Er sieht mich perplex an. Und das ist gut so. Denn irgendwas ist in den letzten Minuten passiert. Irgendwas, das mein Kopf nicht auf die Kette kriegt. Irgendwas, das macht, dass ich in Rios Gesicht sehe und mir nicht mehr sicher bin, was zu welcher Realitätsebene gehört. Ich bin nicht wie er. Ich bin nicht abgeklärt. Ich bin die Normale. Er ist der Star. Und er kann vielleicht den Schalter auch im Hier und Jetzt umlegen, aber ich kann das nicht. Ich kann es nicht, weil ich sauer auf ihn bin, weil er mir das Gefühl gibt, nicht dazuzugehören. Und ich kann es vor allem nicht, weil mein Gehirn nicht gemacht ist für eine Überforderung, die daraus resultiert, dass man den besten Kuss der Welt miteinander teilt, der dazu führt, dass man die ganze Nacht mit Schmetterlingen im Bauch wach liegt, obwohl man sich nicht leiden kann.
»Wo kommt das denn auf einmal her?«, fragt er.
»Vergiss es«, sage ich, weil ich keine Lust habe, ihm zu erklären, wie man sich als Normalsterbliche unter lauter Monsteregos fühlt.
»Okay«, erwidert er, macht aber keine Anstalten, seinen Gang zu beschleunigen. Oder zu verlangsamen. Also trotten wir schweigend nebeneinanderher, bis wir bei unseren Trailern angelangt sind.
»Bis gleich, Ferne«, sagt er, sieht mich einen Moment zu lange an, sodass da wieder Schmetterlinge flattern, und winkt. Und diese so abstrus normale Geste verwirrt mich nur noch mehr.
In den nächsten Tagen ist Rio verblüffend nett. Und verblüffend präsent. Als hätte sich durch den Kuss tatsächlich etwas in unserer Dynamik verschoben. Und ich … bin verblüffend gern in seiner Nähe.
In den Drehpausen macht er Konversation. Manchmal reißt er sogar einen Witz und sieht sehr selbstzufrieden aus, wenn ich lache, während Lidia mir Todesblicke zuwirft. Er fragt mich, ob er mir etwas vom Büfett mitbringen soll. Eines Morgens will er mir sogar meinen Rucksack vom Parkplatz zum Trailer tragen, und weil die Schmetterlinge oder mein Herz selbst ein bisschen zu heftig flattern, lehne ich ab. Vehement. So weit kommt es noch.
Aber als er in der Maske fragt, ob er einen Schnappschuss von uns beiden, den er im Spiegel geschossen hat, auf Instagram posten darf, bin ich zu überrascht, um abzulehnen.
»Seit wann postest du überhaupt selbst?«, nuschle ich in mich hinein und versuche, mir nichts darauf einzubilden, dass er ein Foto von uns beiden posten will.
Er zuckt mit den Schultern. »Find das Bild einfach witzig.« Okay, gut. Witzig. Damit kann ich arbeiten. Damit kann ich das Flattern in den Griff kriegen.
Eine halbe Minute später klingelt sein Handy. Noch besser.
»Steve«, sagt er als Erklärung an mich gewandt. »Hey, Mann, was gibt’s?«, fragt er.
Ich kann nicht hören, was am anderen Ende der Leitung gesagt wird, aber ich nehme wahr, wie sich Rios Körperhaltung verändert. Wie er sich anspannt. Obwohl es mir egal sein sollte, gefällt es mir nicht.
»Und wenn ich keine Lust drauf habe?«, fragt er. »Nein, zufällig nicht. … Wieso sollte ich das absprechen? … Die können mich mal mit ihrem Content-Plan. Es ist mein Account und da poste ich, was ich … Alter, chill. … Dann frag Lidia doch selbst. … Ja, ganz genau. Ich bin der Boss. … Ja, okay. … Ja, okay. … Ja, ich weiß. … Bye.«
Als er aufgelegt hat, weicht er meinem Blick aus.
»Ärger im Paradies?«, frage ich.
»Steve denkt, es ist besser, wenn die Agentur meine Social-Media-Profile betreut.«
»Tut sie doch auch, oder?«
»Ja, aber heute hatten sie wohl irgendwas mit Lidia geplant. Und jetzt können sie es nicht mehr posten, weil du schon im Feed bist. Sonst sehe ich aus wie ein Womanizer oder so.« Er schnaubt, und ich ignoriere, dass die Erwähnung von Lidia sticht. »Bullshit.«
»Aber du bist der Boss, oder?«
»Ja, das sagt Steve auch.« Aber in diesem Moment wirkt er nicht, als wäre er der Boss. In diesem Moment wirkt er wie ein kleines Kind, das geschimpft wurde. Und auf einmal habe ich Mitleid mit ihm. So, dass ich ihn gern umarmen würde. Ganz eng. Lass es, Ferne.
»Und warum wollten sie was mit Lidia posten?«
»Es soll so aussehen, als wollte sie was von mir.« Er sagt es, als sei es das Normalste auf der Welt. Und wieder sticht es kurz.
»Wie bitte?«
»Zu Promo-Zwecken.«
»Und was sagt Lidia dazu?«
»Sie fand’s nicht geil, aber was soll sie machen?«
Nein sagen , will ich erwidern. Grenzen setzen. Aber weil ich keine Ahnung habe und weil Rio mich aus dem Spiegel so seltsam ansieht, schweige ich.
An diesem Tag kommen wir richtig gut durch die Szenen. Meine durchgemachten Nächte, in denen ich Zeile um Zeile in meinen Kopf prügle, zahlen sich aus, auch wenn das bedeutet, dass meine Augenringe langsam zur Herausforderung für die Maske werden. Rio und ich haben es tatsächlich irgendwie geschafft, genau die Harmonie vor die Kamera zu bringen, die Ferris sich vorgestellt hat. Ob das nun mit meiner körperlichen Reaktion oder seiner neu gefundenen Nettigkeit zu tun hat, weiß ich nicht, aber es funktioniert. Und später kriegen Cas und ich ein ernstes Gespräch über Madisons Gefühle für Ryder, die sie nach wie vor abstreitet, weil sie »zu klug ist, um auf seine billige Masche hereinzufallen «, fast auf Anhieb hin, weil Casimir es mir wirklich leicht macht. Und weil ich es wirklich abstreite.
Sowieso mag einfach jeder Casimir, was ich gut verstehen kann. In einer kleinen Pause überrascht er mich mit einem Kaffee. Und es ist nicht der Filterkaffee, den es am Büfett gibt, sondern ein richtig fancy Iced Caramel Macchiato, der Lidia einen abfälligen Kommentar über Kalorien in meine Richtung entlockt.
»Mach dir nichts draus«, sagt Cas. »Sie ist nur neidisch, weil ich ihr keinen mitgebracht habe. Aber so was gibt’s eben nicht für Leute, die scheiße zu anderen Leuten sind.« Er prostet mir zu. »Auf dich, Ferney Ferne. Darauf, dass der Knoten geplatzt ist. Du kannst echt stolz auf dich sein.«
Ich will gerade erwidern, dass das zu einem Großteil auch sein Verdienst ist. Nicht nur, weil er mir Tipps gegeben hat, sondern auch, weil er dafür verantwortlich ist, dass ich mich hier so etwas wie wohlfühle. Aber da drängelt sich Ferris zwischen uns.
»Na, ihr zwei?«, fragt er mit einem unangenehmen Zwinkern. »Kleiner Kaffeeklatsch? Dauert sicher nicht mehr lange, bis sich eure Zyklen synchronisieren.«
Cas versteift sich. Offenbar entspricht seine Kaffeewahl nicht Ferris’ Männlichkeitsbild.
»Mach dir nichts draus«, wiederhole ich seine Worte von gerade eben, als Ferris wieder verschwunden ist. »Er ist nur neidisch, weil ihm seine Männlichkeit gestern runtergefallen ist. Er wusste wohl nicht, wie zerbrechlich sie ist, sonst wäre er sicher vorsichtiger gewesen. Er wollte sie noch kleben, aber sie ist in so winzige Scherben zersprungen, dass man da echt nichts mehr machen kann.«
Cas lacht, aber ich habe das Gefühl, als würde ihn Ferris’ Kommentar mehr ärgern als mich der von Lidia.
Bei der letzten Szene des Tages bin ich nur noch als Zuschauerin anwesend, denn Theo droht Ryder, ihm alle Knochen zu brechen, sollte er Madison wehtun. Es ist ziemlich witzig zu sehen, wie Rio beziehungsweise Ryder hinter der Kamera vor dem großen Theo in Football-Montur kuscht. Natürlich plustert er sich erst auf, doch Theo zeigt ihm deutlich, dass er es ernst meint.
Wenig später bin ich umgezogen, abgeschminkt und so früh an meinem Auto, dass ich es rechtzeitig zum Essen nach Hause schaffe. Zum zweiten Mal diese Woche. Ich kann mein Glück kaum fassen. Habe ich gerade wirklich einen Alltag?
Ich werfe meinen Rucksack auf die Rückbank, lasse den Motor meiner Rostlaube an und … wundere mich. Das Auto macht irgendein seltsam schleifendes Geräusch, das ich noch nie gehört habe. Oft brauche ich drei Anläufe, bis der Wagen anspringt, aber das hier klingt seltsam. Ich schalte den Motor wieder aus. Warte ein wenig, starte den Wagen erneut. Doch das Geräusch ist immer noch da.
Ich kenne mich nicht mit Autos aus. Mein Dad wollte mir früher immer Dinge erklären, aber mich hat es nie wirklich interessiert. Autos sind für mich in einer Stadt mit richtig schlechtem öffentlichem Verkehrssystem eine Möglichkeit, von A nach B zu kommen. Mehr nicht.
In Filmen steigt man immer aus, öffnet die Motorhaube und wirft einen Blick ins Innere. Also tue ich genau das. Nur dass ich keine Ahnung habe, was ich mir da ansehe. Ich weiß, wo das Öl reinkommt. Wo das Kühlwasser. Aber das ist es auch schon.
»Alles okay?«, ruft eine Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um. Rio hat sein Fenster heruntergelassen und sieht mich durch seine Sonnenbrille an.
»Ich weiß nicht«, sage ich, auch wenn es mir am liebsten wäre, er würde einfach weiterfahren. Der nette Rio macht mir ein bisschen Angst. Und das, was er mit meinen Gedanken anstellt. Und dieses hochnotpeinliche innere Flattern.
Im nächsten Moment steigt er aus und kommt zu mir. »Was ist das Problem?«, fragt er in fachmännischem Tonfall.
»Es macht ein komisches Schleifgeräusch, wenn ich den Motor anlasse.« Ich gehe einen Schritt zur Seite, um etwas mehr Abstand zwischen uns zu bringen, bevor meine Hormone beschließen, dass ich an ihm riechen sollte oder so. Denn er riecht gut. Bis hierher.
»Hmmm. Dann schleift wohl was am Riementrieb.«
»Kennst du dich aus?«
»Nein, aber ich habe in Rambunctious einen Automechaniker gespielt, und da schleifte was am Riementrieb.« Er grinst mich an. Ich mag das Grinsen.
»Und hast du für die Rolle gelernt, was man da macht? Oder ob man weiterfahren kann?«
Er schüttelt den Kopf. »Leider nicht.«
»Mist.«
Ich beginne zu googeln. Manche Seiten sagen, man könne bedenkenlos weiterfahren, manche schicken einen sofort in eine Werkstatt. Sehr hilfreich.
»Shit ey«, sage ich. »Ich fahre wohl in die Werkstatt. Das war’s dann mit dem gemütlichen Abend.«
»Ich fahr dich.«
»Was?« Habe ich ihn richtig gehört?
»Ich fahr dich nach Hause. Lass dein Auto stehen.«
»Aber …«
»Aber?« Er sieht mich forschend an und sieht viel zu gut aus dabei. Wo ist nur meine Immunität hin?
»Du hast sicher was Besseres zu tun. Und ich muss mich ja eh drum kümmern und …« Und das peinliche Flattern wird nicht besser, wenn wir uns auch noch nach Feierabend auf engstem Raum befinden, verdammt.
»Ich habe nichts vor.«
»Echt nicht? Kein fancy Dinner? Keine Drinks aus Bauchnabeln? Keine Gala zugunsten von bedrohten Tieren? Keine Cluberöffnung? Keine Late-Night-Show?« Quasseln gegen die Nervosität. Das klappt immerhin.
»Bist du dann fertig mit der Aufzählung?«
»Sorry.«
»Ich habe heute nichts vor und kann dich nach Hause fahren. Es ist kein Problem. Es …« Seine Stimme wird leiser. »… wäre mir ein Vergnügen.«
Ich kriege eine Gänsehaut. Schnell, sag was, Ferne! »Das ist deine Vorstellung von Vergnügen? Bis nach Burbank im Stau stehen?«
Er nuschelt etwas, das ich nicht verstehe. Dann: »Also? Steigst du ein?«
»Okay?«, sage ich, obwohl das sicher keine gute Idee ist. Aber das Angebot ist einfach wirklich viel zu verlockend.
»Ich muss noch kurz telefonieren, dann geht’s los.«
Er bedeutet mir, schon mal in seinen Wagen zu steigen, einen matt-anthrazitfarbenen Zweisitzer. Und auch wenn ich mich nicht mit Autos auskenne, bin ich mir ziemlich sicher, dass dieses Modell ein Vermögen gekostet haben muss. Zwei Minuten später lässt Rio sich auf den Fahrersitz fallen und fährt los.
»Darf ich dich was fragen?« Die Schranke geht auf, und Rio fährt vom Studiogelände.
»Hat es was mit Fakten über mich zu tun?«
»Mit deiner Autofarbe.«
»Mit meiner Autofarbe? Was ist damit? Gefällt sie dir nicht?«
»Wäre nicht meine erste Wahl, aber darum geht’s nicht.«
»Also gut, frag.«
»Wollen Promis wie du nicht unerkannt sein?«
Seine Mundwinkel heben sich.
»Wäre es da nicht sinnvoller, ein unauffälligeres Auto zu fahren?«
»Aber dann wäre es keine Limited Edition.«
»O nein!«, sage ich und schlage mir in gespieltem Entsetzen die Hände vor den Mund. Das ist gut. Das bin ich. Nicht die nervöse Version, die innerlich von mir Besitz ergriffen hat.
»Dieses Auto gibt es weltweit nur zwanzig Mal.«
»Und?«
»Und ich habe eins davon.«
»Und?«
»Es hat arsch viel Kohle gekostet.«
»Und?«
»Und du fragst mich, ob ich nicht lieber was Unauffälliges fahren sollte?«
»Genau.«
Einen Moment sagt er nichts. Dann, als er auf den Highway fährt: »Ja, okay, vielleicht hast du einen Punkt.«
Der Verkehr schlängelt sich langsam die vier Spuren entlang, und es ist, wie erwartet, überfordernd, Rio so nah zu sein. Besonders, wenn wir schweigen. Besonders, wenn wir schweigen und meine Gedanken dann um die Tatsache kreisen, dass wir uns schon viel näher waren als das hier. Und dann flattert es wieder in mir, sodass es mir vor mir selbst ein bisschen peinlich ist, dass mein Körper so auf einen albernen Filmkuss reagiert.
»Der Kuss, hm?«, sagt er auf einmal in die Stille hinein. Kann er Gedanken lesen? Kann mein Kopf noch heißer werden?
»Ja.« Es ist ein komisches Krächzen, weil wir so lange nicht gesprochen haben. Und weil das Flattern und die Peinlichkeit in mir miteinander ringen.
»Ein einziger Take. Das ist schon was.«
»Ja«, sage ich wieder. Klarer diesmal, aber mit nicht weniger heißem Kopf. Gott sei Dank ist sein Blick auf den Wagen vor uns gerichtet.
»Wie war’s für dich? Ich meine, das war dein erster Filmkuss.«
O Gott, wieso hört er nicht auf, darüber zu sprechen? »Es war …« Wieder ist es nur ein Krächzen, und ich räuspere mich, was ihn dazu bringt, kurz seinen Kopf zu wenden. Na toll. Bestimmt bin ich knallrot im Gesicht.
»Kein Grund, rot zu werden«, sagt er und lacht leise. »Ich wollte nur sichergehen, dass du okay bist. Dass es nicht zu … heftig war oder so.«
Ich brauche einen Moment, bis ich antworten kann, weil das Flattern und die Peinlichkeit und die Hitze sich gegenseitig blockieren. »Es war nicht zu heftig.« Und ich wünschte wirklich, ich würde souveräner klingen und nicht so verdammt piepsig.