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Eigentlich finde ich es fast schade, dass sie aufgehört hat zu lachen. Aber gleichzeitig gefällt es mir, wie überrascht sie mich ansieht. Als könnte sie nicht fassen, was ich da eben gesagt habe. Ich kann es ja selbst kaum fassen, dass diese Worte aus meinem Mund kommen. Dass die Nähe zu Ferne mich diese Dinge denken und dann auch sagen lässt. Out of character nennt man das wohl, und die Filmkritiken würden anmerken, dass diese Charakterentwicklung nicht nachvollziehbar war. Aber die Filmkritiken spüren eben auch nicht Fernes Körper. Sie fühlen nicht diese Sehnsucht nach ihr. Nach ihrem Lachen. Nach ihrem Blick. Dieser Blick, der macht, dass ich mich komplett entblößen will, einfach, um mehr von ihm auf mir zu spüren.

»Ich mag es ohne Kameras auch ein bisschen mehr«, sagt sie, und sofort muss ich sie wieder küssen. Will sie überall küssen. Nicht nur auf den Mund.

So wie ihr Blick überall auf mir sein soll, will ich meine Lippen überall auf ihr haben, will mit meiner Zunge über ihre Brüste fahren, will in ihr Fleisch beißen. Sanft. Will Dinge mit ihr anstellen, bei deren Vorstellung ich augenblicklich einen fucking Ständer kriege.

»Du willst nicht zufällig mit mir schlafen, oder?«, frage ich zwischen zwei Küssen, und da ist es wieder. Ihr Lachen.

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.« Ich lehne mich gegen sie, sodass sie zurücksinkt, küsse sie. Erforsche ihren Mund mit meiner Zunge, lasse meine Hand über ihren Körper wandern, nähere mich ihrer Brust, die ich schon einmal umfasst habe.

»Ich werde heute Abend nicht mit dir schlafen«, sagt sie und weckt mich damit aus meiner lüsternen Trance.

Ich ziehe mich zurück. »Okay.«

»Das bedeutet nicht, dass ich nicht mit dir schlafen will, sondern nur, dass ich es nicht heute Abend möchte.«

»Okay«, sage ich noch mal, weil mein Hirn zu leer ist, um adäquat zu reagieren.

»Ich find’s nur alles etwas zu unglaublich und verwirrend und schnell, um gleich Sex zu haben.«

»Okay.«

»Okay?«

»Okay.«

»Okay.«

Und dann küsse ich sie wieder, weil … scheiß drauf. Dann küssen wir uns eben ohne Sex.

Wir küssen uns stundenlang. Wortwörtlich. Wir küssen uns, als wären wir zwei hormongeladene Sechzehnjährige. Als wären wir Madison und Ryder, schießt es mir durch den Kopf. Aber Madison und Ryder wurden heute Abend zu Ferne und Rio. Und es ist vermutlich gut, dass sich aus unseren Namen kein guter Hashtag machen lässt.

Ein Hashtag. Es ist ein winziger Gedanke. Er zuckt einmal kurz durchs Bild. Und dann wieder. Und dann bleibt er. Und …

»Alles gut?«, fragt Ferne, weil ich mich wohl etwas zu schnell aufgesetzt habe.

Ich möchte etwas sagen, aber aus irgendeinem Grund wollen die Worte meinen Mund nicht verlassen.

»Du bist nicht ernsthaft sauer, dass wir nicht beim ersten Date in der Kiste landen, oder?«

»Um Himmels willen, nein!« Dennoch muss ich aufstehen. Meine Kehle fühlt sich eng an, und ich balle die Hände zu Fäusten, weil ich irgendwohin muss mit diesem plötzlich aufgeploppten Gefühl der Hilflosigkeit. Aber es ist keine Option, vor Ferne gegen irgendwas zu schlagen.

»Kannst du mir sagen, was auf einmal los ist?«

Ich sehe sie an. Sie ist ebenfalls aufgestanden. Ihr Blick ist alarmiert. Ich wünschte, sie würde einfach wieder lachen. Die Realität weglachen. Meine Realität. »Das mit uns beiden, das darf niemand wissen«, sage ich.

»Okay, was?«

»Du und ich. Das … muss unsers bleiben.« Ich klinge drängend. Ich hoffe, sie versteht, was ich meine, denn da sind immer noch nicht genug Worte, um auszudrücken, was ich eigentlich sagen will.

»Du willst das geheim halten?«

»Ja!« Gott sei Dank versteht sie mich.

»Ist das dein Ernst? Erst fragst du mich, ob wir Sex haben, und dann willst du es geheim halten?«

Ist sie sauer? Sie ist sauer. Fuck. »In deiner Realität klingt das sicher albern. Und ich verstehe, dass du gern allen erzählen würdest, dass da was zwischen uns ist. Aber …«

»Was? Ich glaube, du tickst nicht ganz richtig.«

Okay, das läuft in die komplett falsche Richtung. »Ferne, das ist kein Thema, das man auf die leichte Schulter nehmen kann«, sage ich bestimmt.

»Keine Sorge, wenn jemand richtig scheiße zu mir ist und nicht mal den Anstand besitzt, mir zu sagen, dass ich ihm peinlich bin, nehme ich das grundsätzlich nicht auf die leichte Schulter, sondern im Gegenteil, ich nehme es sehr persönlich.«

Ich reibe mir mit den Handflächen übers Gesicht. »Auszeit«, sage ich. »Bitte.« Denn das kam alles völlig falsch raus. Aber allein das Thema macht mich so müde, dass ich mich auf den Stuhl sinken lasse.

»Ich gehe jetzt nach Hause. Wenn du wieder mal das Bedürfnis hast, von einem Moment zum anderen zum Vollarsch zu mutieren, frag ’ne andere.«

Sie macht Anstalten zu gehen. Aber da ist ein Zögern in ihren Bewegungen, als könne sie nicht so ganz glauben, dass ich wirklich so ein kaputter Wichser bin. Gott sei Dank.

»Ich meinte das alles ganz anders. Aber meine Hirnkapazität ist in meiner Hose, und ich habe Angst«, sage ich.

»Angst?«

»Ja.«

»Wovor hast du denn Angst?«

»Dass mir das hier« – ich zeige von ihr auf mich und wieder zurück – »kaputt gemacht wird, bevor …«

»… du mit mir im Bett warst?«

»… es überhaupt richtig angefangen hat.«

Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt. Aber in diesem Moment wird ihr Gesichtsausdruck wieder etwas weicher.

»Aber was ist ›das hier‹ überhaupt?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass ich deine Nähe so unnormal schön finde, dass es völlig okay wäre, wenn du nie mit mir schlafen wollen würdest, glaub ich.«

Sie lacht. Nicht so laut wie vorhin. Nicht so unbeschwert. Aber es ist ein kurzes Lachen.

»Aber wenn wir den Leuten davon erzählen. Wenn wir nur einer Person davon erzählen … dann nehmen sie es uns weg. Dann machen sie einen Hashtag aus uns. Dann hetzen sie Paparazzi auf uns. Dann …«

Ich sehe, dass sie schluckt. Wie fucking schön kann ein Schlucken sein?

»Das ist das erste Mal seit Langem, dass ich irgendwas fühle, das einfach aus mir kommt. Und ich würde es gern behalten, weißt du?«

»Das klingt schlimm«, sagt sie und lässt die Arme sinken, als würde sie einen Schild sinken lassen.

»Wenn man nicht weiß, was einem fehlt, geht’s eigentlich.« Auf einmal finde ich die falsche Maserung ihres Tischs richtig interessant.

»Das klingt noch schlimmer.«

»Ach was. Mir geht’s gut. Ich lebe den absoluten Traum, oder?« Ich versuche mich an einem Lächeln. »Ich hätte nur gern mal was für mich allein. Etwas, das ich nicht mit der Welt teilen muss.« Ich hebe fragend den Blick. »Kannst du das sein?«

»Schau mich nicht so an«, sagt sie, klingt aber ganz sanft.

»Wie denn?«

»Wie ein verlorener Hundewelpe.«

»Würdest du zu einem verlorenen Hundewelpen Nein sagen?«

»Was glaubst du, warum wir Chaplin haben? Niemand kann da Nein sagen.« Sie seufzt. Und wie schön kann bitte ein Seufzen sein?

»Also sagst du Ja?«

»Es fühlt sich so richtig unwürdig an.«

»Es tut mir leid.«

»Aber ich verstehe deine Situation. Oder zumindest glaube ich, dass ich sie verstehe.«

»Danke.«

»Aber umso besser, dass wir nicht miteinander geschlafen haben.« Sie lacht noch mal. Wieder nur kurz. »Stell dir mal vor, du hättest gerade deine Hose zugemacht und mir dann vor den Latz geknallt, dass du mich geheim halten willst. Da wär was los gewesen …« Sie versucht eindeutig zu überspielen, dass ihr diese Situation zusetzt.

»Glaubst du, so hätte das ausgesehen? Wir hätten gevögelt, und dann hätte ich mich angezogen und dir das hingeknallt?«

»Keine Ahnung, auf was für Ideen du kommst, wenn deine ›Hirnkapazität in deiner Hose‹ ist.«

»Gut, das habe ich wohl verdient.« Ich stehe auf. Viel zu spät. Aber ich stehe auf und gehe zu ihr. Ich nehme ihre Hand, verwebe unsere Finger. »Wenn ich mit dir schlafe, stehe ich nicht wieder auf. Dann bleibe ich liegen. Neben dir.«

»Und wenn du aufs Klo musst?«

»Du hast es nicht so mit Romantik, oder?«, frage ich mit einem vorsichtigen Grinsen.

»Ich habe es nicht so mit Unsicherheiten. Und diese Sache zwischen uns verunsichert mich massiv.«

»Entschuldigung.«

»Du kannst ja nichts dafür, dass du ein Superstar bist, der seine Privatsphäre schützen muss, und ich einfach nur ich bin.«

»Aber du kannst es auch anders sehen. Denn man schützt ja nur das, was einem richtig viel bedeutet. Und in meinem Fall … bist das nur du.« Und in meinem Fall macht das »nur« sie nicht kleiner. Sondern zum Einzigen.