KAPITEL 4

TARIK: DER TUNNEL

Die Sonne heizte den kühlen Morgen auf, es würde vielleicht der erste wirklich heiße Tag des Jahres werden. Die meist fensterlosen Fassaden der unscheinbaren Häuser auf beiden Seiten der Hauptstraße von Rafah schienen ziemlich leblos, nur ab und zu sah man verschleierte Frauen oder missmutige Männer durch die Haustüren herein- oder herauskommen. Die ersten lärmenden Fahrzeuge waren unterwegs.

Tarik stieg über die Betonwülste am unebenen Straßenrand, wich einem Motorrad aus, auf der anderen Straßenseite fuhr ein weißer Lkw, UNRWA stand in blauer Schrift auf der Plane. UNRWA, das UNO-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge, hatte eine Flotte von Fahrzeugen, mit denen Hilfsgüter aus den Zentrallagern in die Flüchtlingscamps im ganzen Gazastreifen gebracht wurden. So ging er von der kleinen Arztpraxis von Doktor Youssef nach Hause.

Ein Eselgespann, ein zweirädriger Wagen auf großen Gummireifen, kam langsam näher. Der Esel schien seine Kräfte schon jetzt am Morgen genau einzuteilen, damit sie für den ganzen heißen Tag reichten. Da gerade kein Motorfahrzeug vorbeikam, keine Kinder lärmten und auch kein Ruf aus dem Lautsprecher der Moschee sich zwischen den Mauern brach, hörte Tarik den surrenden Ton, das typische Geräusch von Gaza, das alle Bewohner nur zu gut kannten. Nicht das Surren von Zikaden, seit vielen Jahren gab es die schon nicht mehr, sondern das Surren von Drohnen. Er sah nach oben, zwei konnte er ausmachen, sie flogen gemächlich die Straße in Formation entlang, schwarze, spinnenartige Geräte, sicher hatten sie auch sein Gesicht oder sein Mobiltelefon oder beides gerade erkannt. Saßen irgendwo israelische Soldaten an einem Kontrollpult, konnten sie ihn, Tarik Abu Chaled, identifizieren? Oder wurden die Drohnen nur von Computern gesteuert? Tarik ging ruhig weiter in Richtung auf das Gebäude zu, in dem er wohnte und das den Eingang zu seinem Tunnel verbarg.

Damals, als der Bau des Tunnels beschlossen worden war, hieß es: »Wir müssen uns unabhängig machen und brauchen eine zuverlässige Verbindung zu unseren Brüdern in Ägypten.« Das war sein Auftrag: Der Tunnel, der nicht zu entdecken war.

Wenn er als Ingenieur ein Projekt anpackte, dann richtig, er hasste halbe Sachen. Die technischen Probleme bei einem Tunnelbau hinüber auf die ägyptische Seite von Rafah schienen beherrschbar, der Untergrund günstig. Sofern genug Baumaterial angeliefert wurde und der Aushub unauffällig verschwinden konnte, sollte der Bau schnell Fortschritte machen. Auch Arbeiter gab es mehr als genug. Die mussten natürlich so zur Baustelle gebracht werden, dass sie die genaue Lage des Tunnels nicht beschreiben konnten, doch auch das war mit einem überschaubaren Aufwand zu bewerkstelligen.

Tunnel zwischen Gaza und Ägypten existierten bereits im Dutzend, gefährliche, in Handarbeit von Halbwüchsigen gegrabene Gänge, in denen es immer wieder zu Unfällen kam, von den Israelis bombardiert, von den Ägyptern mit Abwasser geflutet. Manche Tunnel hatten einen großen Querschnitt und konnten sogar mit Autos befahren werden, andere waren klein und unauffällig, aber: Früher oder später wurden sie alle entdeckt. Trotzdem blieben sie bei den oft wochenlang geschlossenen Grenzen die einzige Verbindung. Waren die Grenzen offen, kam durch die Tunnel alles, was offiziell nicht nach Gaza gebracht werden durfte, die Liste der verbotenen Güter umfasste auch viele banale Alltagsdinge und zeitweise auch so notwendige Grundstoffe wie Zement. Vor allem blieben die Tunnel der Weg für alle, die die Grenze ohne Visum überqueren mussten. Oft genug erwiesen sie sich dabei als Todesfallen.

Die größte Herausforderung beim Bau seines Tunnels, für ihn die Mutter aller Gaza-Tunnel, würde die Geheimhaltung sein, das Anlegen von Ein- und Ausgängen, die die Israelis und Ägypter nicht so schnell entdecken würden, und ein Labyrinth, das spätere Tunnel-Passagiere passieren mussten, damit auch sie die genaue Lage des Tunnels nicht kannten und so auch nicht verraten konnten.

Es wurde von Jahr zu Jahr schwieriger: Das Surren der israelischen Aufklärungsdrohnen hörte man Tag und Nacht, die Satelliten hörte man zwar nicht, aber wahrscheinlich registrierten sie ebenso genau jede Bewegung, jede Benutzung eines Telefons. Beim Bau des Tunnels durfte keine Bewegung von Personen, keine Fahrt eines Lasters mit Baumaterial oder Aushub auffallen, für alles musste es eine harmlose Erklärung geben.

Einen Tunnel zu bauen, ohne dass es jemand mitbekam, war das eine. Ihn später zu nutzen, ohne dass schnell erkennbar wurde, wo es hinein und heraus ging, das hatte noch niemand geschafft.

Sein Plan, den er Hakim damals vorgeschlagen hatte, war folgender: Ausgangspunkt sollte ein Gebäude hinter einem UN-Lager in Rafah sein, mehr als einen ganzen Kilometer von der Grenze entfernt. Der Tunnel würde unter dem UN-Gelände hindurch, unter der Grenze und weit nach Ägypten hineinführen, in so großer Tiefe, dass eine Entdeckung auch mit modernster Technik nicht gelingen konnte. Zusätzlich schützte das weiß-blaue UN-Emblem des Lagers das Viertel in der Umgebung des Tunneleingangs vor Bombardierung und allzu aufdringlicher Ausforschung der Israelis.

Er hatte einen sehr langen, im Querschnitt aber sehr kleinen Tunnel vorgeschlagen, um die Masse an Aushub nicht ins Gigantische wachsen zu lassen. Im Tunnel würde man nicht aufrecht gehen können, er sollte mit einer kleinen Schienenbahn befahren werden. Hakim nannte die Vorgabe für das Mindestprofil der zu befördernden Fracht: Durch den Tunnel sollten »runde Teile« befördert werden können, sechs bis sieben Meter lang und mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. Klar, dass damit Raketen gemeint waren. Passagiere sollten ebenfalls Platz finden, aber nur in geschlossenen Wagen und zusammengekauert.

Tarik war inzwischen vor seinem Haus angekommen und schloss die Haustür auf, die aussah wie alle Haustüren von Wohnhäusern in Gaza. Wenn man hindurchging, kam aber noch eine Tür, stabil und besonders gesichert, er musste einen Schlüssel einstecken und einen Code eingeben, dann erst ließ sie sich öffnen. Sein Sohn Chaled kam ihm entgegen, Tarik begrüßte ihn: »Bist du soweit?«

»Mutter geht es heute gar nicht gut.«

Seit einigen Wochen lag Salma krank im Bett, ihr ging es immer schlechter. Tarik kam gerade selbst von Doktor Youssef, dem Arzt in der Nachbarschaft, den er gebeten hatte, später zum Hausbesuch zu kommen. »Der Doktor kommt gegen zwölf, sag Amany, sie soll ihn hereinlassen.«

Er ging zu seiner Frau und setzte sich an ihr Bett. In ihren Augen las er die Erschöpfung. Er nahm ihre Hand und sagte: »Der Doktor kommt bald, ruh dich aus. Amany kümmert sich um alles, ich muss mit Chaled zur Arbeit.« Tarik deutete nach unten. Salma nickte, schloss die Augen und drückte seine Hand ganz fest, dann ließ sie ihn los. Er seufzte und stand auf.

Zweihundert Treppenstufen tiefer, im »Hauptbahnhof«, wie sie den Raum am Endpunkt nannten, verbrachte Tarik den ganzen Tag.

Ein Schienenpaar führte dort in die enge, unbeleuchtete Röhre hinein. Aus dem dunklen Loch wehte jetzt ein modriger Hauch. Der Luftzug zeigte an, dass am anderen Ende des Tunnels der kleine Wagenzug in Fahrt gekommen war. Tarik hatte in das modern aussehende, aber primitiv funktionierende Telefon, dessen Kabel in einer Halterung an der Stollenwand verschwand, den Fahrbefehl gerufen. Dieser war ordnungsgemäß von seinem Sohn Chaled quittiert worden, der heute auf der ägyptischen Seite Dienst hatte: »Drei Wagen mit fünf Passagieren und zweihundert Kilo Ladung fahren von Station zwei ohne Halt an der Mittelstation durch zu Station eins.« Chaled fügte noch hinzu: »Letzte Fahrt von hier für heute, hier ist nichts mehr zu tun, Station ist gesichert. Bis gleich, ich fahre mit.«

Das Telefonnetz bestand aus genau drei Telefonapparaten: Hier an der Hauptstation, in dem hohen, hallenartigen Raum mit einem schwenkbaren Kran und einer kleinen, gut gesicherten Luke in der Decke, stand der erste. Einen weiteren gab es an der Mittelstation und einen an der Station am anderen Ende des Tunnels. Es gab keine Verbindung zu irgendeinem anderen Telefonnetz, die Apparate funktionierten nur mit Batterie oder durch Kurbeln an einem kleinen Stromgenerator, wenn die Batterien leer waren. Niemand konnte von außen abhören.

Es war streng verboten, einen der beiden Züge in Bewegung zu setzen, ohne dass es von der Gegenstation ausdrücklich bestätigt und genehmigt worden war. So primitiv das Telefon aussah, so unverzichtbar war es, die Sicherheit hing maßgeblich davon ab. Wenn ein Wagen oder gar ein ganzer Zug in Bewegung kam, durfte ihm nichts in die Quere kommen, und wenn er abwärtsfuhr, konnte man einen schwer beladenen Zug im Gefälle bis zum tiefsten Punkt in der Tunnelmitte auch nicht sicher bremsen. Die Züge fuhren bis zur Mitte mit Schwerkraft und wurden von dort mit dem kleinen batteriebetriebenen Motorwagen wieder die Steigung hinaufbefördert.

Der modrige Luftzug aus dem Stollen nahm zu, schließlich, seit der Abfahrt waren etliche Minuten vergangen, kündigte ein fernes Rumpeln die baldige Ankunft an. Dann hörte man auch das angestrengte Singen eines Elektromotors, endlich sah man einen schwachen Lichtschein im Tunnel. Der Zug, bestehend aus dem Motorwagen und drei weiteren Waggons, nicht größer als ein Kinderzug in einem Vergnügungspark, fuhr ein und hielt seufzend in »Rafah Main Station«, der Station eins.

Im Motorwagen ging eine Klappe auf, die Hände seines Sohnes Chaled griffen heraus, er richtete sich auf, stieg aus dem niedrigen Wagen, der nicht einmal schulterhoch war und den Tunnel fast vollständig ausfüllte. Tarik hatte das alles konstruiert. Es funktionierte einwandfrei, meistens jedenfalls. Tarik kannte jeden Winkel des Tunnels; er hatte auch die Züge selbst entworfen und deren Bau in einer streng abgeschirmten Autowerkstatt beaufsichtigt. Einige Blechteile von Toyota-Autos konnte man noch erkennen.

Chaled ging zum zweiten Wagen, entriegelte die Klappen, fünf Männer kamen nacheinander zum Vorschein und kletterten heraus, einer zerrte einen Koffer aus dem Innern, die anderen einen Rucksack und mehrere große Taschen aus kariertem Plastik. Sie schienen froh und erleichtert, dass die Fahrt in der engen Röhre ein gutes Ende gefunden hatte.

Diesmal zahlende Gäste, vermutete Tarik, keine Funktionäre der Hamas-Regierung und keine Mitglieder bewaffneter Gruppen, aber es konnte ihm auch egal sein. Zugangskontrolle und Fahrgeldabrechnung für die Passagiere, das alles übernahmen seine Auftraggeber und Vorgesetzten von der Hamas, er hatte nur die Verantwortung für den Tunnelbetrieb. Mit den Passagieren wurde absolut nichts geredet, außer knappen Anweisungen und Sicherheitshinweisen, so lautete die Vorschrift.

»Die Ladung holen wir morgen, für heute ist es genug«, Tarik und Chaled ließen die Klappen des dritten Waggons geschlossen. »Chaled, geh mit den Leuten voraus, ich komme hinterher.« Tarik legte einen Hemmschuh hinter den letzten Wagen, schloss die Batterien des ersten Wagens an das Ladegerät an, schaltete die Beleuchtung des primitiven Bahnhofs aus, dann folgte er den gebückt durch den Anschlussstollen tapsenden Fahrgästen, alles Männer mittleren Alters diesmal, die hinter Chaled ihre Taschen durch den Gang mehr schleiften, als dass sie sie in der engen Röhre tragen konnten.

Nach hundert Metern machte der Gang einen Knick, dann kam ein schweres eisernes Tor in einer Betonfassung, er verschloss und verriegelte es hinter sich und den Gästen. Danach ging es noch einmal in eine andere Richtung, bis zu einer Tür zu einem Treppenschacht, in dem eine Wendeltreppe nach oben führte. Spätestens nach den ersten beiden Umdrehungen auf der Wendeltreppe verlor jeder die Orientierung. Tarik hatte sich den Einbau von Wendeltreppen ausgedacht, damit die Passagiere auf keinen Fall beschreiben konnten, welche Richtung der Gang in den Tunnel genau hatte.

Nach der Wendeltreppe kam ein langer Korridor, der mehrfach die Richtung wechselte, schließlich eine verwinkelte Treppe in den Keller eines Hauses, dessen Erdgeschoss als Garage genutzt wurde. Die Passagiere wurden in einen Lieferwagen ohne Fenster und ohne Sicht zum Fahrerraum gesetzt, ein Gehilfe der Hamas saß am Steuer. Tarik öffnete das Garagentor, das Auto manövrierte hinaus und fuhr davon. Man würde die Passagiere in der Nähe eines belebten Marktplatzes in Rafah aussteigen lassen, nicht ohne mehrfach die Richtung zu wechseln und unnötig kompliziert dorthin zu fahren und nicht bevor das Signal eines Sicherheitspostens es erlaubte. Erst beim Aussteigen würden die Fahrgäste ihre Telefone zurückbekommen, die Chaled schon in Ägypten in einen Metallbehälter gepackt hatte, dessen Wände keine Funksignale durchließen.

Tarik schaltete die Alarmanlage des Gebäudes ein und ging ebenfalls nach draußen, er schloss das Tor und sicherte es sorgfältig mit zwei besonders starken Schlössern, dann stand er in der Dunkelheit von Rafah. Er atmete tief durch, holte die Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche und zündete sich mit dem Feuerzeug eine Zigarette an, die Flamme war das einzige Licht. Es gab wohl wieder einmal gerade keinen Strom in diesem Stadtviertel. Flackerndes Licht aus Häusern, an denen Notstromaggregate stinkend und geräuschvoll für Fernseh- und Internetempfang, Kühlschrankbetrieb und Notbeleuchtung sorgten, erreichte nur wenige Bereiche der Straße, die Ecken lagen in völliger Dunkelheit. Tarik schaltete seine Taschenlampe ein und setzte auf dem Weg durch die Gassen vorsichtig Fuß vor Fuß, darauf bedacht, nicht auf dem unregelmäßigen und schadhaften Straßenbelag ins Stolpern zu kommen.

Nach einiger Zeit war er auf der Hauptstraße und kam zurück zu seinem Haus, das genau über dem »Hauptbahnhof« seines Tunnels lag, aber mehr als vierzig Meter höher. Im Innenhof surrte das Stromaggregat, beißend rochen die Abgase, nur eine Lampe im Haus spendete etwas Licht.

Er ging ins Schlafzimmer, sah nach Salma, sie schlief entspannt, atmete ruhig, es schien ihr besser zu gehen. Leise schloss er die Tür.

Er rief: »Amany, bist du da?«, und bekam von seiner Tochter zu hören: »Hier, bei der Arbeit.«

Tarik sah in ihr Zimmer, sie saß mit ihren langen schwarzen Haaren, die sie im Haus offen trug, vor dem Computerbildschirm auf ihrem hohen Büro-Drehstuhl, das eine Bein untergeschlagen, das andere hing locker herab. Eine kleine Leuchte gab etwas Helligkeit auf die Tastatur, der Bildschirm verbreitete buntes Licht. »Ich bin gleich fertig.«

»War Doktor Youssef da?«

»Er sagt, er bringt morgen ein Medikament vorbei. Ein teures Medikament, aus Amerika. Du kannst es auch später bezahlen.«

Eine Schande, dass man Medikamente, die wirklich halfen, nur gegen viel Geld bekam. Wenigstens plagten ihn keine allzu großen Geldsorgen. Und auch seine Tochter verdiente schon mit, ihre Arbeit brachte viele echte US-Dollar ein.

Als kleines Kind schien Amany ein Sorgenkind zu werden, wollte nicht mit anderen Kindern spielen, nur für sich allein. Auch später hatte sie keine Freundinnen, lebte in ihrer eigenen Welt. Tarik war mit ihr sogar zu Doktor Youssef gegangen und hatte ihm geschildert, dass Amany keine Freundinnen hatte und so teilnahmslos war, aber über ein erstaunlich gutes Gedächtnis verfügte, sich an Bilder in allen Details erinnern konnte. Der Doktor hatte sich lange mit ihr unterhalten und dann gemeint: »Eine leichte Form von Autismus. Amany kann vieles, was uns schwerfällt, aber mit Menschen wird sie nicht so gut klarkommen.«

Inzwischen konnte er stolz auf sie sein, sie hatte Computerarbeit und verdiente viel Geld. Fast alle anderen jungen Leute aus Gaza hatten gar keine Beschäftigung, egal ob mit oder ohne Ausbildung und Studium, bezahlte Arbeit erst recht nicht. Junge Frauen wurden zum Heiraten gedrängt.

Amany konnte man zu nichts drängen, und Tarik versuchte es auch nicht. Sie hatte Arbeit, zu Hause, und das machte ihn zufrieden.

So ganz genau verstand Tarik nicht, wie diese Arbeit eigentlich funktionierte. Amany bekam über das Internet Dateien und Informationen, die sie am Bildschirm verarbeitete und das Ergebnis dann ablieferte, in eine »Cloud«, wie sie sagte. Tarik traute sich nicht zu fragen, was eine »Cloud« eigentlich war.

Eine ihrer Lehrerinnen hatte Amany die Arbeit im Internet verschafft, weil sie erkannt hatte, wo ihre Stärken lagen. Arbeit, die erledigt werden konnte, ohne dass man die Auftraggeber je sah, das war für sie ideal. »Remote work« nannte sich das, wie Amany ihm in einem der wenigen echten Gespräche einmal erklärt hatte.

Bezahlt wurde sie über Western Union, das Geld wurde in Zypern eingezahlt. Immer, wenn Geld angekommen war, ging Amany zusammen mit ihrem Bruder zu einer Bank in Gaza Stadt und bekam mit einer Codenummer das Geld in Dollar oder Schekel ausbezahlt, und zwar erstaunlich viel für Frauenarbeit.

Bei ihrem letzten Auftrag hatte sie digitale Landkarten aktualisiert, neue Straßen und Hafenanlagen einzeichnen oder aufgegebene Industrieanlagen herausnehmen müssen, so viel hatte er aus ihr herausgebracht. Eine Arbeit, die sehr genau ausgeführt werden musste, wie gemacht für sie. Er hatte ihr gelegentlich über die Schulter gesehen und italienisch klingende Ortsnamen entdeckt, mit unglaublicher Geschwindigkeit flogen ihre Finger über die Tasten, schob sie die Maus hin und her und klickte dabei in kurzem Takt. Da entstanden Muster, die Berge darstellen sollten, ein neuer Stausee erschien an einem der Flüsse, Straßen wurden verlegt, neue ins Straßennetz eingefügt, ungenutztes Land wurde zu Industriegebieten, mit großen Hallen, Straßenanschlüssen und Wegen. Sie arbeitete mit zwei Bildschirmen, sah auf den einen, zeichnete am anderen, zoomte größer und ließ das Ergebnis wieder schrumpfen, mit einem Magnetstift markierte sie Punkte und zog Linien.

Jetzt ging es wohl um Seekarten, soviel hatte er mitbekommen, und diese Arbeit wurde sogar noch besser bezahlt. Amany musste Sperrgebiete, Bojen, Liegeplätze, Wassertiefen-Angaben, Radarmarken und Leuchttürme, Navigationskennzeichen und Strömungskarten anpassen, überprüfen und auf den neuesten Stand bringen. Dabei war sie noch nie in einem Hafen gewesen, außer in den vergammelten Anlagen von Gaza mit den wenigen Fischerbooten. Richtige Schiffe kannte sie nur aus dem Fernsehen oder als graue Silhouetten am Horizont, die israelischen Kriegsschiffe vor der Küste Gazas, die das kleine Gebiet auch von der See her abriegelten.

Tarik ging in die Küche. Amany hatte in einem großen Kochtopf Reis aufgesetzt, er sah sich im Kühlschrank um, er hatte Hunger, sein Sohn würde auch bald zurückkommen. Er wollte für alle etwas kochen und holte Tomaten, Zwiebeln und Lamm-Kafta aus dem Kühlschrank. Seit seine Frau krank war, hatte Amany das Kochen übernommen, aber Tarik hatte begonnen, dabei zu helfen. Es sah niemand außerhalb der Familie, dass er für Männer unwürdige Arbeit machte, und für ihn war es kein Problem, seine kranke Frau und seine Kinder zu versorgen.

Tarik dachte an die Zeit, als er so alt gewesen war wie Amany jetzt. Sein damaliger Traum, ein Leben mit Yasmina als Bauingenieur irgendwo auf der Welt, allein der Gedanke daran war verboten. Er begann eine Zwiebel zu schneiden. Seine Augen tränten, er durfte die Tränen laufen lassen, es kam ja von der Zwiebel.