Ein gewaltiger Knall ließ Tarik zusammenzucken. Er sah sich um. Nirgends stieg eine Rauchwolke auf, es handelte sich wohl nicht um einen Angriff auf Gaza. Stattdessen sah er einen Kondensstreifen am Himmel. Sicher hatte bloß mal wieder ein israelisches Kampfflugzeug mit einem Überschall-Knall das Kindergeschrei und den Verkehrslärm am frühen Nachmittag brutal übertönt. Die Kinder waren schlagartig verstummt. Tarik sah den Kondensstreifen weiter vorankriechen, in einem Bogen führte der weiße Strich jetzt weg von der Grenze zu Ägypten, zurück nach Nordosten, zurück nach Israel.
Schon lange war er nicht mehr geflogen. Wie mochte Rafah von dort oben aussehen? Seine Heimatstadt – von der doch nur der eine Teil wirklich seine Heimat war. Der größere Teil zwar, doch der andere, kleinere Teil der Stadt lag in Ägypten, auf der anderen Seite der Grenze, und damit in einer anderen Welt. Tarik war zu Fuß unterwegs, er kam aus dem Zentrum und wollte nach Hause. Gemächlich bewegte er sich entlang einer der lärmenden Hauptstraßen, schließlich bog er in eine Seitenstraße ein und nahm, wie so viele Male zuvor, die Abkürzung entlang der Trasse der ehemaligen Bahnstrecke. Jetzt war dort nur noch ein Streifen verwildertes Land. Sein Großvater hatte ihm erzählt, dass hier früher Züge vom Bahnhof Jaffa, dem ältesten Teil von Tel Aviv, bis nach El Qantara am Sueskanal, entlanggefahren waren, sogar mit Schlaf- und Speisewagen. Eine Friedhofsmauer und das Gelände einer Autowerkstatt begrenzten mittlerweile den Streifen. Laute Hammerschläge waren aus der Garage zu hören.
Er erwartete den vertrauten Anblick der mannshohen Sträucher neben dem Trampelpfad, die im Frühjahr unscheinbare gelbe Blüten trugen, einer der wenigen Lichtblicke im fast komplett zugebauten Gazastreifen. Tarik zuckte zusammen, ein Schreck, schlimmer als bei dem Düsenjäger-Knall zuvor: Dort, wo die Sträucher gestanden hatten, war der sandige Boden planiert, der Bewuchs zerstört, keine Sträucher mehr, das letzte Grün beseitigt!
Tarik konnte den Blick nicht von der kahlen Fläche abwenden, und sein Herz schmerzte. Einzelne Stängel mit verwelkten Blätterresten lagen noch zwischen Betonbrocken und Werkzeug, irgendjemand hatte gründlich gewütet, hier würde nichts mehr blühen.
Fassungslos schüttelte Tarik den Kopf: Man hatte ihm die letzte Erinnerung an Yasmina genommen: Den Geruch der kleinen, unscheinbaren Blüten dieser Büsche. Yasmina, seine große Liebe, die nie in Erfüllung hatte gehen dürfen. Er wusste nicht, ob es ein Parfum war, das Yasmina benutzt hatte, oder ob sie selbst diesen Geruch verströmte, an den ihn die Blüten erinnerten. Lange hatte er nicht gewagt, jemanden zu fragen, wie diese Pflanze eigentlich hieß. Letztes Jahr hatte er ein kleines Ast-Ende mit einer Blüte abgebrochen und dem Apotheker mitgebracht, der meinte, es sei »Ginster« – wohlriechend, aber keine Heilpflanze.
Jedes Jahr im Frühling ging er zwei- oder dreimal die Woche wie zufällig die Abkürzung über den kleinen Fußweg entlang der früheren Bahntrasse, um die Ginsterbüsche mit ihren gelben Blüten zu riechen. Bienen, manchmal auch Schmetterlinge schien der Duft ebenso anzulocken. Nirgendwo anders in Gaza waren ihm solche Pflanzen aufgefallen, und auch nirgendwo sonst, aber er hatte den Gazastreifen ohnehin seit Jahren nicht mehr verlassen. Hier in Rafah, ganz im Süden an der ägyptischen Grenze, wo die Folien-Gewächshäuser für Tomaten und Gemüse jeden Quadratmeter unbesiedelten Landes erobert hatten, hatte niemand Platz und schon gar kein Wasser für nutzlose Sträucher.
An Yasminas Gesicht konnte er sich nur noch verschwommen erinnern, jetzt war auch ihr Geruch für ihn verloren. Im Traum spürte er manchmal noch ihre weichen Finger auf seinem Arm, obwohl sie ihn nur wenige Male zart berührt hatte.
Tarik stand noch immer da und starrte auf die Bahntrasse, als er hinter sich eine Stimme hörte. »Salam, Tarik, was gibt es auf der Baustelle so Interessantes zu sehen?« Tarik wandte sich um, er erkannte Abdul, einen Nachbarn, und wollte sich nichts anmerken lassen.
»Was wird da gebaut?«, fragte Tarik daher zurück.
»PalTel baut hier einen Verteilerkasten für Telefon und Internet, nebenan kommt eine Funkantenne hin. Es gibt irgendein neues Europa-Hilfsprogramm für bessere Infrastruktur.«
»So Gott will bleibt die Infrastruktur eine Weile stehen, und die Israelis ruinieren sie nicht gleich wieder mit ihren Raketen.«
»Bis dahin haben wir wenigstens schnelles Internet, und das Telefonieren über WhatsApp wird auch endlich besser funktionieren.«
Tarik nickte, wünschte Abdul ein »Allah sei mir dir« und ging weiter. Er wollte allein sein und an Yasmina denken. Nicht, dass er Salma, seine Frau, nicht verehrte und schätzte. Mit der Zeit spürte er sogar ein tiefes Gefühl der Verbundenheit: Die vielen gemeinsamen Erlebnisse und die beiden Kinder – sie hatten ihr Leben gut gemeistert. Aber echte Liebe, die hatte er nur für einen einzigen Menschen jemals empfunden, und über dieses Gefühl hatte er nie mit irgendjemandem gesprochen.
Die Liebe zu Yasmina war der Grund dafür gewesen, dass er nach dem Studium nicht länger in Ägypten geduldet wurde. Yasmina war Ägypterin, sie hatte wie Tarik an der Sueskanal-Universität in Ismailia studiert.
Als ihre Familie von der unschuldigen Liebe Wind bekam, wurde Yasmina sofort zu Hause eingesperrt. An einen dahergelaufenen Palästinenser, noch dazu aus Gaza, wollte man die einzige Tochter nicht verlieren, das kam überhaupt nicht infrage.
Yasmina musste schon bald darauf einen Cousin aus Kairo heiraten, wie Tarik von einem Studienkollegen erfahren hatte. In den Vorlesungen tauchte sie nie mehr auf.
Tarik hatte seinen Abschluss noch bekommen, aber Yasminas einflussreiche Familie sorgte dafür, dass er danach seine Aufenthaltsgenehmigung sofort verlor und Ismailia und Ägypten wieder verlassen musste.
Zurück in Gaza heuerte er bei einem Vermittlungsunternehmen an, das palästinensische Bauarbeiter nach Kuwait entsandte, denn in Gaza gab es nicht viel zu bauen – und Israel, wo früher viele aus Gaza gearbeitet hatten, ließ Arbeitskräfte von hier nicht mehr ins Land.
So fand sich Tarik in einer stickigen Schlaf-Baracke in Kuwait wieder, in der es auch nachts zum Schlafen viel zu heiß war, tagsüber befehligte er bei sengender Hitze pakistanische Bauarbeiter oder schwitzte in einem verdreckten Bürocontainer ohne Klimaanlage gebeugt über Plänen für pompöse Luxusbauten, schicke Villen mit Swimmingpools oder Bürotürme mit großen, getönten Scheiben und Aircondition. Nach einem Jahr in Kuwait bekam er zwei Wochen Urlaub und eine stattliche Summe Geld.
In diesen zwei Wochen heiratete er Salma, die Familien hatten das so arrangiert. Er kannte sie vor der Hochzeit nicht, konnte sich jedenfalls nicht an sie erinnern, auch wenn die Eltern behaupteten, sie hätten als Kinder schon zusammen gespielt. Salma kam ebenfalls aus Rafah, ihre Familie lebte wie die von Tarik schon immer in Gaza, keine Nachkommen von Flüchtlingen aus dem heutigen Israel, man wollte unter sich bleiben.
An die Hochzeit erinnerte er sich wie an einen Film, in dem er aus Versehen selbst die Hauptrolle spielte. Salma fand er sympathisch, es war keine Liebe, aber er respektierte sie. Sie konnte nichts dafür. Manchmal dachte er darüber nach, ob auch Salma zuvor eine unerfüllte Liebe erlebt hatte. Gefragt hatte er sie nie.
Er hatte sich noch längst nicht an das neue Leben als Ehemann und die Verantwortung für eine Familie gewöhnt, als er sich schon kurz darauf wieder in Kuwait wiederfand. Es verging Jahr um Jahr, meist arbeitete er in einem der Golf-Staaten, baute Luxushäuser, Abwasserkanäle im Untergrund, Hafenanlagen, immer wieder unterbrochen für einige Monate in Rafah bei seiner Familie. Schließlich kam er aber doch noch zu einer Arbeit zu Hause in Rafah, die fortan den Lebensunterhalt der ganzen Familie sicherte.
Es war purer Zufall: Auf dem Flug von Kuwait nach Ägypten, von wo es für einen kurzen Urlaub weiter per Bus zur Grenzstation nach Rafah gehen sollte, saß breitbeinig auf dem Fenstersitz ein verschlossener Typ, der nur kurz mürrisch aufblickte und unwillig sein Bein zurückzog, damit Tarik sich auf den Sitz am Gang zwängen konnte. Als Tarik in den Unterlagen seines Arbeitgebers blätterte, las der dunkle Typ unverhohlen mit und begann sich plötzlich für ihn zu interessieren. Er stellte sich sogar vor und reichte ihm, trotz der Enge im Flugzeug, gebieterisch seine breite, behaarte Hand, mit der er schmerzhaft zudrückte: »Ich bin Hakim.« Er wollte wissen, was Tarik in Kuwait machte und was er gelernt hatte. Daraufhin drängte er Tarik, ihm seine Telefonnummer zu geben. Tarik hatte kein großes Verlangen danach, aber der Mann ließ sich nicht abwimmeln.
Schon am nächsten Tag, er hatte die Begegnung im Flugzeug bereits verdrängt, meldete sich dieser Hakim, man müsse sich dringend sehen, er solle sofort in das Café Abu Ahmed kommen, das sei ja gleich um die Ecke. Er sagte das mit einer Bestimmtheit, wie sie nur die Funktionäre der Hamas an den Tag legten. Sein Ton ließ einen Widerspruch unangebracht, vielleicht sogar gefährlich erscheinen, und auch wenn Tarik sich wunderte, woher Hakim wusste, dass das Café Abu Ahmed nicht weit von seinem Haus lag, machte er sich sofort auf den Weg.
Hakim begrüßte ihn ohne Worte und bedeutete auch ihm zu schweigen. Er öffnete ein kleines Metallbehältnis und legte sein Telefon hinein. Dann wies er ihn mit Gesten an, auch sein Handy in das Kästchen zu legen, gleichzeitig lud er ihn ein, sich auf das bereitliegende Kissen zu setzen. Erst als er den Behälter fest verschlossen hatte, begann Hakim zu sprechen: »Vorsichtige leben länger. Auch du wirst dich von nun an vorsehen müssen.« Dann kam er schnell zur Sache. »Ich habe mich erkundigt. Du baust unterirdische Kanäle in Kuwait und hast einen Plan für einen Tunnel unter dem Sueskanal entworfen, drunter durch, stimmt das?« Er machte eine Handbewegung, die die Linienführung eines Tunnels unter dem Kanal hindurch andeuten sollte.
Tarik erklärte ihm, dass ein Tunnel unter dem Sueskanal eine der Standardaufgaben bei den Bauingenieuren der Universität Ismailia sei, schließlich führte die Uni ja den stolzen Titel »Sueskanal-Universität«. Berge gab es in der Nähe keine, und so lag es nahe, im Fach Tunnelkonstruktion einen Tunnel unter dem Kanal hindurch zu entwerfen. Von Studenten wurden jedes Jahr etliche Tunnels unter dem Sueskanal gezeichnet und in allen Einzelheiten am Computer konstruiert. Tatsächlich gebaut wurde jedoch außer dem einen, der damals schon längst fertig war, nie wieder einer.
Hakim war ganz aufgeregt. »Du fährst nicht zurück nach Kuwait, du bleibst hier. Wir haben Arbeit für dich.«
»Aber ich habe einen Vertrag mit der Vermittlungsfirma, die haben mir auch noch nicht alles ausgezahlt für die letzten Monate, ich kann nicht einfach hierbleiben!«
»Vergiss die Kerle, du bekommst dein Geld, dafür sorgen wir. Du kannst sicher sein: Die zahlen, wenn ihnen ihr Geschäft wichtig ist, und ihr Leben. Und du hast ab sofort Arbeit bei uns, hier, zu Hause, in Rafah. Ein Mann sollte sowieso auf seine Frau aufpassen, ist nicht gut, wenn er zu oft und zu lang weg ist. Morgen regeln wir alles. Du kannst dich darauf verlassen.«
Hakim richtete sich auf, Tarik fiel auch in dem düsteren Café sein ungepflegter Bart auf, die Härchen wuchsen in alle Richtungen und auch aus der Nase. Hakim sprach leiser: »Wir suchen einen Tunnelbauer, einen richtigen Ingenieur, einen, der das wirklich gelernt hat. Ein langer, tiefer, stabiler Tunnel, den niemand so leicht entdeckt.« Hakims Miene verfinsterte sich. »Erwähne gegenüber niemandem unser Gespräch, hörst du! Du hängst jetzt sowieso mit drin. Also halt die Klappe, in deinem Interesse und im Interesse deiner Familie.« Dann wurde seine Stimme wieder weicher. »Ruf morgen um zehn Uhr diese Nummer an, und sorge dafür, dass du dann Zeit hast bis drei Uhr.«
Hakim griff nach seiner fast leeren Zigarettenschachtel, riss den Deckel ab, kritzelte eine Telefonnummer darauf und steckte ihn Tarik zu. Er öffnete den Telefon-Behälter, bedeutete ihm wieder zu schweigen und gab ihm sein Telefon zurück. Dann stand er auf und verschwand grußlos aus dem Café. Tarik bekam keine Gelegenheit, die Verabredung zu bestätigen. Es schien für Hakim selbstverständlich zu sein, dass andere taten, was er befahl.
In was war er da hineingeraten? Andererseits: bezahlte Arbeit in Gaza, nicht zurück nach Kuwait, wo man als Palästinenser den Reichtum der Golfbewohner sah, aber in einem Sklavenlager leben musste. Vielleicht doch gute Aussichten?
Dass er für die Hamas-Regierung arbeiten würde, schien da kein allzu großes Problem. Tunnel unter der Grenze gab es etliche, einer gefährlicher als der andere. Wenn er schon einen Tunnel bauen musste, dann würde seiner der beste werden, und der sicherste!
Dass sein Tunnel auch für ihn Sicherheit bedeuten würde, und zwar in einem Moment, in dem nichts mehr sicher war, das konnte er damals aber noch nicht ahnen.