Gegen Abend machte
ich mich für die Party bei Graham fertig und ging. In der Zwischenzeit blinkte das Display meines Handys immer wieder auf und ein Signalton deutete auf eine eingehende Nachricht hin. Gray schickte mir durchgehend Sprachnachrichten von der feiernden Menge, wirres Gebrüll, das durch die laute Musik kaum zu verstehen war. Beim Lauschen seines schon leichten Lallens musste ich lachen, schrieb ihm, dass wir bald kommen würden, und stylte mir die Haare, als Valentina die Badezimmertür aufriss und eintrat. »Celia ist da, sie fährt mich zur Arbeit.«
»Schon mal was von Anklopfen gehört?« Mit den Fingern am Schopf sah ich ihr entgegen, hob eine Augenbraue und grinste sie an.
»Oh, Caden, es gibt nichts, was ich von dir noch nicht gesehen habe, also mach mal halblang«, schmunzelte sie und verlagerte das Gewicht auf einen Fuß. Ich lachte, wandte mich wieder dem Spiegel zu, begutachtete dort meine Frisur und betätigte dann den Wasserhahn, um die Hände zu waschen.
»Und deshalb bist du jetzt hochgekommen? Um mir das zu sagen?«, fragte ich sie belustigt.
»Natürlich, soll ich etwa einfach gehen und hoffen, dass du meine Abwesenheit irgendwann schon bemerkst?« Val schaute mich schräg von der Seite an.
»Normalerweise gehst du einfach. Bisher zumindest.« Ob mein Ton etwas zu schnippisch klang? Val biss sich auf die Lippen, verkniff sich einen Kommentar. Ich grinste. Von der Ablage griff ich mir ein Handtuch, trocknete die Hände ab und legte es zurück an seinen Platz. »Aber hey, danke für die Information.«
»Da siehst du mal. Ich bin immer für eine Überraschung gut, außerdem kann ich gerne meine alten Gewohnheiten wieder annehmen«, scherzte sie und blitzte mich teuflisch an. O nein, das ließ ich auf keinen Fall zu.
»Niemals.« Kopfschüttelnd ging ich auf sie zu, zog Val zu mir heran und gab ihr einen Kuss. »Wie lang musst du arbeiten?«
»Bis um 2 Uhr. Ich nehme mir dann ein Taxi.« Während sie sprach, nestelte sie mit einer Hand an den Hemdknöpfen herum. Sofort fiel mein Blick wieder auf das Armkettchen, das sie seit Italien unentwegt trug. Es zeigte mir, dass wir um einige Schritte weitergekommen waren und uns auf dem richtigen Weg befanden. Natürlich ging es mir gehörig gegen den Strich, sie in dem Club zu wissen. Aber nicht zu arbeiten, war für Valentina keine Option, wodurch ich den fahlen Beigeschmack herunterschluckte und ihren Willen akzeptierte. Zwang ich sie, würde sie mir die Hölle heißmachen und alles von vorne anfangen. Hass, Wut, Abstand. Nein, nachdem ich die letzten Tage ihre Nähe spüren und sogar ihre liebevolle Seite hatte kennenlernen dürfen, wollte ich nichts mehr riskieren. Solange sie glücklich war, bitte. Ein dumpfes Hupen ließ uns aufhorchen.
Außerdem war ich immer noch verwundert und gleichzeitig voller Freude, dass sie letzte Nacht selbst entschieden hatte, bei mir zu schlafen. Val wollte es ebenso wie ich und versuchte, ihre Schatten zu überwinden. Kämpfte für uns, auch wenn Nähe noch nicht vollständig möglich war. Ich hatte Geduld, und zwar verdammt viel davon. »Ich sollte gehen …«, flüsterte Val, bevor ich ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gab. Zögerlich lösten wir uns voneinander. »Viel Spaß bei Graham.« Als sie seinen Namen aussprach, schwang ein teuflischer Unterton in ihrer Stimme mit. Sie hasste ihn und er sie. Eventuell konnten sich
die beiden mal an einen Tisch setzen und alle Missverständnisse aus dem Weg räumen. Wobei es zwischen ihnen wohl nichts mehr zu retten gab. Wenn die Sympathie nicht da war, führte das Schlichten sowieso zu keinem guten Ende. Nicht, dass sie ihren Hass noch gegen mich bündelten und sich zusammentaten. Lustige Vorstellung und eine gute Vorlage für einen nervenaufreibenden Streifen.
»Danke«, antwortete ich und sah ihr hinterher, bis sie um die Ecke verschwand.
Kaum fiel die Haustür im Untergeschoss ins Schloss, piepte mein Handy. Eine Nachricht von Alvaro: Bin in zehn Minuten da.
Das Smartphone steckte ich in die Hosentasche, spritzte mir etwas Parfum auf das Hemd und verließ das Badezimmer. Ich stieg die Treppen hinunter, zog mir im Flur die Schuhe an und als ich die Haustür aufzog, hinaustrat und sie hinter mir schloss, fuhr gerade Alvaro vor. Manchmal fragte ich mich wirklich, wie er es schaffte, auf die Minuten genau pünktlich zu sein. Stand er um die Ecke, gaffte das Handy an und wartete den perfekten Moment ab? Zuzutrauen wäre es dem Perfektionisten in ihm. Schnell lief ich die Einfahrt hinunter, öffnete die Beifahrertür und stieg ein.
»Na, alles klar?« Zur Begrüßung schlugen wir die Hände ein, ehe wir losfuhren.
»Soweit schon, bei dir?«, antwortete er und starrte auf die Straße.
»Auch. Das gestern war schon eine verrückte Aktion. Wir alle in einem Büro …«
»Ist das gerade ein Versuch, das Gespräch auf Collin zu lenken?«, kam es trocken von ihm und kurz funkelte er mich boshaft von der Seite an, bevor er sich wieder auf das Fahren konzentrierte. Seine Hände verkrampften sich ums Lenkrad. Alvaro beherrschte es, die Geduld zu behalten. Es wurde ihm praktisch antrainiert, nie durchzudrehen. Und trotzdem war er wie ein Pulverfass. Aber Scheiße, mir war es schon immer schwergefallen, um den heißen Brei herumzureden. Die beiden gestern Abend zusammen zu sehen, hatte einige Fragen aufgeworfen, die er mir beantworten musste. Irgendwann würde er noch platzen, wenn er weiterhin alles in sich hineinfraß und mit niemandem darüber sprach.
»Habt ihr Celia die Fotos gebracht?« Und mal wieder wechselte er das Thema.
»Ja, sie hat sich die Fotos vorhin abgeholt.« Den Ellenbogen legte ich auf der Innenseite der Beifahrertür ab und stützte den Kopf auf die Hand.
»Wenn wir ankommen, brauch ich zuerst einen Drink«, sagte Alvaro nach einigen Minuten der Stille. Zu fragen, wieso, sparte ich mir. »Weißt du eigentlich, wie viele Leute kommen?«
»So, wie ich Graham kenne, wird Gott und die Welt da sein. Und mit Welt versteht
sich das halbe Rotlichtviertel«, scherzte ich. Auf meine Worte hin schmunzelte Alvaro und drehte die Lautstärke der Musik wieder hoch, weshalb wir die restliche Fahrt über nicht sprachen. Grays Partys waren dafür bekannt, dass sich viele Nutten herumtummelten und Mengen an Drogen im Umlauf waren. Nichts erinnerte dabei an den zugeknöpften Börsenheini, den er tagsüber gab und mit dem er Leute blendete. Mir schwante Übles, denn auf Dauer konnte das alles nicht gutgehen. Ich hatte ihn schon oft gefragt, wieso er sich nicht mal eine Freundin suchte, um von dem ganzen Mist wegzukommen. Doch darauf antwortete er meistens nur mit einem Zischen und wechselte daraufhin das Thema. Mittlerweile hatte ich es aufgegeben, ihn auf den rechten Weg bringen zu wollen. Irgendwann sah Gray hoffentlich ein, dass das nicht das Leben war, in welchem er gefangen sein wollte. Niemand war gerne allein. Nicht einmal er. Er hatte so viel mehr zu bieten, verzauberte die Ladys mit seinem Charme und besaß eine fürsorgliche Seite. Damals als er mich in L.A. besucht hatte, war ich die ersten Male nur ein Schatten meiner selbst gewesen, hatte kein Wort mit ihm geredet. Und trotzdem war er das ganze Wochenende bei mir geblieben, hatte morgens bis abends bei mir im Zimmer gesessen und mir von seiner Arbeit, dem Sport und davon, was in New York alles abging, erzählt. Nur zum Schlafen hatte er sich verabschiedet und sich in einem Hotel um die Ecke des Therapiezentrums einquartiert. Am nächsten Tag hatte das Spiel dann wieder von vorne begonnen. Obwohl ich ihn ignoriert hatte, war er kurz daraufhin wiedergekommen und hatte mir dazwischen viele Nachrichten geschrieben. Es war nicht so, dass sich seine Nähe unerträglich angefühlt hatte. Nein. Ich hatte sein stetiges Gerede über Gott und die Welt und die tausend SMS gemocht, hatte mich damit nicht allein auf diesem Planeten gefühlt. Es war eher so gewesen, dass ich in mir selbst gefangen gewesen war und erst den Widerstand hatte durchbrechen müssen, um ihm gegenüber Dankbarkeit zu zeigen. Dafür, dass er seinen eingefallenen Kumpel nicht aufgegeben hatte – wie meine Eltern. Die hatten nur ab und zu in der Klinik angerufen, aber nie mit mir persönlich gesprochen, sondern nur mit dem Personal. Ich verdankte Gray einiges.
Nicht weit von der Wallstreet entfernt, parkten wir den Wagen vor einem riesigen Wolkenkratzer und betraten das Gebäude. Dem Portier sagten wir, wer uns erwartete, er nickte nur und zeigte in die Richtung der Fahrstühle. Anscheinend wusste er über die Party Bescheid und leitete uns direkt weiter. Alvaro und ich stiegen in den Aufzug ein und fuhren in die 30. Etage zu Grahams Penthouse hoch.
Etwas merkwürdig, denn normalerweise brauchte man einen Schlüssel, um dort anzuhalten. Aber wahrscheinlich hatte Gray ihm zugetragen, jeden einfach hochzulassen, und die Verriegelung in seinem Eingang aufgehoben. Kaum öffneten sich oben die Türen, schallte uns ein enormer Geräuschpegel entgegen. Gelächter, Musik, das Klirren von
Gläsern und ein furchtbarer Gestank nach Gras lagen in der Luft.
»Alter, Graham schafft es immer wieder, eine Schippe draufzulegen, was?«, fragte Alvaro entsetzt und rümpfte die Nase. Tja, das hier war nichts gegen die ganzen formellen Partys der Reichen. Hier regierten Chaos, Sex und Spaß. Langsam schritten wir durch die Wohnung, passierten die Küche, in der die Arbeitsplatten mit Unmengen von Flaschen vollgestellt waren und in der sich verdammt viele Leute tummelten. In der Menge versuchte ich Graham auszumachen, schaffte es aber nur schwer, einen Überblick zu behalten, und richtete lieber den Blick durch die große Glasfront. Für den Ausblick über den East River, die Brooklyn Bridge und sogar auf die Freiheitsstatue beneidete ich ihn tatsächlich ein kleines bisschen.
»Alter, ich hab schon gedacht, ihr kommt gar nicht mehr!«, kam uns Graham im großgeschnittenen Wohnbereich entgegen. »Hey, Spanier, schon lange nicht mehr gesehen!«, wandte er sich meiner Begleitung zu und seine Miene erhellte sich. Als Alvaro noch in New York gelebt hatte, hatten wir unsere Zeit größtenteils zu dritt verbracht und allerhand Partys unsicher gemacht. O Mann, wenn ich daran dachte, was wir alles getrieben hatten, wurde mir übel. Das Spiel hatte so lang angedauert, bis Graham zu sehr an der Börse verlorengegangen war, ich in die Klinik gemusst und Alvaro seinen besten Freund in Spanien verloren hatte. Ivan. Den Mann hatte ich nur paar Mal kennenlernen dürfen, wenn ich Alvaro besucht hatte. Seitdem war Alvaro viel emotionsloser und kontrollierter geworden.
»Schön, dich zu sehen«, antwortete Alvaro, woraufhin sich die beiden umarmten. »Das Penthouse ist klasse. Hätte nie gedacht, dass du es mal so weit schaffst. Für dich war doch im Central Park schon eine Bank reserviert«, scherzte er drauflos und klopfte Graham voller Respekt auf die Schulter, schaute sich um.
»Hab noch die Kurve bekommen!«, erwiderte Gray belustigt, doch seine Augen blickten mich einen Moment schuldig an. Ich runzelte verwirrt die Stirn, ließ es aber auf sich beruhen, ehe er in der Küche verschwand, um etwas zu trinken zu holen. Allerdings entsprachen seine Worte der Wahrheit. Während unserer Jugend war er eher der Draufgänger gewesen, hatte sich immer in brenzlige Situationen manövriert und in der Schule war es bergab mit ihm gegangen. Hätte er den Job an der Börse nicht bekommen, wären wir jetzt sicherlich nicht hier über den Dächern von New York. Mit drei Flaschen Bier kam er aus der Küche zurück, drückte uns jeweils eine in die Hand und wir stießen an.
»Ich dachte mir, es wäre nicht schlecht, wenn wir alle mal wieder zusammen feiern. Wie in alten Zeiten!« Zu oft hatte ich mich schon mit Grays Arbeitskollegen von der Börse unterhalten, doch denen war es immer am wichtigsten, sich gegenseitig auszustechen. Mit
ihren Jachten, Autos oder damit, wie viele Frauen sie in einer Nacht gefickt hatten. Da brauchte ich einfach jemanden wie Alvaro an meiner Seite, den das alles einen Dreck interessierte.
»Gute Idee, Bruder.« Graham zog eine Schachtel aus der Hosentasche und klemmte sich einen Blunt zwischen die Lippen. »Ich wollte gerade einen rauchen gehen, kommt ihr mit?« Seine sowieso schon geweiteten Pupillen richteten sich im Wechsel auf mich und Alvaro. Wir stimmten beide zu und folgten ihm hinaus auf den Balkon.
»Und wir war’s in Italien?«, fragte er, nachdem er den Joint angezündet und einen tiefen Zug genommen hatte.
»Gut, die Probleme konnten gelöst werden.« Ich erzählte etwas von der Arbeit auf dem Bau und dem Hin und Her mit Vincenzo. Graham reichte den Joint weiter, ich nahm einen Zug und gab ihn Alvaro.
»Hast du auch die Chance genutzt und bist ins Fußballstadion?«
»Dafür war keine Zeit.« Mein bester Freund stöhnte auf, hielt sich am Geländer fest und legte den Kopf in den Nacken.
»Dann müssen wir eben noch mal hinfahren. Ganz klar. Die Kohle dafür besitzen wir ja«, antwortete er und wackelte mit den Augenbrauen. Ja, ihm war es zuzutrauen, dass er nächstes Wochenende einen Privatjet mietete und mich damit überraschte. Seit letztem Jahr war es eine Tradition, dass Graham und ich europäischen Fußball schauten. Na ja, eigentlich waren wir eher Fans, die sich regelmäßig trafen, um die Spiele anzusehen. In der Klinik hatten sie damals alle möglichen Fernsehsender gehabt. Unter anderem auch einen Sportsender, auf dem unterschiedliche Partien gezeigt wurden. Bei seinen Besuchen hatten wir sie immer laufen gelassen und uns vorgenommen, irgendwann mal in so einem Stadion zu stehen. Und die ganze Scheiße hinter uns zu wissen.
»Dann fliegt ihr aber nicht nach Italien, um guten Fußball zu sehen, sondern nach Madrid. Ich reservier uns dann eine Lounge im Santiago Bernabeau«, warf Alvaro ein, zog an dem Blunt und reichte ihn mir.
»Deal.« Die Jungs schlugen ein und lachten. Ob ich den Trip überleben würde?
»Was ist eigentlich der Anlass für diese Party?«, fragte ich nach einem Moment der Stille. Sofort klatschte Graham in die Hände und seine Augen fingen an zu glitzern. Ob das an der Freude oder den Drogen lag, konnte ich nicht unterscheiden.
»Ich hab vor kurzem Aktien gekauft, die letzte Woche dermaßen in die Höhe geschossen sind, und gleich verkauft. Weiß gar nicht, was ich mit so viel Zaster anstellen
soll. Deswegen starten wir mit der Party!« Gray legte ein paar Dancemoves auf dem Balkon hin und wackelte mit den Hüften. Manchmal kam er mir vor wie von einem anderen Planeten.
»Und was führt dich hierher? Hast dich schon lang nicht mehr blicken lassen«, wandte sich Gray an Alvaro.
»Ich muss meinem Onkel bei einem Problem helfen«, kam es kurz angebunden als Antwort.
»Uh, ein Alvaro in Robe und Perücke …« Scherzend stieß er ihm gegen die Schulter, weshalb ich nur den Kopf schüttelte und ihm den Joint in die Hand drückte.
»Zum einen wundert es mich, dass du noch nie ein Gericht von innen gesehen hast, und zum anderen, dass du der Meinung bist, die Staatsanwälte tragen wie im Mittelalter Perücken.« Jap, es waren definitiv die Drogen.
»Halt’s Maul, Bishop«, presste er lachend hervor.
»Du bist schon mutig, den Neffen eines Staatsanwaltes auf so eine Party einzuladen. Weiß du das?« Alvaro versuchte, einen strengen Ton beizubehalten, musste aber bei seinen Worten lachen, als ihm Graham den Rest des Blunts zwischen die Lippen klemmte.
»Ich glaube, wir haben schon schlimmere Dinge abgezogen, mein Freund.« Augenzwinkernd nahm Alvaro einen letzten Zug und drückte den Stummel im Aschenbecher aus.
»Das mit dem Fußballspiel machen wir auf jeden Fall! Und in Spanien gibt es bestimmt lauter heiße Weiber«, versuchte Graham das Thema zu wechseln.
»Einige«, antwortete Alvaro nur knapp und ich schielte misstrauisch zu ihm herüber. Sicherlich betrat ich ihn Madrid kein Bordell.
»Obwohl deine Cousine auch eine Granate ist. Also die würde ich auch–«, brabbelte Graham unbedacht weiter und stoppte, als er sah, wie sein Gegenüber einen Schritt auf ihn zuging und sich vor ihm aufbaute. Womöglich spielte er gerade mit seinem Leben. Doch im Grenzenüberschreiten war er der König. Alvaro blickte ihm mit hartem Gesichtsausdruck direkt in die Augen.
»Noch ein Wort und ich vergess mich«, knurrte er. Die Kontrolle in Person. Die Rodriguez hatten es wirklich im Blut. Und Graham ließ sich seit Jahren davon einschüchtern.
»Da drin scheint es Stress zu geben«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Graham. »Ich sollte mal nachschauen.« Bevor er reinging, klopfte er uns auf die Schulter und weg war er. Kaum verstummten die Musik und das Geplapper der Leute durch das
Schließen der Balkontür, prustete ich drauflos und legte den Kopf in den Nacken. Alvaro stimmte sofort mit ein und stützte sich an der Brüstung ab. »Scheiße, ich dachte gerade echt, er scheißt sich gleich ein. Dieser Penner, also ehrlich«, lachte ich. Gray vergaß im Rausch oft das Denken und wählte Worte, die keinesfalls angebracht waren.
»Dass er immer noch so eine Angst vor mir hat. Ich hab ihm nur einmal eine auf die Fresse gehauen und das war berechtigt.« Wir bekamen uns beide nicht mehr ein und lachten Tränen.
»Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern.« Nach dem Abend war Graham vier Tage lang nicht in die Schule gekommen, weil er ein blaues Auge gehabt hatte und ihn die Mädels so auf keinen Fall hatten sehen dürfen. Und wie hieß es so schön: Wer nicht hören will, muss fühlen
. Fuck. Er hatte es zwar nur gut gemeint, aber übertrieben, als er Alvaro diese Frauen auf den Hals gehetzt hatte. Diese hatten ihn schließlich umschwärmt wie Bienen ein Glas Honig, sich ihm angebiedert und regelrecht aufgezwungen. Mit dem Spruch: ‚Du musst endlich mal einen reinstecken‘, hatte er den Bogen dann wirklich überspannt.
»Ich weiß nicht, was er davon hat, ständig Weiber zu knallen. Ist nicht so, als wäre es was Besonderes, jeden Tag ’ne Neue zu haben.« Alvaro verdrehte die Augen, ich grinste.
»Hast du nicht auch damals jeden Abend eine andere mitgenommen?«, meinte ich amüsiert. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie er immer ein Mädchen aus dem Club abgeschleppt hatte. Allerdings nicht wirklich. Draußen angekommen hatte er sie in ein Taxi gesteckt, es bezahlt und dann ein anderes genommen. Vor seinem Bruder, mir und Graham hatte er dann etwas ganz anderes behauptet. Damals war mir das erste Mal der Verdacht gekommen, dass Alvaro Frauen nicht so gerne mochte, wie er es wohl wollte. Er hatte Glück gehabt, dass nur ich sein Treiben mitbekommen hatte.
Wir schwelgten kurz in Erinnerungen, redeten über die Schulzeit, bis ich mich vom Geländer abstieß und die beleuchtete Freiheitsstatue in der Ferne bestaunte.
»Wie läuft es zwischen dir und Val?«, durchbrach Alvaro die Stille.
»Gut, es könnte nicht besser laufen«, fing ich an zu erzählen und setzte fort. »In Italien war es beinahe wie früher. Sie trägt seitdem wieder das Armkettchen, was ich ihr geschenkt habe. Und es war, als hätten wir alles Schlechte in New York gelassen.«
»Das ist doch gut, oder?« Zur Antwort nickte ich. Fast. Kaum kam mir das Schmuckstück in den Kopf, dachte ich wieder an die Pillen. Italien war dafür nicht der beste Ort gewesen, um es auszudiskutieren, und nach unserem emotionalen Gespräch hatte es erst einmal mit Offenbarungen gereicht. Doch langsam wurde es Zeit, dass wir darüber
sprachen. Denn ich war mir sicher, dass sie das Ambien nicht wegen des Prüfungsstresses nahm …
Ich verschwand kurz in der Wohnung, um uns etwas zu trinken holen. Die Küche sah aus wie ein Saustall. Überall lagen Kronkorken und Becher herum. Schnell entdeckte ich den Bierkasten. Mit zwei Flaschen in der Hand ging ich wieder raus und wir setzten uns auf die Balkonstühle. Zuerst nippten wir beide nur an den Flaschen, starrten in die Nacht, bevor ich weiterredete.
»Von deinen Worten scheinst du aber selbst noch nicht ganz überzeugt zu sein, oder?« Er lehnte sich nach vorne und begutachtete mich argwöhnisch von der Seite. Mit irgendjemandem musste ich darüber reden und Alvaro schien dafür perfekt zu sein. Wer blieb mir sonst übrig?
»Es ist … ach keine Ahnung. Schwierig. Valentina lässt weiterhin nicht viel Nähe zu, wie damals. Wenn sie von Anfang an damit Probleme gehabt hätte, dann würde ich mir nicht solche Gedanken machen. Aber es kam so mitten in unserer Beziehung.« Ich legte den Kopf in den Nacken und seufzte. »Und für mich ist es unbegreiflich, was passiert ist. Scheiße ey, ich hab so sehr gedacht, dass sie mich betrügt, dass ich alles kaputtgemacht habe. Und jetzt versuche ich, herauszufinden, was wirklich der Grund war, komme nicht weiter und dann finde ich auch noch …« Ich stockte. »… vergiss es.« Verzweifelt schüttelte ich den Kopf und schloss die Augen.
»Nein, was?« Voller Neugier sah er mich an, hob die Augenbrauen und trank einen Schluck.
»Ich habe Beruhigungstabletten gefunden. Die sollen zwar auch zum Einschlafen helfen, aber sie schluckt sie auch mittags. Sie denkt, ich sehe es nicht. Zuerst dachte ich, sie nimmt irgendwelche Vitamine, doch nachdem ich die Dose in ihrer Tasche gefunden habe … Fuck, niemand schluckt mittags Tabletten zum Einschlafen.«
»Vielleicht wegen der Situation mit ihren Eltern?«, versuchte Alvaro die Lage zu entschärfen und mir die üblen Gedanken zu nehmen. Allerdings konnte ich das nur schwer glauben und winkte ab, trank ebenfalls einen Schluck.
»Damals wusste sie nichts von der Verlobung. Es muss etwas anderes passiert sein, etwas das sie seitdem quält. Und ich werde herausfinden, was es ist, und wenn ich dabei draufgehe«, presste ich hervor. Denn es aus Val herauszubekommen, würde einem Kampf mit einem Tiger gleichen. Alvaro klopfte mir auf die Schulter.
»Du schaffst das.« Nachdenklich schaute ich in den tiefschwarzen Himmel und kam zu einem Entschluss.
»Ich werde sie darauf ansprechen, auch wenn vielleicht keine Antwort folgt. Aber es länger totzuschweigen, bringt mich noch um.«
»Die Chance, dass sie dann wegläuft, wird hoch sein …«, dachte Alvaro laut.
»Und ich werde sie einholen, so oft es sein muss«, knurrte ich. Ich würde sie nicht aufgeben. Nie wieder im Stich lassen.
»Jeder Mensch kämpft mit etwas, manche sind nur besser darin, es zu verbergen. Und Val scheint eine Meisterin darin zu sein, auch wenn sie wohl mehr durch ihr Verhalten zeigt, als ihr lieb ist.«
»Da habt ihr zumindest etwas gemeinsam.« Sein Kopf schnellte zu mir herum. Damit hatte ich offensichtlich voll ins Schwarze getroffen. »Was läuft zwischen dir und Collin?«
»Da läuft gar nichts«, entgegnete er schnippisch und lehnte sich zurück. »Und ich wüsste auch nicht, was es dich angeht.«
»Eine Menge. Ihr habt euch gestern einen ruhigen Platz gesucht. Für was?« Scheiße, ich setzte ihm die Pistole quasi auf die Brust und so, wie er mit den Kiefern mahlte, vermutete ich das Richtige.
»Für die Geschäfte, die zu besprechen sind?« Er fuhr sich durch die Haare, fluchte und setzte die Flasche an. »Ich weiß zwar nicht, was du dir zusammengesponnen hast, aber schlag es dir ganz schnell aus dem Kopf.« Die Flasche stellte er mit Nachdruck auf den Tisch.
»Du willst mich doch verarschen«, blaffte ich ihn an. »Alvaro, du kannst es ruhig sagen, wenn du …«, versuchte ich es vorsichtiger und einfühlsamer.
»Nein«, fiel er mir sofort ins Wort. »Du hast keine Ahnung, wirklich. Wenn irgendwer etwas …«, grollte er zuerst und wurde immer leiser, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Da ist nichts.« Warum hatte ich das Gefühl, er sagte es mehr zu sich als zu mir? Ich dachte stets, Alvaro wäre wegen des Selbstmords seines Freundes so kalt geworden. Doch war der Grund vielleicht viel eher die Angst, sein größtes Geheimnis könnte herauskommen? Ich sparte mir einen Kommentar und trank mein Bier leer. Möglicherweise war es auch mit Val so und sie verdrängte irgendetwas aus Furcht. Doch vor was?
»Collin sieht manchmal für mich nach Celia …«, murmelte er dann, fuhr sich durch die Haare und seufzte. »Ich darf nicht zu ihr, Anthony würde mich umbringen, wenn er wüsste, ich wäre bei ihr, ohne sie mitzubringen. Und mein Bruder erst …« Alvaro lachte und Dunkelheit breitete sich in seinem Blick aus. »Er würde sich in den nächsten Flieger setzen. Wundert mich, dass er es nicht schon getan hat, bei unserem letzten Gespräch …« Er
presste die Lippen aufeinander. Ich nickte, legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sanft zu. Es war nicht der einzige Grund, weshalb er sich mit Collin traf, da war ich mir sicher. Und dieser tat es bestimmt nicht aus Herzensgüte. Aber ich war dankbar, dass Alvaro mir kurz Einblick in seine Situation gewehrte. Wie klein die Einsicht auch war.
Wir beließen es dabei, vertieften das Gespräch nicht weiter und entschieden uns dafür, hineinzugehen. Dort setzten wir uns auf die Couch und beobachteten das Treiben. Die Gäste schienen hackedicht zu sein, manche tanzten sogar vor uns auf dem recht kleinen Couchtisch und ich wartete nur darauf, dass er zusammenbrach.
Alvaro holte aus der Küche noch mal Nachschub, wir sprachen über unseren kurzen Trip, den wir unbedingt noch machen wollten, bevor er zurück nach Spanien musste. Neben dem Esstisch entdeckte ich plötzlich Graham, der einer süßen Blonden etwas ins Ohr flüsterte und händchenhaltend mit ihr im Flur verschwand. Die wievielte war das heute schon?
»Graham lässt es heute anscheinend ziemlich krachen«, bemerkte Alvaro und wirkte amüsiert.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass er eine Party schmeißt und dann nur in der Ecke sitzt. Er möchte den Abend, seiner Meinung nach, in vollen Zügen genießen. Was auch immer das letztendlich heißt. Ich will es gar nicht wissen.« Grinsend verzog ich das Gesicht und widmete mich wieder meinem Bier. Neben mir schaute Alvaro auf sein Handy und stöhnte.
»Ich sollte dann mal langsam los. Muss morgen früh raus. Bleibst du noch?« Ich schielte ebenfalls auf das Display, sah nach der Uhrzeit. 01:30 Uhr. Valentinas Schicht war bald zu Ende. Ohne Alvaro blieb ich hier sicherlich keine Sekunde länger, wer wusste schon, welcher von Grahams Börsenkumpels sich zu mir gesellte und die Ohren abkaute? Wenn ich mir die Männer im Raum so anschaute, hatten die alle ordentlich etwas intus und waren zu keinem normalen Gespräch mehr fähig. Vielleicht sollte ich eher meine Verlobte überraschen und sie von der Arbeit abholen. Mir war sowieso übel bei dem Gedanken, dass sie spät in der Nacht noch allein mit einem Taxi durch New York fuhr.
»Nein, ich gehe auch. Vals Schicht im Club ist gleich zu Ende. Ich werde sie abholen.«
»Soll ich dich hinfahren?«, fragte er und bei seinen trägen Augenlidern blieb mir nur eine Antwort übrig.
»Passt schon, ich nehme ein Taxi. Schau, dass du ins Bett kommst.« Wir standen beide auf, brachten die leeren Bierflaschen in die Küche und liefen zum Fahrstuhl. Dabei hielt ich nochmals Ausschau nach Graham, doch er war weit und breit nicht zu
sehen. »Der wird sich gerade die Seele aus dem Leib ficken lassen«, stellte Alvaro fest und drückte den Fahrstuhlknopf.
»Wahrscheinlich.« Zum Glück mussten wir nicht lange warten, es ertönte ein kurzes Ping
und die Türen öffneten sich. »Was steht morgen auf der Tagesordnung? Lässt dich dein Onkel nicht einmal an einem Sonntag in Ruhe?«
»Ich muss ein paar Dinge für ihn klären«, sagte er emotionslos. »Bei ihm gibt es keinen Ruhetag, außerdem kann ich ihm schwer aus dem Weg gehen, wenn ich bei ihm wohne.«
»Geh doch zu Collin«, grinste ich und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Fick dich«, erwiderte er und verkniff sich das Lächeln nur schwer. Das zeigten seine zuckenden Mundwinkel. Der Fahrstuhl blieb im Erdgeschoss stehen, die Türen glitten auf und wir traten hinaus. Vor dem Gebäude winkte ich mir eines der Taxis an die Seite, sobald Alvaro mit seinem Wagen wegfuhr. Mit einem Blick auf die Uhr vergewisserte ich mich, dass noch genügend Zeit blieb, bis Val aus dem Club kam. 01:45 Uhr. Das sollte zu schaffen sein.
Ich stieg in das Taxi, sagte dem Fahrer die Adresse, woraufhin er sich in den Verkehr einordnete und beschleunigte. Obwohl es schon spät in der Nacht war, stauten sich die Autos an manchen Kreuzungen und ich war heilfroh, dass wir die Knotenpunkte umfahren konnten und nicht darin festhingen.
Exakt zwei Minuten vor Schichtende hielt das Taxi vor dem Club, ich bezahlte und stieg aus. Neben dem Eingang lehnte ich mich gegen die Mauer, wartete darauf, dass Val rauskam, und als die Tür aufschwang, sprang ich auf. Doch es war nur eine ihrer Kolleginnen, die ich bei meinem letzten Besuch hinter der Theke gesehen hatte.
»Hey, ist Val noch drin?«, fragte ich freundlich und erntete ein breites Grinsen.
»Die ist zur Hintertür raus und schmeißt den Müll noch weg. Sollte aber gleich um die Ecke schneien! Gute Nacht.« Mit einem Winken verabschiedete sie sich und lief in die entgegengesetzte Richtung davon. Derweilen entschied ich mich dazu, Valentina entgegenzulaufen, statt hier wie ein begossener Pudel herumzustehen, und bog in die Gasse ein. Von weitem waren schon die Mülleimer im schummrigen Licht zu erkennen. Je näher ich kam, desto lauter und klarer hörte ich die Stimmen zweier Menschen, lauschte einem männlichen Lachen und erstarrte, als ich neben den Tonnen Valentina und Phil eng beieinander entdeckte.