstag bist du noch ein Stück gewachsen.“

Morgan richtete sich noch höher auf und zupfte am Saum ihres Tops. „Vielleicht ein klein wenig.“

„Hallo, Mama.“ Auch Sarah umarmte Kit. „Ich bin so froh, dass du da bist.“

„Ich bin auch froh, hier zu sein.“ Aus dem Auto holte sie eine runde Keksdose, auf der eine verschneite Landschaft mit einem Pferdeschlitten zu sehen war.

Sarah lachte. „An die erinnere ich mich noch! Du hast sie aufgehoben?“

„Ich habe nur die beiden, die andere Möglichkeit wäre die mit den Weihnachtssternen gewesen. Das erschien mir einfach etwas festlicher als einfache Tupperdosen. Vor allem für eine Pyjamaparty.“ Sie reichte Morgan die Blechdose und öffnete die hintere Autotür.

„Ich nehme ihn schon, Mama.“ Sarah holte einen kleinen Koffer und einen Kleidersack aus dem Auto. „Ist das alles?“

„Ich finde, das ist mehr als genug für eine Nacht, meinst du nicht? Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich bei der Feier tragen soll, darum habe ich ein wenig Auswahl mitgebracht. Ich dachte, die Mädchen könnten mir bei der Entscheidung helfen.“

„Jess ist die Expertin für Mode“, meinte Morgan.

Ihre Mutter lachte. „Es gibt nicht viel Mode, aus der ausgewählt werden kann, Schatz. Ich will nur nicht komisch aussehen.“

„Das tust du doch nie, Oma.“ Morgan hakte sich bei Kit unter und ging mit ihr zum Haus.

„Kann ich dir noch irgendwie helfen, Sarah?“, fragte Kit, nachdem sie Zach und Jess auf der Veranda umarmt hatte.

„Nein, komm einfach rein und leg die Füße hoch, Mama. Du hast jetzt doch Zeit, zu entspannen und zu empfangen.“

„Das kann ich gern tun“, erwiderte sie lächelnd.

Zach griff nach den Tüten. „Ich trage die schon mal hoch. Und wie wäre es, wenn ich in einer halben Stunde den Grill anwerfe?“

„Perfekt“, erwiderte Sarah.

„Komm, sieh dir diese Fotos an, Oma“, rief Morgan von der Couch aus.

„Lass sie sich doch erst mal hinsetzen und ankommen“, mahnte Jess. „Du brauchst sie doch nicht sofort mit solchen Dingen zu bombardieren.“

„Ist schon gut, Jess. Ich bin doch gekommen, um mich mit den Dingen bombardieren zu lassen, die du mir zeigen möchtest.“ Kit stellte ihre Handtasche ab und ging zu Morgan, die die Familienfotos von Linda ausgebreitet hatte.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich aussehe wie Onkel Micha.“

Sarah sah, dass ihre Mutter feuchte Augen bekam, als sie sich über die Fotos beugte. „Das stimmt, Schatz. Du siehst ihm wirklich ähnlich.“ Sie nahm ein Foto in die Hand. „Ah, da ist Micha mit seinen Steinen.“ Sie strich langsam mit dem Finger über das Foto, ein verletzlicher, sehnsüchtiger Ausdruck im Blick. „Er hat seine Steine geliebt. Dein Großvater und ich haben ihm immer gesagt, er könnte nicht den ganzen Strand mit nach Hause bringen. Aber er konnte ihnen einfach nicht widerstehen.“ Sie blickte über die Schulter zurück zu Sarah. „Vielleicht habe ich noch ein paar von seinen polierten Steinen in einer Kiste im Keller. Ich könnte sie ja in meinem Garten verwenden.“

Michas Steinsammlung hatte Sarah vollkommen vergessen. Wenn sie in der Garage ihr Fahrrad geholt hatte, hatte er oft an Papas Arbeitstisch gesessen, in seinen Comicbüchern gelesen, während sich die Metalltrommel drehte und die Chemikalien langsam ihre Wunder vollbrachten. Sie hatte den fertigen Steinen nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber er hatte unzählige Stunden damit zugebracht, sie zu sortieren und zu begutachten.

„Ich habe ein paar Petoskey-Steine“, berichtete Morgan, „aber poliert habe ich sie nicht, sondern einfach nur in Essig gelegt. Ich kann sie dir später zeigen, Oma.“

„Das musst du unbedingt machen. Ich möchte sie mir gern ansehen.“ Sie setzten sich auf die Couch, um die Fotos zu betrachten. „Ach, du meine Güte! Schau dir nur meine Tücher an. Die habe ich vollkommen vergessen. Vielleicht sollte ich sie wieder tragen. Es spart Zeit, wenn ich nicht ständig meine Haare frisieren muss.“

„Kopftücher sind cool“, sagte Jess, die sich gerade ein Glas Wasser eingoss. „Ich habe ein paar. Ich meine, falls du sie mal ausprobieren willst.“

Mama grinste. „Wenn sie cool sind, ist das bestimmt eine moderne Version.“

Beim Abendessen mit Burgern, Kartoffelsalat und Wassermelone blieben sie bei den Geschichten von früher. Von Micha und Papa und Carol wurde genauso frei und vorbehaltlos gesprochen wie von Mama oder Zach, ihr selbst oder den Mädchen. Das herzliche Lachen ihrer Mutter war ein Geschenk für Sarah. Manchmal hatten sie beide Tränen in den Augen, wenn sie sich an Micha erinnerten, und auch dies war Gemeinschaft.

Nachdem der Tisch abgeräumt und das Geschirr im Geschirrspüler verstaut war, sagte Sarah: „Wir haben noch eine Überraschung für dich, Mama. Jess hat das zusammengeschnitten. Ich hatte eigentlich vorgehabt, das morgen auf der Feier vorzuführen, doch dann habe ich mich doch anders entschieden.“

Nachdem alle fünf vor dem Fernseher saßen, ihre Mutter zwischen den Mädchen auf der Couch, griff Sarah zur Fernbedienung und drückte mit einem stummen Gebet die Play-Taste.

B

Lucy. Ihre geschätzte Mentorin.

Kit lehnte sich auf der Couch vor, ihre Augen hingen am Bildschirm. „Der Herr segne dich, und er behüte dich.“

Während ihr eine Träne über die Wange kullerte, sprach Kit den Rest des Segens stumm mit. Wie gern hätte sie die Hände ausgestreckt und die von Lucy ergriffen, die ein wenig zitterten.

Eine Welle von Dankbarkeit überflutete sie. Was für ein wunderbares Geschenk Sarah ihr damit gemacht hatte! Und vor allem, dass sie es ihr hier im privaten Rahmen übergab, und nicht in aller Öffentlichkeit. Hier musste sie sich nicht zusammennehmen und ihre Gesichtszüge kontrollieren, wenn ein geliebter Mensch nach dem anderen auf dem Bildschirm erschien. Hier konnte sie lachen und die Tränen fließen lassen und voller Dankbarkeit die Erinnerung an das Leben und die Weisheit, Freude und die Verluste, die sie geteilt hatten, aufsteigen lassen. Mit jedem neuen Gesicht eine andere Geschichte. Hier konnte sie all die guten Worte auskosten, die ihr gesagt wurden, und Gott dafür danken.

Wer war sie denn, dass sie so viel Freundlichkeit empfangen durfte? Und das alles mit so viel Herzlichkeit und Liebe? Etwas schnürte ihr die Kehle zu.

„Hat es dir gefallen, Oma?“, fragte Morgen, nachdem das letzte Gesicht auf dem Bildschirm verblasst war.

Kit legte sich eine Hand aufs Herz, mit der anderen pustete sie Sarah einen Kuss zu. Dann legte sie die Arme um ihre Enkelinnen und gab jeder einen Kuss auf die Wange.

Wie viel Liebe sie doch erfahren durfte!

B

Wren hatte noch nie eine Verabschiedungsfeier erlebt und war nicht sicher, was sie erwartete, bis sie das Programm sah. Willkommensworte von Sarah. Ein Eröffnungsgebet von Russell. Eine Dankesrede von Bill. Einige persönliche Beiträge. Lieder: „Groß ist deine Treue“, „Wir bringen unsre Garben“ und „Amazing Grace“. Ein Cello-Solo von Jess. Überreichung von Geschenken. Und ein Abschlussgebet von Hannah.

Wren hatte zwar vorgehabt, sich mit Hannah, Nate, Mara und deren Freundin Charissa an einen Tisch zu setzen, doch Sarah bestand darauf, dass sie am Familientisch Platz nahm. Sie saß zwischen Zach und Morgan und konnte Kits Reaktion auf jeden Programmpunkt sehr genau beobachten: ihre Überraschung und ihr Staunen, ihr Lachen und ihre Tränen und ihre Verlegenheit, wenn die Leute sie überschwänglich lobten. Immer wieder legte Kit eine Hand an ihr Herz, um ohne Worte ihre von Herzen kommende Dankbarkeit auszudrücken, und als Jess nach ihrem bewegenden Vortrag von „Gabriels Oboe“ an den Tisch zurückkam, stand Kit auf und umarmte sie mit unverhohlenem Stolz.

„Hilfst du mir, es hereinzubringen?“, flüsterte Zach Wren zu, als der Applaus abebbte.

Sie hatte sich so gefangen nehmen lassen von der Musik, dass sie das Tandem ganz vergessen hatte. Sarah stand neben dem Klavier und sah sie auffordernd an. Wren sprang auf. „Schon gut“, erwiderte sie. „Ich mache das schon.“

Sobald Wren vorn im Saal ankam, trat Sarah ans Mikrofon. „Manchmal erfahren wir Dinge über unsere Mütter, die wir noch nicht wussten“, sagte sie. „Zum Beispiel habe ich erst in dieser Woche erfahren, dass eines der Lieder, die wir heute gesungen haben, das Lied ‚Wir bringen unsre Garben‘, ein Lied ist, das ihre Großmutter immer mit meiner Mutter gesungen hat, nicht nur in der Kirche, sondern auch zu Hause. Mama hat mir erzählt, dass sie gemeinsam durch den Garten gezogen sind und dabei dieses alte Lied gesungen haben und dass es eines ihrer Lieblingslieder war. Ich habe ihr gesagt, wir könnten es doch auch heute singen, unter einer Bedingung: Wir müssten dabei durch den Raum marschieren. Und Mama war einverstanden.“

Kit lachte, wie die anderen auch. Zach beugte sich vor und sagte etwas zu ihr, und sie lachte erneut und nickte.

„Und ebenfalls habe ich erst vor einigen Wochen erfahren, dass sie sich seit ihrer Kindheit ein bestimmtes Geschenk gewünscht hat.“

Wren fing Kits Blick ein. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, der fragte: „Das hast du doch nicht wirklich gemacht?“, legte Kit die Finger an den Mund.

„Ein Geschenk, das sie nie bekommen hat“, fuhr Sarah fort. „Bis jetzt.“

Das war Wrens Stichwort. Sarah spielte das Lied „Daisy, Daisy“ ab, Wren holte das Tandem, das hinter einer Stuhlreihe versteckt gewesen war, und schob es nach vorn. Kit erhob sich, kopfschüttelnd und grinsend, und zeigte gespielt anklagend mit dem Finger auf Wren.

„Keine Angst, du brauchst es nicht gleich hier und jetzt auszuprobieren, Mama“, beruhigte Sarah sie. „Aber wenn wir das köstliche Essen genossen haben, das Mara für uns vorbereitet hat, gehen wir alle hinaus auf den Parkplatz und schauen zu, wie du zusammen mit Wren deine erste Runde drehst.“

Das war neu für sie. Wren hatte gedacht, die erste Fahrt würde Mutter und Tochter gehören. Verblüfft schaute sie Sarah an, die lächelnd nickte und genau wie ihre Mutter eine Hand auf die Brust legte.

Da sie immer noch das Fahrrad festhielt, drückte Wren den Kopf auf ihre Schulter und wischte sich die Tränen ab.

„Das war eine gute Idee, Wren“, sagte Zach, nachdem sie Kit umarmt und an ihren Platz zurückgekehrt war.

Morgan nickte. „Das wird lustig.“

Casey hätte ihr zugestimmt, das wusste sie.

B

Nachdem Kit einen Geschenkumschlag des Kuratoriums entgegengenommen hatte, trat Hannah ans Mikrofon und bat sie, doch zum Segen und Abschlussgebet vorn zu bleiben. „Katherine“, sagte Hannah, „wir freuen uns an allem Guten, das du hier getan hast und wofür Gott dir die Begabung geschenkt hat. Wir feiern heute, wie treu und verantwortlich du mit all dem, was er dir anvertraut hat, umgegangen bist. Unsere Worte der Wertschätzung und Anerkennung können nicht annähernd ausdrücken, wie groß unsere Dankbarkeit ist. Und wir sind nur ein Teil einer sehr viel größeren Gemeinschaft von Menschen, die davon berichten können, was deine Liebe und Großzügigkeit in ihrem Leben bewirkt haben. Ich will die Worte von Paulus an Philemon ein wenig abändern in: ‚Es war mir wirklich eine große Freude und hat mir Mut gemacht, von der Liebe zu hören, die du, Katherine, den Brüdern und Schwestern erweist. Du hast ihren Glauben gestärkt und ihrer Seele gutgetan.‘“7

Kit schluckte.

„Ja, wir feiern und wir danken für alles Gute, das Gott dir geschenkt hat, und dafür, wie gewissenhaft du deinen Auftrag erfüllt hast. Aber dabei vergessen wir nicht, dass wir uns nicht über unsere Arbeit definieren oder darüber, was wir für das Reich Gottes geleistet haben. Unser Wert und unsere Bedeutung hängen nicht davon ab, was wir für Gott tun, sondern davon, wer wir für ihn sind, und davon, was er für uns getan hat. Du bist Gottes geliebte Tochter, Katherine. Du bist der Mensch, den Jesus liebt. In seiner Liebe und durch seine Gnade und durch seine Macht trittst du nun ein in eine neue Phase deines Lebens. Auch wenn dies ein großer Einschnitt ist, sehen wir doch alles, was sich nicht verändert hat. Mögest du auch weiterhin die Fülle und Treue der unveränderlichen Liebe Gottes zu dir erleben. Und mögest du dich auch weiterhin an der Liebe von freundlichen und vertrauenswürdigen Gefährten auf deiner Reise erfreuen.“

Hannah hob die Hände. „Stehen Sie doch bitte auf, soweit das möglich ist, und heben Sie die Arme in Katherines Richtung. Wir wollen sie der Fürsorge Gottes anbefehlen und seinen Segen für sie erbitten.“

Voller Dankbarkeit und tief gerührt ließ Kit ihren Blick durch den Raum wandern, wo die Menschen, die gemeinsam mit ihr unterwegs waren, ihr in Liebe die Arme entgegenreckten. Dann senkte sie den Kopf und öffnete die Hände, um zu empfangen.

B

Früh am Montagmorgen, noch bevor Wren ihre letzte Putzrunde in New Hope startete, standen sie und Kit im Foyer und hörten zu, wie Bill Logan und Nicki von Kits erster Tandem-Fahrt erzählte.

Logan schob Elis Kinderwagen sanft hin und her, damit das müde Baby einschlafen konnte. „Ich hoffe nur, dass jemand das auf Video festgehalten hat.“

Kit lachte. „Mir wurde gesagt, dass mehrere Versionen bereits geteilt wurden.“

„Aus den unterschiedlichsten Perspektiven“, fügte Wren hinzu. Sie hatte Zachs Aufnahmen an ihre Mutter geschickt, die sich sehr darüber gefreut hatte.

„Das hört sich beinahe so an, als würde man in den Sonnenuntergang fahren“, meinte Nicki lächelnd. Savannah, die ein wenig jünger war als Zoe, schaute zu ihrer Mutter hoch, bevor sie sich hinter ihrem langen weißen Rock versteckte und den Saum hochhob. Ein tätowiertes Kreuz an Nickis Knöchel oberhalb des Riemchens ihrer Sandalen kam zum Vorschein. Ihre türkis lackierten Zehennägel passten zu ihrer Batikbluse.

„Ein perfektes Ende“, erklärte Bill. „Richten Sie Sarah doch bitte noch einmal aus, dass sie bei der Planung des Festes wirklich hervorragende Arbeit geleistet hat. Mara auch. Wenn wir für eine Veranstaltung noch einmal Catering brauchen, wissen wir ja, an wen wir uns wenden können.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr, dann zu Logan. „Ich muss ins Büro. Ist es in Ordnung, wenn wir später reden?“

„Sicher. Klingt gut. Wir schauen uns schnell einmal um, bevor Gayle kommt. Ich habe Savannah versprochen, dass sie sich den Garten anschauen darf.“

„Magst du Blumen, Savannah?“, fragte Kit, nachdem Bill sich verabschiedet hatte.

Savannah spähte hinter dem Rock ihrer Mutter hervor und nickte so heftig, dass ihre langen blonden Locken hüpften.

„Hast du schon mal Sonnenblumen gesehen? Die richtig großen, gelben?“

Die Kleine traute sich aus ihrem Versteck hervor. „Ich picke so gern die Samen heraus.“

Kit und Wren sahen sich an. „Genau das werden wir heute tun“, sagte Wren. Sie hockte sich vor das kleine Mädchen hin. „Wir müssen die Samen herauspicken, damit wir weitere Sonnenblumen pflanzen können. Möchtest du uns dabei helfen?“

Nicki legte die Hand auf den Kopf ihrer Tochter. „Was sagst du, Savannah?“

„Danke.“

„Wie wäre es mit: ‚Ja, bitte‘?“

Savannah wiederholte die Worte, umklammerte aber die Hand ihrer Mutter.

„Wie wäre es, wenn wir das jetzt sofort machen würden?“, schlug Kit vor.

Sie gingen voraus, und Logan folgte ihnen mit dem Kinderwagen. Kaum waren sie um die Ecke gebogen, als Nicki nach Luft schnappte. „Das hast du mir ja gar nicht erzählt!“, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu.

„Was denn?“

„Diese vielen Drucke von van Gogh!“

„Entschuldige, Schatz. Ich wusste nicht, dass sie von van Gogh sind.“

Sie schnaubte. „Ich versuche schon seit Jahren, ihn dafür zu begeistern, aber er bleibt stur.“

„Sie mögen Vincent?“, fragte Wren.

„Ob ich ihn mag? Ich liebe ihn!“ Sie trat vor einen der Sämann-Drucke. „Wer hat die aufgehängt?“

„Wren ist die Künstlerin“, erwiderte Kit.

„Oh, dann werden wir viel Gesprächsstoff haben.“ Nicki schaute sich die Drucke genau an. „Sie haben eine großartige Auswahl getroffen. Ich denke, ich muss nachsichtig mit meinem Mann sein. Diese Bilder sind nicht so bekannt.“

„Nicki malt auch“, erklärte Logan.

„Ich habe gemalt“, korrigierte sie ihn. „Bevor die Kinder da waren.“

Logan war also mit einer Malerin verheiratet. Interessant. Ihre Kleidung und die vielen bunten Armbänder an ihrem Handgelenk hätten eigentlich ein Hinweis darauf sein müssen.

Vermutlich war er doch nicht ein ganz so großer Kunstbanause. Der Mann steckte wirklich voller Überraschungen.

„Wren hatte in diesem Jahr ihr Atelier hier eingerichtet“, erklärte Kit. „Sie hat wundervolle Bilder für uns gemalt.“

„Ich würde mir Ihre Arbeit gern anschauen“, sagte Nicki. Savannah zerrte an ihrer Hand. „Nachdem wir im Garten gewesen sind. Alles zu seiner Zeit.“ Auf dem Weg in den Garten kamen sie an der geöffneten Tür von Wrens Atelier vorbei. Überall standen leere Kartons herum. Erneut blieb Nicki stehen. „Ziehen Sie aus?“

Wren war so verblüfft über die Frage, dass sie nicht wusste, was sie antworten sollte.

„Wir beide haben angenommen, dass das nötig sein wird“, erwiderte Kit, „da sie jetzt ja nicht mehr hier arbeitet.“

Logan beugte sich über den Kinderwagen, um Eli den Teddybär wieder in den Arm zu legen. „Entschuldigen Sie, Wren. Dieser Gedanke ist mir gar nicht gekommen. Ich werde mit dem Kuratorium sprechen. Wenn Sie Ihr Atelier hier behalten möchten, dann habe ich nichts dagegen. Ich glaube nicht, dass wir den Raum in absehbarer Zeit brauchen werden. Später vielleicht, aber jetzt noch nicht.“

Wie gesagt, er steckte voller Überraschungen.

Nicki strich ihre langen Locken zurück. Einige widerspenstige Strähnen hatten sich gelöst. „Vielleicht möchtest du später auch eine Künstlerin vor Ort haben, Schatz.“ Sie wandte sich an Wren. „Ich sage ihm immer, dass er jedes bisschen kreative Energie und Vision nutzen muss, die die Gemeinschaft anzubieten hat. Und Kunst überwindet Grenzen. Die unterschiedlichsten Grenzen. Als Künstlerin wissen Sie das bestimmt.“

Ich bin keine richtige Künstlerin, wollte Wren gerade einwenden. Aber als sie Kits Blick begegnete, änderte sie ihre Meinung und erwiderte: „Ja, das weiß ich.“

Sie erreichten den Garten, und Savannah hüpfte davon, direkt zu der Reihe mit den Sonnenblumen, deren Köpfe bereits gebeugt waren. Auf dem Boden lagen Blütenblätter verstreut. Unter den hohen Stängeln bückte sie sich und hob etwas von der Erde auf. „Seht nur!“ Sie schwenkte eine graue Feder über dem Kopf und steckte sie sich hinters Ohr. „Papa! Komm, heb mich hoch!“

Logan stellte den Kinderwagen im Schatten ab und überzeugte sich davon, dass Eli schlief, bevor er Nickis Hand nahm und sie gemeinsam zu ihrer Tochter gingen, um die Samen abzuernten.

Kit lächelte Wren an. „Ich bin keine Künstlerin, aber ich habe den Eindruck, dass diese heruntergefallenen Blütenblätter ein wenig aussehen wie Federn, die bei der Mauser abgeworfen wurden. Das gibt eines Tages vielleicht ein schönes Gemälde.“

Vor ihrem inneren Auge sah Wren das Bild bereits vor sich: Die abgeworfenen Blütenblätter der Sonnenblumen würden sich mit den abgeworfenen purpurfarbenen Federn eines Kardinals mischen, wie sich Flammen auf dem Boden ausbreiten. Hier, auf diesem heiligen Grund, würde sie einen Vogel malen, der seiner sichtbaren Pracht beraubt war und die heruntergefallenen Samenkörner aufpickte. Und wenn man genau hinschaute, dann könnte man vielleicht winzig kleine Stoppeln entdecken, die sich durch die zarte Haut bohrten. Wie Federn der Hoffnung, die darauf warteten, sich entfalten zu können.