»Caden,
wach auf …« Sanft strich ich ihm durch die verwüsteten Haare und beugte mich zu ihm herunter. Als Antwort bekam ich nur ein Grummeln, woraufhin er mir auch den Rücken zudrehte. Nach dem gestrigen Abend konnte ich heute nicht einfach in das Flugzeug steigen und den Aufenthalt in Italien so enden lassen. Es hatte Caden verdammt viel Mut gekostet, mir über die schlimmste Zeit seines Lebens zu erzählen, und ich konnte es jede Sekunde in seinen dunklen und blutunterlaufenen Augen sehen. Zu gern würde ich es ihm gleichtun, mir das Geschehene von der Seele reden, doch sobald ich nur den Mund aufmachte, legte sich ein Schalter um und alles war wie weggefegt. Gab es dafür überhaupt die richtigen Worte? Wahrscheinlich nicht. Draußen zeichnete sich an der Spitze
der Berge so langsam der Sonnenaufgang ab, weshalb ich eindringlicher an seiner Schulter rüttelte und ihm einen Kuss auf den Oberarm gab. »Aufstehen.« Den Morgenmuffel konnte er in New York wieder mimen, aber diese Überraschung machte er mir heute nicht kaputt.
»Val, es ist noch dunkel. Was willst du von mir?« Grinsend stand ich auf, ging hinüber zu seinem Koffer und zog eine Leinenhose, ein Shirt und seine Lederjacke heraus. In den frühen Morgenstunden war es draußen noch etwas frisch, weshalb ich selbst über der langen Hose und dem Feinstrickpullover einen dicken Baumwollcardigan trug.
»Hopp, hopp, raus aus den Federn. Ich hab eine Überraschung.« Sofort wurde er wie ein kleines Kind hellhörig und stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Matratze ab.
»Um diese Uhrzeit?« Skeptisch sah er über die Schulter hinaus und zog die Augenbrauen kraus.
»Wenn du jetzt nicht sofort aus dem Bett kommst und mir dadurch alles kaputt machst, werde ich dich bis an mein Lebensende hassen, Caden Bishop!«, lachte ich und warf ihm die Klamotten entgegen, die er gekonnt auffing. Endlich schlug er auch die Decke zur Seite.
»Ist ja gut. Als würdest du das nicht schon so tun«, antwortete er mit einem Augenzwinkern, stand auf und verschwand im Badezimmer.
»Beeil dich!«, rief ich ihm hinterher, schnappte mir meine Handtasche und trat schon mal hinaus auf die Terrasse. Es war so beruhigend still hier draußen, alle schliefen und kein einziger Mucks durchbrach die Morgenruhe. Ich atmete die frische Luft ein, genoss, wie sie meine Lunge durchflutete, und schloss die Augen dabei. Innerer Frieden war noch nie ein Thema für mich gewesen, aber hier spürte ihn das allererste Mal.
»Fertig.« Caden stand wenige Minuten später auf der Terrasse, fuhr sich verschlafen über die geschwollenen Augen und schaute mir argwöhnisch hinterher, als ich den Rasen zu dem kleinen Törchen überquerte.
»Wo willst du hin?« Mit zaghaften Schritten folgte er mir und seine Skepsis brachte mich abermals zum Lachen.
»Es fällt dir anscheinend ziemlich schwer, mir zu vertrauen, oder?«
»Nimmst du mir das übel?« Gott, was würde ich dafür tun, dass diese Unbekümmertheit für immer zwischen uns herrschte. Allerdings sah ich mit der Rückkehr nach New York schwarz. Das konnte alles nicht gutgehen. Mit den Dämonen meiner Vergangenheit im Nacken. Schnell holte er auf, verschränkte unsere Finger miteinander und gemeinsam schlenderten wir über einen breiten Weg in Richtung Ufer.
»Willst du mir nicht endlich sagen, was du vorhast? Ich sterbe vor Neugier.« Ja, Überraschungen hatte er noch nie besonders gemocht. Wie oft hatte er es früher erraten oder sich in seinem Zimmer verschanzt, bis ich ihn doch eingeweiht hatte.
»Ich wollte unseren Aufenthalt mit etwas Schönem beenden. Als ich wach geworden bin, um etwas zu trinken, kam mir dann die zündende Idee«, erzählte ich, während wir uns dem zum Hotel gehörenden Steg näherten.
»Und das um diese Uhrzeit? Du bist doch selbst kein Morgenmensch«, neckte er mich und gab mir einen kleinen Ruck gegen die Schulter.
»Ja, doch sonst ist es nur halb so schön.« Ich war noch nie die klassische, romantische Frau gewesen, jedoch wollte ich mir diese Chance auf etwas Zweisamkeit nicht nehmen lassen. »Als mir dann in der Küche das Visitenkärtchen von Lino ins Auge gestochen ist und mir seine Worte bei unserer Ankunft eingefallen sind, konnte ich nicht anders.« Wir blieben auf der obersten Treppe des Stegs stehen, schauten beide gleichzeitig zu dem kleinen Wasserboot hinüber, neben dem Lino schon stand und auf uns wartete.
»Val …« Caden verschlug es die Sprache.
»Wahrscheinlich hasst er uns jetzt auf Lebzeiten, dass ich ihn so früh aus dem Bett geklingelt habe. Aber er lächelt, vielleicht ist noch nicht alles verloren«, scherzte ich und zog meinen Verlobten hinter mir her.
»Buongiorno«, begrüßte uns der Angestellte des Hotels und zeigte mit ausladender Geste, dass wir auf das Boot steigen sollten. Caden trat zuerst auf das wankende Gefährt, hielt sich am Geländer fest und reichte mir seine Hand. Kaum berührten wir uns, schossen abertausende kleine Blitze durch meinen Arm direkt ins Herz und lösten dort eine Explosion aus. Sein Blick sagte mehr, als Worte ausdrücken konnte, als ich einen großen Schritt machte und gegen seine Brust knallte. Wie bei einem frischverliebten Teenager fing mein Herz heftig an zu schlagen und ich konnte es nicht lassen, packte Caden im Nacken und zog ihn zu mir runter. Unsere Lippen trafen aufeinander, entfachten ein wahres Feuer im Inneren und nur durch das Räuspern von Lino lösten wir uns voneinander.
»Nehmen Sie bitte schon einmal Platz, es ist alles angerichtet.« Lino knotete das Seil von der Barrikade ab und verstaute es in einer Box auf der Badeplattform.
»Danke, Lino«, antwortete ich, griff nach Cadens Unterarm und zog ihn die wenigen Stufen zum Cockpit hinauf. Wir schlängelten uns über den schmalen Gang zur Liegefläche am Bug hindurch, auf der schon eine Decke ausgebreitet war und ein Korb stand.
»Auf was für Ideen du in den frühen Morgenstunden kommst«, schmunzelte Caden,
setzte sich auf die kuschelige Decke und zog mich zu sich herunter in seine Arme.
»Da siehst du mal, wozu ich alles fähig bin. Irgendwas muss gestern in dem Essen gewesen sein.« Auf dem Wasser ging noch ein frischer Wind, weshalb ich mich in seine Umarmung kuschelte, Cadens Nähe genoss und dem Sonnenaufgang entgegensah. Hinter uns hörten wir Lino herumwerkeln, der das Boot startete und es hinaus auf den See steuerte. Nach circa zehn Minuten erstarb das Motorengeräusch und er teilte uns mit, sich unter das Deck zurückzuziehen.
»So, was möchtest du essen? Croissants, Obst oder doch ein Stück Kuchen?«, fragte ich meinen Verlobten und öffnete den Flechtkorb.
»Ist egal, ich bin mit allem zufrieden.« Entspannt lehnte er den Hinterkopf an die Trennwand und biss sofort in das Croissants hinein, nachdem ich es ihm gereicht hatte. Stillschweigend aßen wir, blickten hinaus auf die ruhige See und genossen die Sonnenstrahlen, die sich zwischen den Bergen hindurchkämpften und unsere Gesichter wärmten.
»Es ist wirklich schön und ein wunderbarer Abschluss des Trips«, kam es irgendwann von Caden. Er griff in den Korb, nahm die Flasche Orangensaft heraus und trank daraus einige Schlucke, bevor er sie mir reichte.
»Ja, von mir aus könnten wir jeden Morgen so frühstücken.« Und genau so meinte ich es. Nur wir zwei und von vollkommener Ruhe umhüllt. Niemand, der uns sagte, was wir tun und lassen sollten, und kein Mensch, der unsere Liebe zu zerstören versuchte.
»Hört sich verlockend an.« Caden umfasste meine Hand mit seiner, senkte den Blick und wirkte nachdenklich.
»Was ist los?«, fragte ich kurze Zeit später und bekam zuerst keine Antwort. Er drehte sein Gesicht der Sonne zu, schloss die Augen und versank in Gedanken.
»Ich muss dich etwas fragen und bitte flipp jetzt nicht aus. Dafür liebe ich diesen Moment hier zwischen uns viel zu sehr. Doch ich kann es nicht länger aufschieben«, druckste er und sah mir eindringlich in die Augen. »Als ich letztens das Armkettchen im Badezimmer gefunden habe, bin ich auch auf etwas anderes gestoßen …«
»Und was?« Mein Herz wurde schwer und schlagartig schnellte mir der Puls nach oben. Bitte nicht das, was ich gerade vermutete. Wieso durchsuchte er überhaupt meine Sachen? Doch davon bekam ich gerade nicht das unangenehme Herzflattern, sondern eher von der Frage, was er gefunden hatte. Ich wollte die Antwort nicht hören.
»Das Ambien, Val. Was hat es damit auf sich?« Sein Tonfall klang keinesfalls
anklagend, eher besorgt und tat mir in der Seele weh.
»Ach, die nehme ich nur, wenn ich im Prüfungsstress bin. Der kann einem wirklich den Schlaf rauben«, antwortete ich und unterbrach den Augenkontakt. Bitte, gib dich mit dieser Antwort zufrieden
, dachte ich und schnappte mir aus dem Korb eine Erdbeere aus der Verpackung, biss genussvoll hinein.
»Das ist alles? Wenn du nicht endlich mit mir darüber sprichst, dann …« Schnell zog ich eine weitere Erdbeere hervor und stopfte sie ihm in den Mund, gab Caden einen liebevollen Klaps auf die Wange.
»Davon geht die Welt nicht unter. Vertrau mir.« Er packte sie an den Blättern, biss das Fruchtfleisch ab, legte den Stiel auf einer Serviette ab und schien von meiner Antwort nicht überzeugt zu sein. Kurz öffnete er seinen Mund und ich sah ihm an, dass er darauf etwas erwidern wollte. Irgendwann musste ich es ihm sagen und das am besten, bevor er es auf andere Art und Weise herausbekam. Doch dazu war der jetzige Moment nicht der Richtige. Außerdem würde es all das Gute der letzten Tage in Flammen aufgehen lassen und so wollte ich Italien auf keinen Fall verlassen.
»Caden, ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Bitte, gib mir Zeit.« Mit flehendem Blick betrachtete ich ihn und wir hielten beide inne.
»Okay«, antwortete er in liebevollem Ton, atmete hörbar aus und rutschte zu mir herüber, um mich zwischen seine Beine zu ziehen. Erleichtert lehnte ich den Rücken gegen Cadens Brust, genoss den herben Duft seines Parfums, das mir in die Nase stieg. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Horizont, strömte eine angenehme Wärme aus und bis Lino eine Stunde später wieder auf das Deck zurückkam, saßen wir ineinander verschlungen da und genossen die Zweisamkeit.