5

Der Aufenthaltsraum für Bewohner und Besucher von Willow Springs lag im ersten Stock. Wren saß mit dem Rücken an das große Vogelhaus gelehnt, in dem ein Zebrafinkenpärchen zirpte. Ihr wäre es viel lieber gewesen, in dem kleineren Aufenthaltsraum neben dem Speisesaal Kniffel zu spielen. Dort gab es keine Vögel. Aber Mrs Clement liebte diese kleinen Lebewesen. Sie wollte immer in ihrer Nähe sitzen und mit den Tieren reden. „Komm schon, Coco, sing mir ein Lied. So ist gut, kleiner Coco. Sing mir ein feines kleines Lied. Bist du nicht ein kluger Vogel?“

Wren schüttelte die Würfel in ihrem Becher und warf die Drei und die Vier, die sie für ein Full House brauchte. Kits Schilderung, wie der kleine Sokrates sein Leben in einem Käfig verbracht und in ihrer Hand Purzelbäume geschlagen hatte, hatte sie traurig gemacht. Sie war auch noch nie gerne in den Zoo gegangen.

„Sehen Sie nur, Tweety!“ Mrs Clement klatschte in die Hände. „Hinter Ihnen, Fräulein. Sehen Sie? Wie sie auf ihrer Stange schaukelt. Huiii!“ Sie lachte fröhlich wie ein Kind.

Mit einem raschen Blick über die Schulter gab Wren die passenden zustimmenden Geräusche von sich, bevor sie ihre Punkte aufschrieb. Die armen kleinen Dinger! In diesem Raum beeilte sie sich immer mit dem Saubermachen. „Sie sind dran, Mrs Clement.“

Mrs Clement ließ die Vögel immer noch nicht aus den Augen. „Sie brauchen mehr Hirsekörner. Sie lieben Hirse.“

„Audrey wird bestimmt dafür sorgen, dass sie bekommen, was sie brauchen“, erwiderte Wren. Es war die Idee der Hauswirtschaftsleiterin gewesen, in Willow Springs Vogelvolieren aufzustellen, und es war auch ihre Aufgabe, sie zu versorgen. Peyton hatte erzählt, dass Audrey sich auch darum kümmerte, die Cocos und Tweetys zu ersetzen, wann immer es nötig war. Und das war bereits zwei- oder dreimal der Fall gewesen.

Wren beugte sich vor und vertiefte sich in Mrs Clements Punktekarte. „Was brauchen Sie noch? Sechsen?“

Mrs Clement verlagerte ihre Aufmerksamkeit von den Vögeln auf ihre Liste. „Sechsen und eine Große Straße.“ Sie pustete in ihren Becher und schüttelte ihn. „Mist“, schimpfte sie, nachdem sie vier Zweien und eine Drei gewürfelt hatte. Bevor Wren ihr noch raten konnte, was sie behalten sollte, warf sie alle Würfel in den Würfelbecher zurück und würfelte erneut.

„Na, ist wieder mal Spielzeit?“ Mrs Whitlock, auf ihren Rollator gestützt, schlurfte in einem kurzärmeligen Bademantel in den Raum. „Mich hat niemand eingeladen.“

Wren klopfte auf den Stuhl neben sich und stand auf, damit Mrs Whitlock an der Voliere vorbeigehen konnte. „Wir sind fast fertig mit der ersten Runde.“

„Du spielst auch gern, Dorothy?“, fragte Mrs Clement. „Das wusste ich gar nicht.“

„Natürlich spiele ich gern! Spielen wir um Geld?“

Wren unterdrückte ein Grinsen. „Heute nicht.“ Ihr Handy in der Hosentasche vibrierte.

„Hat jemand den Rufknopf gedrückt?“, fragte Mrs Whitlock und richtete sich auf, so gut es ihr möglich war, um einen Blick in den Flur zu werfen.

Wren strich ihr sanft die ungekämmten weißen Haare hinter die Ohren. So. Jetzt konnte sie besser sehen. „Ist schon in Ordnung, Mrs Whitlock. Das ist nur mein Telefon. Ich bekomme gerade einen Anruf.“ Sie nahm das Handy aus der Tasche, steckte es aber sofort wieder ein. Sie würde ihre Mutter später zurückrufen.

Mrs Whitlock schaute immer noch mit gerunzelter Stirn in den Flur.

„Niemand hat den Rufknopf gedrückt, Dorothy. Das war Wrens Telefon. Komm und setz dich hin, wenn du mitspielen möchtest.“

Wren führte sie zum Tisch, schob ihren Rollator aus dem Weg und hielt den Stuhl fest, während Mrs Whitlock sich vorsichtig setzte. „Ich schiebe Sie ein wenig näher ran. Passen Sie auf Ihre Hände auf.“

Mrs Whitlock hob die Hände von den Stuhllehnen und drückte sie an ihre Brust. „Wo ist das andere Mädchen?“

„Peyton?“, fragte Wren und schob den Stuhl näher an den Tisch.

„Die, die die Musik immer zu laut aufdreht. Die immer will, dass ich im Sitzen tanze.“

Ja. Peyton. „Sie hat heute frei.“

Mrs Whitlock musterte sie kritisch. „Arbeiten Sie hier?“

„Ja, aber ich habe heute eigentlich auch frei.“

„Sie macht hier sauber, Dorothy“, erklärte Mrs Clement. „Hast du sie noch nicht in deinem Zimmer gesehen?“

Mrs Whitlock antwortete nicht.

Wren setzte sich neben sie und roch, dass die Windel gewechselt werden musste. Ihr Blick wanderte zum Stationszimmer. Niemand da. Sobald sich jemand vom Pflegepersonal blicken ließe, würde sie Bescheid sagen, dass Mrs Whitlock Hilfe brauchte. Auf keinen Fall würde sie sie in Verlegenheit bringen und jetzt die Aufmerksamkeit darauf lenken. Nicht vor ihrer Freundin.

„Bin ich an der Reihe?“, fragte Mrs Whitlock.

„Noch nicht“, erwiderte Wren. „Wir müssen nur noch zwei Felder ausfüllen, dann beginnen wir ein neues Spiel. Ich glaube, Sie brauchen noch Sechsen und eine Große Straße, Mrs Clement.“

„Ganz genau, Fräulein.“ Sie pustete erneut in ihren Becher und würfelte vier Sechsen. „Oh, seht euch das an! Jetzt bekomme ich meine Bonuspunkte.“

Wren hatte gerade den Becher entgegengenommen, als sich die Aufzugtür öffnete. Mrs Whitlocks Tochter. Wie üblich war sie lässig-elegant gekleidet.

„Wir sind hier drüben, Teri“, rief Mrs Clement.

Teri steckte ihren Besucherausweis an den Kragen und kam zu ihrem Tisch. „Wie nett! Eine Partie Kniffel! Du liebst Kniffel doch, nicht wahr, Mutter?“

„Wir spielen nicht um Geld.“

Teri gab ein nervöses Lachen von sich und strich ihrer Mutter mit den Fingern durchs Haar, als wolle sie versuchen, es zu bändigen. „Nein, Mutter. Nicht um Geld.“ Sie wandte sich an Mrs Clement. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Enkelin hast, Marjorie. Wie nett!“

Wren lächelte sie an. „Ich gehöre zum Hauspersonal. Aber heute bin ich nur zu Besuch.“

Teri schlug die Hand vor die Stirn. „Ach, entschuldigen Sie bitte! Ohne Ihre Uniform habe ich Sie gar nicht erkannt.“ Und mit einem kurzen Schnuppern, wie eine Mutter es am Popo ihres Babys machen würde, zog sie die Nase kraus. „Ich denke, wir bringen dich jetzt besser mal in dein Zimmer, Mutter. Heute hat dich scheinbar noch niemand frisiert.“ Sie bedachte Wren mit einem fragenden Blick.

Wren spürte, wie sie errötete. Sie wollte gerade die Situation erklären, als Mrs Whitlock sagte: „Meine Haare brauchen nicht gemacht zu sein, wenn ich spielen will.“

„Ich denke, du fühlst dich dann besser.“ Teri schob den Stuhl ihrer Mutter zurück und zog den Rollator heran. Dann gab sie der Schwester, die gerade auf die Station zurückgekommen war, ein Zeichen. „Ich brauche hier ein wenig Hilfe, bitte.“

Wren stand auf.

Teri warf ihr einen scharfen Blick zu. „Das nächste Mal“, flüsterte sie, „sollten Sie die Würde einer Person vielleicht mehr achten. Selbst an Ihrem freien Tag.“

B

Ein paar Stunden später, nachdem Wren einige Zeit mit Mr Kennedy Golf geschaut hatte, regnete es so stark, dass sie nicht mit dem Rad nach Hause fahren konnte. Während sie wartete, dass der Regenschauer nachließ, machte sie es sich in einer stillen Ecke der Lobby bequem und rief ihre Mutter an.

„Hast du der Tochter erklärt, wie das gekommen ist?“, fragte Jamie, nachdem Wren ihr von dem Vorfall berichtet hatte.

„Das wollte ich ja, aber als Mrs Whitlock wieder frisch gemacht worden war, saß ich bei Mr Kennedy. Ich habe nicht mitbekommen, wie ihre Tochter gegangen ist.“ Ein Donnerschlag brachte die Fenster zum Klirren.

„Zu schade, dass sie nicht sieht, wie viel du für die Heimbewohner tust. Weit mehr als das, wofür du bezahlt wirst.“

Wren erkannte diese Bemerkung als Einleitung zur üblichen „Ich mache mir Sorgen darüber, wie viel Zeit du dort verbringst“-Standpauke, auf die in der Regel die Frage danach folgte, mit wem sie sich sonst so traf. „Ich würde das nicht machen, wenn ich selbst keine Freude daran hätte“, antwortete sie deshalb rasch. Dann wechselte sie das Thema und fragte nach Zoe.

„Sie ist hier. Möchtest du mit ihr sprechen?“

„Ja, gern. Gib sie mir mal.“

„Ist gut. Wren, Schatz, ich hab dich lieb. Ruf an oder schreib mir, damit ich weiß, dass es dir gut geht, okay?“

„Mach ich. Danke, Mama. Ich hab dich auch lieb!“

Sie hörte ihre Mutter sagen: „Deine große Schwester möchte mit dir sprechen.“ Dann wurde ein Stuhl zurückgeschoben.

„Ich male gerade Sonnenblumen. So wie Vincent!“, zirpte eine hohe Stimme ins Telefon.

„Wirklich? Wow! Du musst mir ein Bild davon schicken, okay?“

„Wenn ich fertig bin“, erwiderte Zoe.

Der ernsthafte Tonfall ihrer kleinen Schwester brachte Wren zum Lächeln. „Ist gut. Abgemacht.“

Wren sah zu, wie der Regen auf den Asphalt prasselte, während Zoe in allen Einzelheiten ihr Bild beschrieb: die Anzahl der Sonnenblumen, wie viele grüne Blätter und gelbe oder orangene Blütenblätter jede Blume hatte, wie viele schwarze Punkte sie bereits für die Samen gemacht hatte, welche Farbe die Vase haben sollte und wohin sie ihren Namen schreiben würde. Wren war nicht sicher, ob Zoe ein Bild von Vincents Sonnenblumen kopierte oder ob sie sich einfach mit bemerkenswertem Blick für die Einzelheiten an die Bilder erinnerte, die sie sich nach ihrer Reise nach Chicago in Wrens Bildbänden angeschaut hatten.

„Das klingt toll“, sagte Wren, als Zoe fertig erzählt hatte. „Ich kann es kaum erwarten, es mir anzusehen.“

„Vielleicht kannst du ja herkommen, dann zeige ich es dir.“

„Das mache ich, Zoe. Ganz bald.“

„Wann?“

Wren hütete sich, irgendwelche konkreten Versprechungen zu machen. „Das weiß ich noch nicht genau. Aber ich hab eine Idee: Wie wäre es, wenn wir uns dein Bild irgendwann in der nächsten Woche mal über Facetime anschauen?“

„Okay“, stimmte Zoe zu. „Malst du auch Sonnenblumen?“

„Nein, ich habe in letzter Zeit zu viel zu tun und komme nicht zum Malen. Aber neulich habe ich so einen komischen Vogel im Garten gesehen, vielleicht male ich den.“

„Was hat er gemacht?“

„Er hat Körner im Vogelhäuschen gepickt. Aber er sah lustig aus, weil er einen kahlen Kopf hatte.“

Zoe lachte. „Vögel haben doch keine Haare!“

„Ja, das stimmt. Aber dieser hatte alle seine roten Federn auf dem Kopf verloren, darum sah er kahl aus. Wie ein Vogel in einem Cartoon, der einen viel zu großen roten Mantel trägt.“

„Oh.“ Wren sah es vor sich, wie Zoe die Nase krauszog und versuchte, sich das vorzustellen. „Hast du ein Foto gemacht?“

„Ja. Ich schicke es Mama, dann kannst du es dir auch ansehen, okay? Und wir verabreden eine Zeit, wo wir beide gemeinsam malen.“

„Okay.“

Wrens Blick wanderte durch das Fenster nach draußen. Der Regen hatte aufgehört. Jetzt brauchte sie nur zehn regenfreie Minuten, um mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren. „Grüße Papa, Olivia und Joel von mir.“

„Sie sind im Augenblick nicht da.“

„Das ist schon in Ordnung. Dann, wenn du sie das nächste Mal siehst. Und sag Mama, sie soll dich von mir umarmen.“

„Und mir einen Kuss von dir geben“, forderte Zoe.

„Ja. Auch einen dicken Kuss.“ Wren machte ein übertriebenes Schmatzen, und Zoe machte es nach.

Zusammen mit ihrer Schwester zu malen, das könnte der Anstoß sein, den sie brauchte, um eine kreative Gewohnheit wieder aufzunehmen, die ihr guttat, dachte Wren, während sie nach Hause radelte. Monate waren vergangen, seit sie die Bilderreihe zum Kreuzweg fertiggestellt hatte. Ja, sie hatte viel persönlichen Gewinn daraus gezogen, über die Bibeltexte zur Passion Jesu nachzudenken und die Bilder zu malen, aber das Projekt war doch emotional sehr anstrengend für sie gewesen. Seither hatte sie nicht mehr einfach nur zur Entspannung gemalt, nicht einmal abstrakte Kompositionen als Gebet. Das könnte erklären, warum sie sich so ausgelaugt fühlte. Vielleicht war es der falsche Ansatz, einfach nur zu warten, dass der Brunnen ihrer Kreativität wieder zu sprudeln begann, bevor sie den Pinsel zur Hand nahm.

Kit hatte das vermutlich erkannt. Aber abgesehen davon, dass sie gelegentlich sagte: „Das wäre bestimmt ein gutes Motiv für ein Bild“, drängte sie sie nicht.

Als Wren zu Hause ankam, rechnete sie damit, Kit lesend oder schlafend auf der Couch vorzufinden. Aber sie war nicht da. Ihre Schlüssel und ihre Handtasche lagen auf der Arbeitsplatte in der Küche, und aus ihrem Zimmer am Ende des Flurs drang durch die halb geöffnete Zimmertür ein leises Schnarchen.

Vorsichtig stellte Wren ihren Rucksack ab und zog die Schuhe aus. Vielleicht würde sie heute auch früh zu Bett gehen. Dann bräuchte sie nicht länger über Teri nachzudenken, die ihr vorwarf, faul und selbstsüchtig zu sein.

Sie war nicht faul. Sie war nicht selbstsüchtig. Und schon gar nicht in ihrem Verhältnis zu den Bewohnern von Willow Springs. Dieser Vorwurf war nicht gerechtfertigt. Er stimmte einfach nicht. Und doch verletzte er sie.

Es war ja nicht nur Teri. Da waren auch Brooke und Caseys Mutter. All die schrecklichen Dinge, die sie über sie gesagt hatten – durch ihre enge Freundschaft zu Casey hätte sie seine Ehe mit Brooke bewusst sabotiert, und sie hätte seiner Familie „irreparablen Schaden“ zugefügt durch diesen Trauergottesdienst, den sie „aus selbstsüchtigen Motiven“ organisiert hätte.

Immer wenn Wren müde war, stiegen die Vorwürfe wieder in ihr hoch. Immer wieder bemühte sie sich, diese Dinge von sich zu weisen und sie nicht in sich Wurzeln schlagen zu lassen, doch dieser Schmerz war eine offene Wunde, die sich einfach nicht schließen wollte. Egal, wie sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr nicht.

Sie goss sich ein Glas Limonade ein und setzte sich an den Tisch. Kit würde ihr vielleicht raten, mit offenen Händen zu beten, allen Schmerz und die brennenden Vorwürfe loszulassen und offen dafür zu sein, Trost von Gott zu empfangen. Seine Gnade. Seinen Frieden. Seine Liebe. Seine Hoffnung. Sie löste ihre Finger. Mit geballten Fäusten war es unmöglich, etwas loszulassen oder zu empfangen.

„Ich dachte doch, ich hätte etwas gehört“, sagte Kit, als sie ein paar Minuten später im Schlafanzug in die Küche schlurfte. Ihre kurzen weißen Haare waren zerzaust, die Brille saß schief.

„Hallo, Kit.“ Wren legte ihre geöffneten Hände in den Schoß.

„Bist du gerade erst nach Hause gekommen?“

„Schon vor einer Weile.“

„Du meinte Güte, ich war so weit weg. Hab tief und fest geschlafen.“ Sie gähnte und streckte sich. „Hast du schon was gegessen? Ich habe noch ein halbes Sandwich vom Mittagessen übrig.“

„Ich mache mir später etwas, danke. Ich habe keinen großen Hunger.“

Kit rückte ihre Brille gerade. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Ich bin nur sehr müde.“

Sie würde Kit nicht mit den Einzelheiten ihres Tages belasten, wo die bereits so erschöpft war. Vielleicht würde sie stattdessen noch mal einige ihrer Briefe lesen. Kit wusste ja, wie sehr es schmerzte, wenn einem zu Unrecht Vorwürfe gemacht wurden. Einige ihrer Briefe waren Wren mittlerweile so vertraut, dass sie sie auswendig zitieren konnte.

„Wie war es bei dir?“, fragte Wren. „Wie lief der Kurs?“

Kit strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Gut. Keine besonderen Vorkommnisse.“

Irgendetwas an Kits Lächeln schien nicht zu den Worten zu passen, die sie sagte. Aber es fühlte sich für Wren nicht richtig an, sie jetzt danach zu fragen.