18

 

 

»Rio, beug dich näher, gib mir diesen Blick. Ja!«

Click, click, click.

»Ferne, Körpersprache weg von ihm. Aber den Blick nicht unterbrechen. Rio, halt sie fest. Genau so.«

Click, click, click.

»Und jetzt seid euch nah. Umarmt euch mal. Tiefere Blicke. Ferne, Lippen leicht geöffnet.«

Wir sehen uns an, sie öffnet leicht die Lippen, als würde sie seufzen, und kurz finde ich das auf eine sehr unschuldige Weise sexy. Unschuldig, weil ich heute nicht Ryder bin, der Madison am liebsten auf der Stelle auffressen würde, so peinlich geil, wie er auf sie ist. Und weil sie heute nicht Madison ist, sondern Ferne. Die ehemalige Praktikantin mit den bunten Klamotten, die mich mit ihrer Unfähigkeit zur Weißglut treibt. Aber dennoch sind ihre Lippen und dieser Ausdruck in ihren Augen gut. Gut für irgendetwas, für irgendjemanden. Ob sie einen Freund hat? Und was der wohl dazu sagt, dass sie demnächst vor der Kamera mit mir rummachen wird?

Click, click, click.

»Rio, nimm mal ihr Gesicht in deine Hände. Die linke Hand weiter hinten, damit man sie noch sehen kann. Ja, so.«

Ihre Wangen sind weich, und fast erwarte ich, sie würde zurückweichen, weil diese Art von Nähe zwar normal ist, während die Kamera läuft, wenn wir Ryder und Madison sind, aber dieses Fotoshooting hat eine ganz andere Atmosphäre. Eine für sie ungewohnte noch dazu. Aber sie bleibt. Und sie lächelt ein bisschen. Funkelt mich beinahe an.

Und dann sagt sie: »Ich hoffe, du hast dir die Hände gewaschen.«

Ich bin so überrascht von ihrer Retourkutsche für den Castingtag, dass ich gegen ein Lachen ankämpfe.

»Genau das!«

Click, click, click.

»Gib mir mehr von diesem Glück. Von der frischen Verliebtheit!«

Ferne ringt mit sich, das sehe ich. Und ich ebenso. Doch sie verliert den Kampf als Erstes und prustet los.

»Sorry«, sagt sie gleich darauf und versucht, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

Aber nun muss auch ich lachen. Nur kurz. Und nur, weil es für mich einfach schwer vorstellbar ist, wie man so wenig professionell an diese Sache herangehen kann.

Click, click, click.

»Sehr schön, Leute. Diese Ungezwungenheit ist genau das, was wir brauchen.«

 

Ein paar Outfit-Changes später, während denen Leute vom Social-Media-Team für This is Our Time um uns herumspringen, um ein paar Eindrücke hinter den Kulissen einzufangen, machen wir Einzelaufnahmen.

»Wer von euch will zuerst?«, fragt der Fotograf.

Ich sehe zu Ferne. Warum auch immer spuken mir Emilys Worte noch im Kopf herum. Von wegen, dass es nicht leicht für Ferne sei. Und warum auch immer lässt es mich nicht kalt. Nerviger Scheiß. Kurz rede ich mich vor mir selbst damit raus, dass ich mir einfach nur wünsche, sie hielte den Betrieb nicht auf. Aber es ist eine Sache, mit jemand anderem vor der Kamera zu stehen. Jemand, den man ein bisschen als Anker benutzen kann, als Inspiration. Aber ganz allein, nur mit den Anweisungen des Fotografen …

»Ich kann gern anfangen«, sage ich, und wenn mich nicht alles täuscht, ist das Lächeln, das sie mir zuwirft, ein erleichtertes. Sicher sein kann ich mir nicht, schließlich hat sie vielleicht auch Erleichterung vor ihrem beschissenen Spiegel geübt wie das absolute Klischee einer Schauspielanfängerin.

Da ich seit Jahren als Model für Ermenegildo Zegna arbeite, die Kamera mich ohnehin liebt und ich die Kamera auch nicht ganz scheiße finde, fällt es mir leicht, in meine Rolle zu schlüpfen. Hier bin ich eine statische, eine übertriebene Version von Ryder. Die dunklen Blicke, die vor der Filmkamera überzogen und beinahe theatralisch wirken würden, sind hier genau richtig. Das flirty halbe Lächeln. Die Haare, die mir in die Stirn fallen. Die Scheiß-auf-alles-Haltung, die vor Selbstverliebtheit nur so strotzt.

Der Fotograf ist sehr zufrieden, und nach einer knappen Viertelstunde haben wir bereits genug Material im Kasten.

Ferne tut sich schwerer, und da hilft es auch nicht gerade, dass Lidia und Casimir, mit denen wir noch ein paar Gruppenaufnahmen machen sollen, in diesem Moment ins Studio platzen. Lidia schürzt gehässig die Lippen. So, wie sie es während der ersten Drehtage auch gemacht hat. So, wie ich es während der ersten Drehtage auch gemacht habe.

»Mach dich locker. Schlacker mal mit den Armen, hüpf auf und ab«, sagt der Fotograf.

Doch Ferne wirkt gehemmt. Natürlich. Je mehr Zuschauer, desto schwieriger ist es, sich keine Gedanken zu machen, wie man wirkt.

»Das wird wohl wieder mal ein langer Tag. Danke, Ferne«, sagt Lidia und sucht in meinem Gesicht nach Zustimmung. Aber meine Miene bleibt ausdruckslos. »Also echt mal. Das kann doch nicht sein, dass wir alle dauernd Überstunden machen müssen, weil Ferris einen Aussetzer hatte und sie durchgeboxt hat.« Sie verdreht die Augen. Und ich verstehe sie. Ich verstehe, dass sie genervt ist. Wir sind alle genervt. Aber erstens habe ich es noch nie erlebt, dass man bei einem Dreh keine Überstunden gemacht hätte, und zweitens … ich kann selbst kaum glauben, dass ich das wirklich denke … ist niemandem mit Lidias Laune geholfen.

»Ich glaube, mit Unterstützung könnte man mehr erreichen als mit diesem ewigen Gejammere«, sage ich, gehe zum Kühlschrank und hole mir eine Flasche Wasser.

Lidia sieht mich völlig entgeistert an. »Was ist denn auf einmal mit dir los? Hattest du Sex, oder was?«

Ich wüsste nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte. Es sei denn, ich hätte Sex mit Ferne gehabt, was, gewöhnlich, wie sie aussieht, so weit außerhalb meiner Vorstellungskraft liegt, dass wahrscheinlich sogar ich Schwierigkeiten haben werde, es vor der Kamera glaubhaft hinzukriegen.

»Ich habe ihr gestern ein paar Tipps gegeben, und sie hat sie tatsächlich umgesetzt. Das ist alles.« Ich zucke mit den Schultern.

»Okay …« Lidia verzieht den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

»Du siehst klasse aus«, hört man in diesem Moment Cas, dessen Klatschen durch den Raum hallt, und der Fotograf stimmt ihm zu.

»Super, ja. Aber versuch’s mal mit einem Blick in die Weite.«

Ferne sieht irgendwohin. Nirgendwohin. Aber es ist nicht das, was der Fotograf wollte.

»Vielleicht …« Er wendet sich um, sieht mich am anderen Ende des Raums. »… schaust du Rio an?«

Ferne schluckt. Das erkenne ich von hier hinten. Wie gestern, als sie mich angesehen hat. Das war ziemlich witzig. Gut fürs Ego. Wenn mein Ego es nötig hätte.

Ich mache eine Grimasse in ihre Richtung. Eine lustige Grimasse. Und sie muss grinsen. Gut so.

Click, click, click.

Dann werde ich auf einmal ernst. Sehe sie einfach nur an. Und sie mich. Vielleicht hilft es, wenn wir für einen Moment Ryder und Madison sind.

Click, click, click.

Ihr Gesichtsausdruck verändert sich kaum merklich. Der Fotograf und ich sind mit Sicherheit die Einzigen, die es registrieren. Aber die Kamera wird diesen Blick einfangen. Und ich weiß, dass wir genau das wollen.

Ich streiche mir mit dem Daumen über die Lippen. Unbewusst. Bewusst. Unbewusst bewusst. Als wäre genau dort auf meinen Lippen eine Leere, die mir gerade aufgefallen ist. Und auf einmal öffnen sich ihre Lippen. Wie vorhin. Da ist wieder dieses Nicht-Seufzen, das eigentlich ein Seufzen ist.

Click, click, click.

Perfekt.

 

In schicken Roben, die wirken sollen, als wären wir auf unserem Prom, bringt uns eine der Assistentinnen in Position.

»Ferne und Rio in die Mitte. Casimir, Lidia, an den Rand und ein bisschen nach hinten versetzt«, weist uns der Fotograf an.

»Sorry, aber sollten wir nicht darauf achten, dass das Bild wenigstens ein bisschen sexy wird?«, mischt sich Lidia ein. Sie macht einen Schritt nach vorn und stellt sich schräg vor Ferne.

»Die beiden Hauptfiguren nach vorne«, sagt er erneut.

»Aber wenn ich hinter Ferne stehe, werde ich vollkommen von ihr verdeckt.« Das ihr klingt wie eine Beleidigung. »Sorry, Süße, nichts gegen dich«, fährt sie an Ferne gewandt fort, »aber ich bin nun mal ungefähr die Hälfte von dir.«

Und wer ist jetzt der Grund, warum wir Überstunden machen müssen? Auch wenn Lidia natürlich recht hat. Ferne hat mehr auf den Rippen als sie – mit Ausnahme der Brüste. Ich spüre bei jeder Berührung, dass Fernes Körper nicht fest und definiert ist wie Lidias, sondern so weich, dass ich meine Finger in sie hineindrücken kann. Aber wenn Ferris und die Produzenten es relatable für die Zielgruppe finden, füge ich mich eben.

»Man wird genug von dir sehen«, gibt der Fotograf zurück. »Rio, die Hände an Fernes Hüften, Ferne, einen Schritt weg von ihm, als würdest du weglaufen wollen. Lidia, eifersüchtiger Blick.«

»Den sieht ohnehin niemand, solange ich hinter ihr stehe«, schmollt sie, und während ich wieder einmal überrascht bin, wie sehr Fernes Körper unter meinen Fingern nachgibt, verliere ich die Geduld.

»Lidia, halt jetzt mal die Klappe. Wir machen hier alle einen Job, okay?«

Ich spüre, wie Ferne sich vor Überraschung versteift, und auch ich selbst bin etwas überrumpelt von meinen eigenen Worten. Ihr Tipps geben, wie sie vor der Kamera einigermaßen glaubwürdig wird, ist eine Sache. Sie zum wiederholten Mal vor Lidia, mit der ich vielleicht in den nächsten Monaten mal im Bett landen könnte, zu verteidigen, eine andere. Ich sollte Ruben fragen, ob es sein kann, dass seine Frau eine Hexe ist.

Lidia keucht auf und macht Anstalten, noch etwas zu sagen, aber in diesem Moment hört man die Kamera klicken und sie gibt sich erst einmal geschlagen.

Die ersten Posen sind vielleicht noch ein bisschen steif, aber Cas macht Späße, über die selbst Lidia lachen muss, und ich merke, wie Ferne neben mir lockerer wird. Ich habe keine Ahnung, ob Lidias Worte sie treffen, und es kann mir auch egal sein. Aber meistens wirkt sie ziemlich selbstbewusst, obwohl sie keine von uns ist.

Und während die Kamera klickt und während der nächsten Tage gewöhne ich mich langsam an sie. An ihre Anwesenheit. Und an das Gefühl ihres Körpers unter meinen Fingern.