»Wir gehen auf Anfang«, sagt Izzy in die gestresste, gehetzte, gespannte Stimmung. Alle begeben sich in Position. Kameraleute, Beleuchter, Assistenten, Kabelträger, Statisten, Schauspieler. Jeder weiß, wo sein Platz ist.
»Kamera läuft?«, fragt Izzy.
»Läuft«, schallt es zurück.
»Ton läuft?«
»Läuft.«
»Alle set?«
»Set«, echoen die einzelnen Departments.
»Klappe«, fordert Izzy.
Der Klapper tritt vor die Kamera und sagt: »This is Our Time, Folge eins, Szene eins, Take eins!« Er knallt mit der Klappe.
Wir haben einen Augenblick, uns zu sammeln, uns auf uns zu besinnen, auf unsere Rolle, auf den ersten Schritt. Dies ist der Moment, in dem die Hektik der Magie weicht. Von seinem Regiestuhl aus gibt Ferris uns mit einer theatralischen Handbewegung das Zeichen. »Und Action.«
Wir werden zu einem großen Ganzen. Zu einem Körper, der sich in Bewegung setzt. Ich bin Teil von ihnen, sie sind Teil von mir. Und dennoch spüre ich, dass die Kameras auf mich gerichtet sind. Dass die Blicke auf mich gerichtet sind wie die Blicke der Zuschauerinnen und Zuschauer in ein paar Monaten. Ich bin ihr Star. Ich bin der Star. Ich mag nicht unbedingt freiwillig hier sein, doch nun genieße ich es. Genieße, dass es um mich geht. Um Rio McQuoid . Um das, was ich kann. Um das, was ich bin. Oder vorgebe zu sein. Um die Erwartungen, die ich erfülle.
Es ist mein Auftritt.
Es ist Ryders Auftritt.
Es ist mein Auftritt.
Ich trage Jeans, die locker auf der Hüfte sitzen, Chucks, eine Lederjacke. Ich bin das absolute Klischee eines Kleinstadt-Bad-Boys, aber ich bin verdammt noch mal fucking hot. Und in diesem Moment, da ich das erste Mal durch den Flur der Highschool schreite – große Schritte, den Blick nicht nach rechts und links wendend, Kopfhörer auf den Ohren, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben – drehen sich die Köpfe meiner Mitschülerinnen und Mitschüler allesamt zu mir um. Doch ich lasse mir nicht anmerken, dass ich es spüre. Dass ich es weiß. Weil es mein Leben lang so war. Ryders Leben lang, Rios Leben lang. Wir sind in diesem Moment eins.
In der Postproduktion wird diese Szene mit Sicherheit in Slowmotion abgespielt. Es wird irgendein dreckig-rockiger Sound daruntergelegt. Der Sound, den Ryder hören würde.
Mädchen tuscheln, Jungs weichen zurück. Selbst der Captain des Football-Teams der Schule, Theo, gespielt von Cas. Einer seiner Kumpels knufft ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Aber auch das sehe ich nicht. Ich weiß es nur. Weil ich mir meiner Wirkung bewusst bin.
Die Münder der Nerds stehen offen, ein Mädchen lässt seine Unterlagen fallen, und ein paar Freundinnen bücken sich, um zu helfen. Ich gehe weiter.
Doch da ist dieses eine Mädchen, das keinerlei Notiz von mir nimmt. Sie steht vor ihrem geöffneten Spind, die Nase in ein Buch vergraben, als hätte sie vergessen, dass es eine Außenwelt gibt. Dass sie etwas aus ihrem Spind holen oder etwas hineinlegen wollte.
Und sie …
Sie fällt Ryder auf. Mir. Auch ohne dass ich meinen Kopf wende. Aber für einen kurzen Moment verändert sich etwas an meiner Haltung. An meiner Ich-gegen-den-Rest-der-Welt-Ausstrahlung. Es ist nur eine Nuance, kaum sichtbar. Ein Zucken. Ein kurzes Sich-Vergewissern der Augen. Aber genug, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer es später wenigstens unbewusst registrieren. Madison Maguire ist etwas Besonderes. Not like other girls. Und wieder so ein toxisches Klischee. Sie wird Ryder zähmen. Sie wird Ryder zeigen, was Liebe ist. Und für diese Liebe wird Ryder bereit sein, sich zu ändern. Schon in dieser ersten Szene weiß das Publikum, was es erwartet. Ryder hingegen weiß es noch nicht. Doch er weiß, dass Madison anders ist.
»Cut«, ruft Ferris.
Sofort fällt die Körperspannung kollektiv von uns ab. Nasen werden gekratzt, Haare aus dem Gesicht gestrichen.
Eine junge Frau mit Puder springt herbei, tupft meine Stirn ab, zupft an Fernes Haaren.
»Wir machen das noch mal. Super, Rio, genau das brauchen wir. Cheerleader, das Schmachtende kommt gut, aber ich brauche gleichzeitig Angst. Als wäre Ryder eure verbotenste Sehnsucht und gleichzeitig eure größte Bedrohung. Casimir, aus der Drehung den Blick auf Rio. Ferne, passt. Alles auf Anfang.«
Wir gehen wieder auf unsere Position.
»Folge eins, Szene eins, Take zwei!«
Ich sammle mich. Zurück in die Konzentration. Zurück zu Ryder. Eins mit ihm werden. Gleichzeitig die größte Sehnsucht und die größte Bedrohung sein. Ich atme ein und aus.
»Und Action.«
Ich bin das absolute Klischee eines Kleinstadt-Bad-Boys, aber ich bin verdammt noch mal fucking hot. Dies ist das erste Mal, dass ich durch den Flur meiner neuen Highschool schreite. Ich mache große Schritte, habe den Blick stur geradeaus gerichtet, weil mich niemand hier interessiert. Niemand. Aus den Kopfhörern auf meinen Ohren kommt irgendein dreckig-rockiger Sound. Meine Hände habe ich lässig in den Hosentaschen vergraben.
Köpfe wenden sich zu mir um. Die Cheerleader-Gang schmachtet mich an, jedoch nicht ohne den nötigen Respekt. Sie haben noch nie jemanden wie mich gesehen. Ich störe ihre Idylle, aber ich bringe ihnen genau das, was sie wollen. Selbst der Football-Captain weiß, dass die Zeiten, in denen ihm alle zu Füßen lagen, nun vorbei sind. Erbärmlicher kleiner Wichser. Ich habe im Gegensatz zu dir – zu euch – die Welt gesehen. Dinge erlebt. Schlimme Dinge. Ich bin jemand, während ihr noch denkt, eine Identität bestehe aus illegalen Partys und Macho-Sprüchen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich das Mädchen. Die Nase tief in einem Buch vergraben. Doch ich wende mich nicht um. Sie kümmert mich nicht. Ich bin nicht ihretwegen hier. Aber warum fällt sie mir auf? Meine regelmäßigen, langen, forschen Schritte kommen für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Takt. Ein Zögern. Ein Zucken. Ein … Der Moment ist vorbei.
»Cut!«
Wir drehen die Szene noch zwei weitere Male. Dann ein paar andere kurze Flur-Sequenzen, zwei Klassenzimmer-Szenen und dann die Szene vom Vorsprechen. Die Anspannung ist greifbar. Bislang musste Ferne, abgesehen von ein paar Sätzen mit Cas, bei denen ich mir sicher bin, dass der Streber sie mit ihr geübt hat, nicht vor der Kamera sprechen, und mir schwant Übles. Es ist nichts Persönliches. Vielleicht hat Ruben sogar recht, und sie ist nett. Aber nett ist etwas anderes als professionell. Und ich habe keinen Bock, dass sie mir meine Zeit stiehlt.
Sie steht vor mir, die Arme verschränkt, den Blick gesenkt, und murmelt etwas.
»Wie bitte?«, frage ich. Muss sie jetzt rumnerven?
»Um nicht in Ohnmacht zu fallen, wiederholen Sie stets: Es ist bloß ein Film!« , sagt sie etwas lauter.
»Bist du okay im Kopf?« Wenn sie durchdrehen will, dann bitte nach Feierabend.
»Das ist ein Filmzitat«, sagt sie. »Aus Wes Cravens Horrorklassiker Das letzte Haus links . Fand ich irgendwie passend. Ein Freund von mir hat neulich … Ach egal.«
Und das kann sie laut sagen. Vollkommen egal. »Wow.« Aber ich meine jeden der drei Buchstaben sarkastisch.
»Du hast gefragt«, gibt sie zurück, und ja, das habe ich. Wird mir aber eine Lehre sein, es nicht mehr zu tun.
»Folge zwei, Szene acht, Take eins!«
Ich lehne neben ihrem Spind. Die Beine lässig übereinandergeschlagen, eine unangezündete Zigarette im Mund, die mir die Requisite gerade gereicht hat. Es gibt ein Foto von James Dean, auf dem er an einer Wand lehnt, eine Zigarette lose im Mund hängen. Es ist die Referenz, die Ferris mir für diesen Shot gezeigt hat.
»Und Action.«
Das Schrillen der Schulglocke wird erst später hinzugefügt, aber die Türen öffnen sich dennoch alle wie auf ein Kommando, und Schülerinnen und Schüler strömen aus den Klassenzimmern. Kameras begleiten sie hinaus auf den Gang, eine Handkamera ist auf Ferne gerichtet.
»Cut!«, ruft Ferris nach nur zehn Sekunden, arrangiert um, weist Ferne auf ihren Gang hin – »weniger Roboter, mehr Mensch« –, verdreht die Augen.
»Folge zwei, Szene acht, Take zwei!«
Diesmal schafft Ferne es bis zu ihrem Spind, ich nehme die Zigarette aus dem Mund und zwischen meine Finger.
»Cut! Alles auf Anfang!«
»Folge zwei, Szene acht, Take drei!«
»Geh mit mir aus. « Ich trete einen Schritt auf sie zu, die Zigarette zwischen meinen Fingern.
»Nein. « Sie weicht einen Schritt zurück.
»Cut!«
»Folge zwei, Szene acht, Take vier!«
Menschen strömen aus Klassenzimmern, eine Kamera konzentriert sich auf Ferne, eine weitere auf mich. Sie öffnet ihren Spind.
»Geh mit mir aus. «
»Nein. «
»Geh mit mir aus, Madison. «
»Das ist keine gute Idee. « Sie zuckt mit den Schultern.
»Cooler, Madison!«
»Wir laufen weiter«, sagt Izzy, und so wiederhole ich meinen Satz.
»Geh mit mir aus, Madison. «
»Das ist keine gute Idee. « Sie klingt cooler, gleichgültiger.
»Warum nicht? « Während sie schon zwei Schritte von mir weg gemacht hat, setze ich mich erst jetzt in Bewegung. Dafür aber umso schneller. Ich packe sie von hinten an der Schulter wie der grenzüberschreitende Wichser, der Ryder offenbar ist.
»Weil du ein Arschloch bist, Ryder, deswegen. « So kann man es auch sagen. Beim Vorsprechen klang sie bestimmt und selbstbewusst. Doch heute …
»Cut!« Ferris steht auf. »Wo ist eure Chemie hin? Was ist das?« Ich mache mir nicht die Mühe, zu sagen, dass Ferris’ Launen vielleicht mit ein Grund sind, warum nach mehreren Stunden Schikane wenig Spielraum für Chemie ist. Denn das muss man aushalten. Das ist der Deal.
Während Ferris Anweisungen gibt, zupfen zwei Frauen an Ferne herum, um ihre Haare und ihr Outfit zu richten.
»Weil du ein Arschloch bist, Ryder, deswegen. «
»Noch mal!«
»Weil du ein Arschloch bist, Ryder, deswegen. «
»Noch mal!«
»Weil du ein Arschloch bist, Ryder, deswegen. «
»Cut! Fünf Minuten Pause.«
Ich beschließe, die Zigarette zwischen meinen Fingern zu rauchen, und gehe nach draußen. Sie wird einfach nicht besser. Sie kann es nicht. Wenn sie es je konnte, war es Zufall.