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Sobald Wren am Freitagnachmittag ihre Schicht in Willow Springs beendet hatte, fuhr sie mit dem Fahrrad zum New Hope-Zentrum. „Es gibt doch Spenden für ein Abschiedsgeschenk für Katherine, nicht?“, fragte sie Gayle, nachdem sie die Teilzeitkraft in ihrem Büro begrüßt hatte.

Gayle nickte und nahm einen Aktenordner aus ihrer Schreibtischschublade. „Ich führe genau Buch. Fast alle haben zugesagt zu kommen. In der Kapelle wird es also voll werden.“

„Fantastisch“, erwiderte Wren. Sie hoffte nur, dass Kit das ebenfalls fantastisch finden würde. „Hat das Kuratorium eigentlich die Absicht, ihr ein Geschenk zu kaufen, oder bekommt sie einen Scheck überreicht?“

„Keine Ahnung. Warum?“

„Ich hätte da eine Idee.“ Wren spähte hinaus in die Lobby, um sicherzugehen, dass Kit nicht in der Nähe war. „Gestern Abend hat sie erzählt, dass sie sich schon immer ein Tandem gewünscht hat.“

„Im Ernst? Gibt es so was überhaupt noch?“

„Ich habe bereits im Netz gesucht und bin auf verschiedene Angebote gestoßen.“ Es gab sogar mehrere in der richtigen Farbe.

„Weiß Sarah davon?“

„Dass Kit sich ein Tandem wünscht?“

„Dass du eins für sie kaufen willst.“

„Nein.“

„Oh.“ Gayle legte eine Hand auf den Aktenordner. „Ich weiß nicht, Wren. Ich meine, wenn sie meine Mutter wäre …“

„Viele ältere Leute fahren Fahrrad. Und wir sprechen ja nicht über ein Mountainbike oder ein Rennrad. Ich bin früher mal Tandem gefahren. Ich könnte vorn sitzen. Das ist nicht schwer, wenn man es erst mal raushat.“

„Aber wenn sie stürzt und sich die Hüfte bricht oder …“

„Schon verstanden.“ Wren hob die Hand. Sie brauchte niemanden, der ihre eigenen Befürchtungen noch verstärkte. „Vergiss es einfach. Vergiss, dass ich es erwähnt habe.“

„Ich mache mir nur Sorgen, dass …“

„Schon gut.“

Gayle verstaute den Aktenordner wieder in der Schublade. „Ich wollte deine Begeisterung nicht dämpfen, Wren.“

„Schon in Ordnung.“ Wren nahm ihren Rucksack. „Ich muss mich jetzt an die Arbeit machen. Aber sag Kit bitte nichts von der Idee mit dem Tandem, okay?“

Gayle zog einen imaginären Reißverschluss zwischen ihren Lippen zu.

Wenn das Tandem kein Gemeinschaftsgeschenk sein konnte, dachte Wren, als sie im Flur um die Ecke bog, dann würde sie es ihr eben allein kaufen. Und niemand außer Kit bräuchte etwas davon zu erfahren.

Richtig so, Wrinkle, stimmte Casey ihr in ihren Gedanken zu.

Wren blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe stolperte.

Selbst sieben Monate nach seinem Tod fuhr sie bei dem Gefühl, seine Stimme zu hören, zusammen. Sie klang so unglaublich lebensecht, und sie hätte schwören können, dass er unmittelbar neben ihr stand.

Oder hinter ihr.

Denn genau da hatte Casey immer gesessen, wenn sie sich am Samstag manchmal ein Tandem gemietet hatten und um den See geradelt waren. Zwar hatte er Witze darüber gemacht, dass er hinter ihr saß und sie zur Abwechslung einmal ihn chauffieren musste. Aber es war ihm immer gelungen, ihr Mut zu machen, die Führung zu übernehmen. Wenn es ihm gut ging, war Casey ihr Held.

Das war bestimmt ein seltsames Bild gewesen. Er mit seinen knapp zwei Metern und seinem roten Haar, das im Fahrtwind flatterte, und sie zartes Persönchen, die mit aller Kraft in die Pedale trat. Dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf Wrens Lippen. Bei ihrer ersten Fahrt hatten sie erst nach einigen Versuchen und viel Gelächter ihren Rhythmus gefunden, aber nachdem sie gelernt hatten, im Gleichklang zu treten, hatten sie diese Fahrten immer sehr genossen.

Dawn hatte recht, dachte Wren, während sie ihre Putzmittel aus dem Schrank holte. Es gab einen Tag auf dem Weg der Trauer, an dem die Erinnerung an einen geliebten Menschen einem ein Lächeln auf die Lippen zauberte, bevor eine Träne über die Wange rollte. Vielleicht machte sie ja doch Fortschritte.

Sie steckte sich ihre In-Ear-Kopfhörer in die Ohren, suchte Don McLeans „Vincent“ auf ihrem Handy und drückte die Wiederholungstaste. Dann begann sie die Kunstdrucke abzustauben und suchte dabei innerlich nach dem Bild, mit dem sie heute Abend beten wollte.

Leider hing das Gemälde, das ihr dabei in den Sinn kam, nicht an diesen Wänden: Ein Wiegenlied, Vincents Porträt seiner Freundin Augustine Roulin. Das Bild, von dem sich Casey bei ihrer letzten Begegnung provoziert gefühlt hatte. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn lebend gesehen hatte.

Ihr Blick wanderte zu der geschlossenen Tür ihres Ateliers, einem Seminarraum, der nicht gebraucht wurde und den sie nutzen durfte. Kit hatte ihr das ausdrücklich gestattet. Letztes Jahr im Dezember hatten sie und Casey an ihrem Arbeitstisch gestanden und die verschiedenen Porträts von Augustine in einem Bildband angeschaut und über Vincents Stil diskutiert, bis Casey brummte, Müttern zu gefallen sei eine Sache der Unmöglichkeit und die Vaterschaft werde „überschätzt“. Damals hatte Wren nicht verstanden, was er meinte. Sie verstand es ja noch jetzt kaum, wo immer noch so viele Geheimnisse über Caseys Leben und seinem Tod hingen. Er hatte seine Geheimnisse mit ins Grab genommen. Und manchmal musste man das eigene Nichtwissen begraben und loslassen, um auf dem Weg der Trauer weitergehen zu können, wie Kit ihr immer wieder in Briefen und Gesprächen klargemacht hatte.

„Warum macht diese Frau dich traurig?“, hatte Zoe sie im letzten Frühling gefragt, als sie in Chicago eines von Vincents Porträts von Augustine angeschaut hatten. Da die anderen aus ihrer Familie auf der Suche nach einem College für Olivia gewesen waren, hatten sie und Zoe ein paar Stunden im Kunstmuseum verbracht.

Wren war so verblüfft gewesen über die Wahrnehmungsgabe ihrer kleinen Schwester, dass sie nicht gewusst hatte, was sie antworten sollte. Darum hatte sie die Frage zurückgegeben. „Macht sie dich denn traurig?“

„Ja.“ Zoe ergriff Wrens Hand. „Weil sie zornig aussieht.“

„Findest du?“

„Ja.“ Zoe stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser hinschauen zu können. „Vielleicht schreit das Baby zu viel.“

„Vielleicht“, hatte Wren erwidert. „Babys weinen manchmal sehr viel.“

Sie wischte einen Spritzer vom Rahmen des Druckes Zwei abgeschnittene Sonnenblumen. Casey hätte nicht viel Geduld mit einem schreienden Baby gehabt. Aber nicht einmal ein Neugeborenes mit Koliken hätte der Grund sein können, warum er Brooke und ihre Tochter Estelle verlassen hatte. Casey war oft egoistisch gewesen, aber niemals grausam. Irgendetwas war ihm zu viel geworden. Irgendetwas hatte eine manisch-depressive Phase ausgelöst. Vielleicht war Brooke ja tatsächlich übergriffig geworden, wie er behauptet hatte. Von einem Menschen, dem Wren nie begegnet war – und vermutlich auch nie begegnen würde –, konnte sie viel eher das Schlimmste annehmen als von dem allerersten Freund, den sie gefunden hatte, nachdem sie mit elf Jahren von Australien nach Amerika gezogen war. Von dem besten Freund, der für sie wie ein Bruder gewesen war.

Nur dass ein bester Freund ihr nicht verschwiegen hätte, dass er Vater geworden war.

Ein Anflug von Zorn überrollte sie.

Verraten. Dieses Wort beschrieb am besten, wie sie sich fühlte, selbst nach so vielen Monaten. Im Mai, als sie neben Kit im Garten des New Hope-Zentrums gekniet hatte, um den Brief, in dem sie Casey ausdrücklich ihre Vergebung zusprach, zu begraben und die Samen, die sie bei seinem Begräbnis von den Sonnenblumen gepflückt hatte, in die Erde zu setzen, hatte sie noch gedacht, dass sie doch bestimmt auch in der Lage sein würde, ihren Zorn und ihre Verwirrung zu begraben. Wie naiv sie gewesen war!

„Vergebung ist ein Prozess“, erklärte Dawn ihr immer wieder. Wie Trauer. Und dass sie inzwischen Zorn und Trauer empfinden konnte, ohne davon völlig verschlungen zu werden, war ein Hinweis darauf, dass sie Fortschritte machte.

Aber wenn sie wüsste, was genau sie ihm vergeben musste, wenn sie nur Bescheid wüsste, was er getan hatte und warum, dann könnte sie ihn vielleicht wirklich loslassen.

Mit Lappen und Sprühflasche in der Hand öffnete sie die Tür zu ihrem Atelier und ging ans Fenster, das auf den Garten hinaussah. Sie hoffte, dass die Sonnenblumen bis zu Kits Abschiedsfeier voll aufgeblüht sein würden. Das könnte sogar gelingen.

Sie nahm die Kopfhörer aus ihren Ohren und lauschte dem Gesang eines Kardinalsvogels, der auf der Rosenlaube saß. Vielleicht könnte sie zwei Versionen malen, eine von dem Vogel mit der kahlen Stelle und einen, bei dem alle Federn wieder nachgewachsen waren. Abstoßung und Erneuerung. Verlust und Hoffnung. Eigentlich …

Sie dachte an Vincent und sein Vorhaben, Augustine seine Sonnenblumengemälde an die Seite zu stellen: ein Triptychon – eine ganz normale Heilige zwischen den leuchtenden Blumen, ein krasser Gegensatz. Und alle drei Bilder strahlten etwas aus vom Glanz Gottes.

Sie könnte ein Triptychon von Kardinalsvögeln malen. Das Leben vor der Mauser, das Leben während der Mauser, das Leben nach der Mauser. Der Kardinal nach dem Verlust wäre nicht mehr derselbe wie der davor. Wie auch? Ein solcher Kampf hinterließ Spuren. Selbst falls neue Federn nachwuchsen.

Selbst wenn, ermahnte sie sich. Sie musste es weiter üben, die Hoffnung in den Dingen zu sehen. Die unsichtbaren Dinge nicht aus dem Blick zu verlieren.

„Ach hier bist du!“, rief Kit von der Tür aus.

Erschrocken fuhr Wren herum. „Ja, ich bin hier.“

Kit deutete auf die Sprühflasche. „Vielleicht könntest du dein Atelier später sauber machen. Vor dem Seminar morgen ist noch einiges zu tun.“

Wren errötete. „Ich weiß. Ich hatte auch nicht vor, hier zu putzen. Ich wollte nur mal kurz in den Garten schauen.“

„Ah, gut. Mir ist aufgefallen, dass die Mülleimer noch voll sind, darum ...“

„Ich weiß. Ich werde sie ausleeren.“ Wie ich es immer mache, fügte sie im Stillen hinzu.

„Danke, Wren.“

Wren wartete, bis Kits Schritte im Flur verklungen waren, bevor sie sich wieder dem Abstauben von Vincents Bildern zuwandte.

B

Das muss für heute genügen, ermahnte sich Kit später am Nachmittag. Sie speicherte das Dokument für das Seminar auf dem Computer ab. Ihr Blick wanderte zur aufgeschlagenen Bibel auf ihrem Schreibtisch.

In den vergangenen Tagen hatte sie Gott gebeten, er möge ihr doch gute letzte Worte für die Menschen schenken, die an ihrem letzten Kurs in New Hope teilnehmen würden. Das Thema der Haushalterschaft war ihr in den Sinn gekommen: gut umgehen mit Liebe, mit Schmerz, mit Gnade. So, wie du geliebt wirst, liebe. Wie du getröstet wirst, tröste. Wie dir vergeben wird, vergib. Das sollten die Themen für die nächsten drei Samstagvormittage sein. Es sei denn, Gott zeigte ihr etwas anderes, wofür sie natürlich immer offen wäre.

Liebe ist geduldig, las sie im ersten Korintherbrief, Kapitel 13. Liebe ist freundlich. Sie ist nicht neidisch oder überheblich, stolz oder anstößig. Sie ist nicht selbstsüchtig. Über jede Eigenschaft, die Paulus hier nannte, konnte man ein Leben lang nachdenken. Während der Pausen zur persönlichen Reflexion würde sie die Teilnehmer einladen, über jedes einzelne Wort zu meditieren und zu überlegen, wie Gott gerade ihn oder sie auf diese Weise geliebt hatte. Das könnte ihnen allen helfen, eine Grundhaltung einzuüben, diese Art der großzügigen Liebe von Gott zu empfangen. Anschließend sollten sie darüber nachdenken, wie sie diesen Aspekt der Liebe an andere weitergeben könnten, ganz besonders an Menschen, die ungeduldig und unfreundlich, neidisch und prahlerisch, arrogant und unverschämt, selbstsüchtig, leicht reizbar und missgünstig waren.

Langsam massierte sie ihre Schläfen. Langmütig. Das war die Bedeutung des griechischen Wortes, das Paulus für „geduldig“ verwendete, das Gegenteil von unbeherrschten Zornausbrüchen und ungebändigter Leidenschaft. Langmut und Beharrlichkeit reichten weit, über eine lange Zeit und über eine lange Strecke hinweg. Sie würde besonders herausstellen, dass diese Beharrlichkeit in der Liebe, die wir anderen entgegenbringen, eine Gabe des Geistes war, mit der man beschenkt wird, wenn man in der überreichen Liebe Gottes bleibt. Sie würde daran erinnern, dass Jesus gesagt hat: „Ich habe euch genauso geliebt, wie der Vater mich geliebt hat. Bleibt in meiner Liebe!“ Diese Art der göttlichen Liebe annehmen und genießen zu können, das musste man üben. Und man musste sich Zeit geben.

„Ich gehe jetzt nach Hause, Katherine“, rief Gayle von der Tür aus. „Es sei denn, du hast noch etwas für mich zu tun.“

Katherine schaute von ihrer Bibel hoch und ging im Geist noch einmal die Aufgabenliste durch. „Die Gebetshandzettel sind gedruckt? Die Teilnehmerliste ist vollständig?“

„Liegt alles auf meinem Schreibtisch.“

„Wunderbar, Gayle. Vielen Dank.“ Sie würde jetzt auch für heute Schluss machen.

Nachdem Gayle gegangen war, machte sie sich auf die Suche nach Wren, deren Putzwagen vor der Damentoilette stand. Sie wollte sie nicht erschrecken, darum rief sie bereits im Flur ihren Namen.

Wren tauchte im Türrahmen auf. Ihre Hände steckten in gelben Gummihandschuhen. „Du gehst nach Hause?“

„Ja. Auf dem Heimweg kaufe ich noch kurz ein paar Sachen für das Abendessen ein. Ich mache was Schnelles. Hast du noch viel zu tun?“

„Ein wenig. Wie spät ist es?“

„Kurz nach vier.“

„Ist gut“, erwiderte Wren. „Wir sehen uns dann zu Hause.“

Kits Tasche lag noch in ihrem Büro. Auf dem Weg dorthin blieb sie vor Vincents Sämann stehen. Vielleicht sollte sie sich noch einen Augenblick Zeit nehmen und so beten, wie es in den letzten Monaten so wichtig für sie geworden war.

Mit gefalteten Händen wanderte ihr Blick über das Gemälde, bis er an der großen geöffneten Hand des Mannes hängen blieb. Er verteilte die Samenkörner aus seinem Beutel, jede Menge Samenkörner.

Sie beugte sich vor und schaute genauer hin.

Wie anders waren sie und Wren vorgegangen, als sie die Sonnenblumensamen in die Erde gesteckt hatten, jedes Korn einzeln und mit Abstand zueinander, damit jedes die besten Wachstumsmöglichkeiten hatte. Dieses wohlüberlegte, sorgfältige Vorgehen hatte sich angefühlt wie ein treuer, verantwortungsvoller Umgang mit dem, was ihr anvertraut worden war.

Aber diesem Sämann schien es ganz egal zu sein, wo der Samen landete.

Sie stellte sich vor, wie sie selbst in dem Bild mit ihrer Umhängetasche hinter ihm herlief und sich herunterbeugte, um die Samenkörner, die er sorglos ausgeworfen hatte, in die Erde zu drücken. Sie stellte sich vor, wie sie auf der Erde kniete, dann in ihre Tasche griff, um ein einzelnes Samenkorn herauszuholen. Nachdem sie es sorgfältig in die Erde gesteckt hatte, klopfte sie zufrieden den Boden glatt und sprach ein Gebet für gutes Gedeihen.

Doch dieser Sämann warf ganze Hände voll Samen auf das Land und lachte, wenn der Wind sie ergriff und herumwirbelte, sie an Stellen trug, wo sie ihrer Meinung nach niemals Wurzeln schlagen konnten. Die Vögel würden diese Samenkörner aufpicken und verschlucken. Und was war mit dem steinigen Boden oder den Dornen, die die empfindlichen Samenkörner ersticken würden?

„Ist dir denn ganz egal, was daraus wird?“, fragte sie ihn.

Als Antwort öffnete er nur ganz sanft ihre Faust und ließ Samenkörner hineinrieseln, von denen einige zu Boden fielen. Dann blies er in ihre Hand, und die Samen flogen mit dem Luftstrom an unsichtbare Orte, landeten auf einem Boden, der vielleicht bestellt war oder vielleicht auch nicht. „Hör zu“, sagte er, und seine Stimme klang heiter, „ein Sämann ging aus, um zu säen ...“