Das hier ist der absurdeste Moment meines Lebens. Wir beide, nach Feierabend, hier in meinem Trailer. Weil er mich wieder küssen will. Weil Rio McQuoid mich wieder küssen will. Weil mein Kopf und mein Körper nicht verrückt sind. Sondern weil da was zwischen uns war. Die einzige Frage, die ich nicht loswerde, ist die nach dem Warum.
Warum ich?
Warum jetzt?
Warum wir?
Warum er?
Warum hier?
Warum?
Warum?
Warum?
Ich glaube nicht an Märchen. Ich bin jemand für die Realität. Und zwar für die eine, die ich selbst erleben kann. Dennoch kommt Rio McQuoid auf mich zu. Und ich weiche nicht zurück, auch wenn die Warums nicht geklärt sind.
»Okay«, sagt er mit seiner schönen Stimme. Seine Lippen verziehen sich zu einem ebenso schönen Lächeln. Seine Augenbraue, die mit der Narbe, wandert leicht nach oben.
»Okay«, erwidere ich leise, weil er offenbar erwartet, dass ich ebenfalls etwas zur Konversation beitrage.
Er räuspert sich. Fährt sich mit dem Daumen über die Lippen.
Um Himmels willen, wie seltsam kann es denn zwischen zwei Menschen sein? Zwischen zwei Menschen, wohlgemerkt, die sich vor laufenden Kameras beinahe aufgefressen haben, weil sie auf einmal so gierig nacheinander wurden, dass sie alles um sich herum vergessen haben.
»Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, platzt es auf einmal aus mir heraus. Und das ist fast noch schlimmer, als nichts zu sagen. »Sorry.«
Rio lacht. »Wie was gehen soll?«
»Du weißt, was ich meine. Es ist einfach komisch, weil du aussiehst wie du und …«
»Ich finde, du siehst auch ziemlich aus wie du. So normal …« Er zwinkert.
»Mach dich nicht lustig. Es ist einfach komisch. Dein Leben ist … und meins …«
»Das ist genau das, was ich meinte.« Seine Stimme ist wieder ernst. Und seine Augen haben wieder diesen wehmütigen Ausdruck. »Dein Leben ist so wundervoll normal.«
»Zumindest war es das, bis Ferris beschlossen hat, dass ich jetzt Schauspielerin bin.« Und bis Rio McQuoid beschlossen hat, dass wir uns tatsächlich mögen.
»Und wie recht er damit hatte, oder?«
»Was?«
»Ferris.«
»Womit?« Irgendwie hängt mein Kopf immer noch an dem Gedanken vom tatsächlich mögen fest, was dazu führt, dass sich mein Körper an Rios Körper reiben will. Na toll.
»Dass du Schauspielerin bist.«
Ich winke ab. »Davon bin ich weit entfernt.«
»Das bist du nicht.« Er sieht mich vollkommen ernst an. »Ich weiß, dass ich es dir am Anfang nicht gerade leicht gemacht habe. Ich und Lidia. Und Ferris. Und … Na ja, es muss ziemlich kacke gewesen sein. Aber du warst auch am Anfang schon perfekt für die Rolle. Ich wusste es seit dem Vorsprechen. Da war was in deinen Augen. Da hat was aufgeblitzt, das bei allen anderen gefehlt hat. Du bist eine Schauspielerin. Oder du kannst eine sein, wenn du das möchtest. Eine ziemlich gute noch dazu.«
Mir steht der Mund offen. Hat er das gerade wirklich gesagt? »Ähhh … danke.«
»Ich meine es verdammt ernst, Ferne. Du bist gut.«
Ich dachte, ich wäre einigermaßen okay. Rios Lob macht, dass alles in mir kribbelt und flattert.
»Du bist so gut, dass sogar ich vergessen habe, dass wir spielen.«
»Ich dachte, wir spielen nicht?«, frage ich süffisant.
»Du weißt, was ich meine«, wiederholt er meine Worte von gerade eben. »Der Kuss mit dir. Das war … es war der verflucht beste Filmkuss, den ich je erlebt habe. Und ich hatte schon ein paar. Also ein paar mehr. Vor allem, weil man die meisten immer und immer wiederholen muss, bis sie passen. Aber bei dir, bei dem einen Kuss, den ich gern wiederholt hätte …« Er spricht den Satz nicht zu Ende.
»Ich dachte, es liegt daran, dass ich keine Erfahrung auf dem Gebiet der Filmküsse habe«, gebe ich zu. »Ich dachte, die Verwirrung läge an mir. Oder wäre normal.«
»Die Verwirrung ist nicht normal. Nicht für mich.«
»Aber du hast sie auch?« Ich spreche ganz leise.
»Was denkst du, warum ich hier bin?«
»Wenn du diese Sachen sagst …« Mein Körper fühlt sich auf einmal ganz schwer an. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ich weiß nur, dass sich die Verwirrung von vor der Kamera in eine Verwirrung hinter der Kamera verwandelt. Und das ist unheimlich. »… ist das dann echt?«
Er sieht mich direkt an. Als würde er in mich hineinschauen. »Es ist alles echt. Und es war alles echt.«
»Es war für die Kamera.«
»Und das schließt sich aus?«
»In meiner Realität schon.«
»Okay, wie kriegen wir deine Realität mit meiner synchronisiert?« Es ist ein so seltsamer Satz, aber ich weiß genau, was er meint. Wir leben in verschiedenen Welten. Stammen aus verschiedenen Welten. Das hier ist für ihn Alltag. Normalität. Meine Normalität ist etwas Exotisches für ihn.
»Vielleicht sollten wir erst mal die Realität vor der Kamera und die Realität hinter der Kamera synchronisieren.« Ich sage es mit einem Selbstbewusstsein, von dem ich nicht weiß, woher ich es nehme. Denn was ich damit meine, ist: Lass uns uns wieder küssen. Hier und jetzt. Nur wir beide. Und Rio weiß es. Rio McQuoid. Rio McQuoid schluckt. Rio McQuoid streicht sich über die Lippen. Rio McQuoid überbrückt die letzte Distanz zwischen uns.
»Ich synchronisier dir noch ganz andere Sachen«, sagt er. »Französische Kunstfilme, wenn es sein muss.«
Ich kann mich gegen ein leises Lachen nicht wehren, obwohl es der kribbeligste, surrealste Moment ist, den ich je erlebt habe. Denn wir haben diese Nähe schon geteilt. Wir haben schon unseren Atem geteilt. Unsere Münder. Unsere Zungen. Aber als wir uns jetzt gegenüberstehen, ist da niemand, der »Action« ruft. Kein Scheinwerferlicht, das uns blendet. Keine Mikrofone, die über uns schweben. Keine Menschen um uns herum, die beobachten, was wir tun. Die Atem, Münder und Zungen sehen. Uns filmen. Uns mit der Welt teilen werden.
Als wir uns jetzt gegenüberstehen, sind da wir. Und weil einen Moment nichts passiert, raunt Rio heiser: »Und Action.«
Ich atme seinen Atem, er atmet meinen Atem. Seine Lippen suchen meine Lippen, und meine Lippen finden seine. Rio schlingt die Arme um mich, presst mich an sich, presst seine Lippen auf meine. Er ist stürmisch, drängend, als gäbe es keine Nähe, die nah genug ist. Keine Wärme, die warm genug ist.
Wir stolpern zurück, bis mein Rücken gegen die Wand stößt, was gut ist, weil wir jetzt verschmelzen müssen, oder? Unsere Lippen sind immer noch aufeinandergepresst, ich spüre Rios Atem auf meiner Wange, höre ihn schnaufen, öffne meine Augen einen winzigen Spalt und sehe, dass seine fest geschlossen sind. Und dann …
Es ist alles. Seine Zunge dringt in mich, seine Lippen umschließen meinen Mund. Sein Körper presst sich an mich, sodass ich ihn überall spüre. An mir, in mir, um mich. Und ich glaube, ich hätte etwas essen sollen, denn ich bin mir sicher, dass ich gleich ohnmächtig werde, weil ich in meinem ganzen Leben noch nie so geküsst worden bin. So gierig. So allumfassend. So, dass es sich anfühlt, als wären alle Scheinwerfer der Welt auf mich gerichtet, obwohl es nur Rios Hände, Rios Lippen, Rios Zunge und dann auch Rios Blick sind. Wir sehen uns an, während ich das Gefühl habe, ausgehöhlt zu werden, weil ich mich vollkommen verliere in all diesen Empfindungen, die er in mir auslöst. Mit seiner Zunge. Mit seinem Duft. Mit seiner bloßen Anwesenheit. Als wäre da etwas Magisches zwischen uns. Etwas, das nicht erklärbar ist. In keiner der Realitäten. Etwas, das nicht real sein kann, weil es macht, dass wir schweben.
Seine Augen sind auf mich gerichtet, meine auf ihn. Ich höre, sehe, schmecke alles, und doch reicht es nicht. Ich dränge ihn zurück, will, dass er sich ebenso voll von mir fühlt wie ich mich von ihm, streiche mit meiner Zunge über seine Lippen, seine Zunge, durch seinen Mund. Kämpfe den schönsten, schmerzhaft schönsten Kampf, der je zwischen zwei Menschen ausgefochten wurde. Spüre, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verziehen. Sehe das Lächeln in seinen Augen. Spüre es in mir. Wie es mich weiter entzündet. Von den Zehenspitzen, meine Beine hoch bis zu meinem Bauch, wo es sich zu entladen versucht. Aber es kann nicht raus. Es dreht sich im Kreis, schlägt Purzelbäume, klettert weiter, bis in die Luftröhre oder so. Klettert meine Kehle hinauf. Und dann fange ich an zu lachen.
Ich verstehe nicht, was los ist. Ich bin wie in Trance. High. High von Rio, von Rios Berührung, von Rios Küssen. Erst ist es nur ein Glucksen. Dann ein spürbares Kichern. Und dann will ich mich von ihm lösen, um dem ausgewachsenen, perplexen Lachen Raum zu geben, doch Rio lässt mich nicht und ich ihn ebenso wenig.
Ich lache in ihn, und er weiß zwar vermutlich nicht, was gerade passiert, aber er lacht auch. Sein Lachen erfüllt mich bis oben hin. Unsere Münder sind immer noch eins. Ineinander verschlungen. So wie sich jetzt das Lachen ineinander verschlingt. So wie wir uns verschlingen würden, gäbe es da keine natürliche Grenze.
»Warum lachen wir?«, fragt er, als wir es schließlich doch schaffen, uns atemlos und immer noch lachend voneinander zu lösen.
»Ich küsse Rio McQuoid«, sage ich völlig aufgelöst und halte mir den Bauch. »Ich … küsse … Rio McQuoid.« Und es auszusprechen hilft nicht gegen den Lachkrampf. Im Gegenteil.
»Und das ist witzig?« Er reibt sich ein wenig verlegen über den Nacken, lacht aber ebenfalls nach wie vor.
»Findest du nicht?« Ich pruste.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich vielleicht beleidigt sein sollte.« Er zieht meinen Kopf zu sich, küsst mich auf die Stirn, auf die Schläfe, lacht.
»Ich glaube, ich muss mich hinsetzen«, stammle ich unter erneutem Prusten.
»Ich glaube das auch.«
Und weil meine Beine zu mehr nicht in der Lage sind, lasse ich mich einfach an Ort und Stelle auf den Boden sinken.
»Besser.«
»Erklärst du mir jetzt, was so witzig ist?«
»Ich glaube, das passiert, wenn Realitäten synchronisiert werden. Das ist mit extremen Stimmungen verbunden. So wie wenn Gebirge entstehen, weil tektonische Platten aufeinandertreffen.« So ungefähr fühlt es sich an, Rio zu küssen. So gewaltig. So alles umstürzend.
Rio setzt sich neben mich, nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst meine lachenden Lippen. Küsst sie wieder und wieder, während mein Lachen langsam abebbt. Und als ich mich schließlich wieder gefangen habe und die Absurdität meines Lebens einigermaßen akzeptiert habe, sagt Rio: »Ich mag es ohne Kameras sogar noch ein bisschen mehr.«