Wir hatten uns für Freitag verabredet, Uri hatte zwölf Uhr vor dem Café Benedict im Norden der Ben-Jehuda-Straße vorgeschlagen. Ich ging extra langsam auf einem Umweg dorthin, über die kleine Basel-Straße und einen Durchgang am Ende, um auf keinen Fall zu früh vor dem Benedict aufzukreuzen und dumm herumstehen zu müssen. So bog ich erst zwei oder drei Minuten nach zwölf in die Ben-Jehuda-Straße ein – und sah Uri sofort am Straßenrand auf der gegenüberliegenden Seite stehen.
»Schön, dass du gekommen bist!«
»Hallo! Gehen wir rein? Hast du da schon mal gegessen?« Blöde Frage, aber was anderes fiel mir nicht ein. Außerdem hatte ich Hunger, es roch nach frisch Gebratenem.
»Nur ein- oder zweimal. Riecht gut, oder? Hast du Hunger?«
»Ja, habe ich, lass uns reingehen.«
Wir wurden von einem Angestellten zu einem freien Zweiertisch geführt, und Uri rückte mir den Stuhl zurecht. Schon kam die Kellnerin, mit einem knappen T-Shirt, ihr Bauchnabel-Piercing zitterte direkt neben meinem Gesicht, wenn sie sprach. »Schalom, hier ist die Karte, was wollt ihr trinken? Kaffee, Bier?«
Er sah mich ironisch fragend an: »Bier bekommen unsere Seeleute ja nicht im Dienst, aber dafür vielleicht heute schon zum Frühstück?«
Ich lachte: »Ich trinke kein Bier, auch nicht, wenn es erlaubt ist. Kaffee ist das wichtigste Getränk bei der Marine. Also: Kaffee und ein großes Frühstück.«
Uri versuchte sich in Small Talk, über Essen, über das Leben im teuren Tel Aviv, wenn man wenig Geld hatte. Das Beste an Tel Aviv war der Strand, da waren wir uns schnell einig.
»Sollen wir hinfahren?«
»Wieso fahren? Der Strand ist doch gleich um die Ecke.«
»Na, auf meinem Roller, meine ich!«
So stand ich eine halbe Stunde später hinter Uri auf dem Roller, umschlang seine Brust mit meinen Armen. Meine Haare flogen im Fahrtwind, meine kleine Tasche hatte ich an den Trageschnüren wie einen Rucksack umgehängt, und ich machte in den Kurven dieselben Bewegungen wie Uri. Er fuhr aufmerksam, bremste vor Kreuzungen und Fußgängerwegen, er gehörte nicht zu der rücksichtslosen Sorte Rollerfahrer. Ich spürte seinen Körper, sein T-Shirt war angenehm, ich vergrub meine Nase darin und atmete tief ein, den Geruch von Sommer, Strand und Kraft. Na, soweit waren wir ja wohl noch nicht. Aber ich konnte es mir plötzlich vorstellen.
Wir hielten, weil er Autos vorlassen musste. Auf der anderen Straßenseite stand ein Schild mit einer grünen Welle und bezeichnete auf Hebräisch, Englisch und Arabisch die Gegend hier als Tsunami-Risikozone, ein Pfeil wies landeinwärts, in dieser Richtung sei man nach tausenddreihundertfünfzig Metern in Sicherheit. Tausenddreihundertfünfzig Meter, wie lange brauchte man da zu Fuß? Halb Tel Aviv ein Tsunami-Risikogebiet?
Uri bog in den Radweg ein, der am Strand entlangführte, hielt in der Nähe des Renaissance Hotels, und ich sprang ab. »Gehen wir ins Wasser?«
»Hast du einen Badeanzug dabei?«
»Warte hier.«
Ich ging mit meiner kleinen Tasche zum Strandeingang des Hotels, schlenderte an einem dicken, kahlköpfigen Wachmann vorbei und machte eine grüßende Handbewegung, so, als sei ich gerade aus dem Hotel gekommen und jetzt auf dem Weg zurück. Hinter der Glastür war es dunkel und kühl, und etwas versteckt gab es – wie ich vermutet hatte – gleich neben der Treppe zur Lobby einen Duschraum mit Toilette, dort zog ich meinen Bikini an. Ich ging wieder hinaus zum Strand, dem misstrauisch aufblickenden Wachmann im Vorbeigehen ein freundliches Dankeschön zuwerfend.
»Wo hast du deine Badehose?«, fragte ich Uri, als ich wieder zu ihm stieß.
»Schon an.« Uri streifte seine Hose ab, zog das T-Shirt über den Kopf, und wir gingen an einer Gruppe Volleyball-Spieler vorbei Richtung Meer. Neben einem Pärchen, das mit einem Säugling unter einem Sonnenschirm lag, legten wir meine Tasche und seine Kleider ab, der Mann sah müde aus und nickte gutwillig und gelangweilt, als wir ihn mit Blicken baten, darauf aufzupassen.
Draußen auf dem Wasser, vor den Wellenbrechern, steuerte ein Mann von der Strandaufsicht sein Rettungsboot elegant mit einem einzelnen Ruder durch die Brandung, wie ein Gondoliere in Venedig. Ich rannte aufs Wasser zu, hier liefen nur kleine Wellen auf den Strand, die größeren wurden von den Wellenbrechern abgehalten. Platschend rannte ich durch das seichte Wasser, bis es zum Rennen zu tief wurde. Uri kam hinter mir her, überholte mich, begann ins tiefere Wasser zu kraulen, ich folgte.
Nach einer Viertelstunde, die wir wie Kinder im Wasser planschend und spielend verbracht hatten, saßen wir im Sand, die Sonne brannte uns die letzten Tropfen Meerwasser von der Haut, auf Uris Arm blieben dünne Salzkrusten-Ränder zurück. Eine Möwe landete vor unseren Augen, trippelte näher an unsere Füße heran und musterte uns. Sie erkannte wohl, dass hier nichts Fressbares zu holen war, stolzierte im Sand weiter zu der jungen Familie unter dem Sonnenschirm. Der Vater verscheuchte die Möwe, die sich elegant wieder in die Luft erhob.
»Lange halten wir es hier in der prallen Sonne nicht aus«, stellte ich schwitzend fest.
»Ich weiß ein schattiges Plätzchen.«
»Bei dir zu Hause vielleicht?«
Uri sah mich an, nahm offenbar seinen ganzen Mut zusammen, blickte auf den Boden, malte mit dem Finger einen Kreis in den Sand und antwortete vielsagend: »Zum Beispiel …«
Ich schaute aufs Meer. Dann stand ich auf, kramte meine Hose und mein T-Shirt aus der Tasche und zog beides über meinen Bikini. Über dem Bikini-Oberteil wurde das T-Shirt feucht und nahm eine dunklere Farbe an. Uri schaute auf die feuchten Flecken; jetzt beeilte er sich, aufzustehen. Ich sah ihn streng an: »Aber nur, wenn du dich benehmen kannst!«
Seine Bude war tatsächlich ein Studenten-Apartment in einer Art Wohnheim auf dem Campus. Wie er es überhaupt geschafft hatte, da wohnen zu bleiben, wo er doch gar nicht mehr studierte, fragte ich ihn. »Wir haben eine Kooperation mit der Uni, und ein bisschen studiere ich ja auch noch.«
Im Treppenhaus roch es in den unteren Etagen nach irgendwelchen strengen Gewürzen, indisch oder arabisch, der Geruch verfolgte uns bis weit nach oben. Die Geräusche in den einzelnen Stockwerken waren sehr unterschiedlich: im Erdgeschoss ein israelischer Dudel-Sender mit hektischer Werbung, darüber wehmütige orientalische Musik, im dritten Stock Stille, im vierten klassische Musik, ich hörte genauer hin. »Das ist ein Beethoven-Klavierkonzert, oder?«
»Ja, aber frag mich nicht welches, kann mir die Nummern nicht merken.«
Er schloss seine Tür auf, neugierig schaute ich hinein, die Möblierung war abgewohnt, ein Arbeitsraum mit eingebauten Möbeln, in dem auch ein Sofa Platz gefunden hatte. Das Sofa gehörte wohl ihm, es schien kein Teil der Standard-Möblierung zu sein. Daneben, nicht abgetrennt, eine Schlafnische. Das Bett war mustergültig gemacht, wie in der Kaserne, es sah sogar frisch bezogen aus. Er hatte wohl damit gerechnet, mich hierherzubringen. Uri war beschäftigt, seinen zusammengeklappten Roller an eine Steckdose neben der Eingangstür anzuschließen.
»Du, kann ich mal …«
»Hier.« Er öffnete die Tür zum Bad.
Sie führte in einen sehr kleinen Raum ohne Fenster, mit Dusche, Toilette und Waschbecken, alles sah sauber aus. Bisher zehn von zehn Punkten. Ich zog meine Kleider und den Bikini aus. Das Klo war auch sauber, ich setzte mich drauf, betätigte gleich die Spülung, um die unvermeidlichen Geräusche angesichts der dünnen Tür zu übertönen. Neben dem Waschbecken lag ein frisches Handtuch bereit. Ich zog meine Klamotten wieder an, den nassen Bikini hängte ich auf den freien Handtuchhalter.
Dann öffnete ich leise und vorsichtig den Spiegelschrank über dem Waschbecken ein kleines Stück und schaute hinein. Ein Elektrorasierer, eine Nagelschere, Zahnpasta, Zahnseide, ein paar Fläschchen, die ich auf die Schnelle nicht zuordnen konnte, und … eine Dreier-Packung Präservative, aha! Die Packung war ungeöffnet, ein Aufkleber von Super-Pharm klebte an der Seite. Für das Date heute gekauft? Oder hatte er öfter Frauen hier? Ganz leise schloss ich den Spiegelschrank wieder, drehte den Wasserhahn noch mal kurz auf und zu und ging wieder hinaus.
»Möchtest du etwas trinken?« Wohl die älteste Frage in dieser Situation. »Was hast du denn im Angebot?« Ich entschied mich für Tee, das beschäftigte ihn ein wenig, und ich konnte unauffällig sein Zimmer in Augenschein nehmen.
Schließlich saß ich mit meiner Tasse auf dem Sofa; Uri ging zu dem schäbigen Einbauschrank, holte einen Karton und wühlte lange darin herum. Dann hielt er eine CD in der Hand und legte sie in das Gerät. »Klavierkonzert habe ich nicht, aber die erste und die fünfte Sinfonie.« Beim ersten Auftakt ging er ins Bad, als er herauskam, hatte er sein T-Shirt gewechselt. Sein Strandgeruch war nur noch schwach, eine hygienisch riechende Seife versuchte, ihn zu übertönen.
Er setzte sich zu mir aufs Sofa, ein bisschen zu weit weg. Ich rückte zu ihm, er nahm meine Hand, ich küsste ihn. Auf seinen Armen war noch die Salzkruste, wie ich fühlen konnte, ich hätte sie am liebsten weggeleckt. Ich ging aufs Ganze: »Ich glaube, nebenan ist es bequemer, was meinst du?«
Danach verliefen die Wochenenden anders als bisher. Ich machte mich möglichst früh auf den Weg, ging oft schon nach Dienstende am Donnerstag schnell in die Unterkunft, hatte das Mobiltelefon geholt und eingeschaltet, die Abfahrtszeit des nächsten Zuges von Haifa eingetippt und Uri geschickt, fast immer kam die Antwort wenige Augenblicke später: »Freue mich riesig, steige am Bahnhof Hof HaCarmel ein.«
»Vorletzter Wagen, bei den Klappsitzen.« Dort konnte er seinen E-Roller unterbringen.
Nach Hause zu den Eltern fuhr ich erst Freitagabend, am Schabbat-Mittag war ich bei den wechselnden großen Familienessen dabei, wie immer, den Rest des Wochenendes verbrachte ich mit Uri am Strand und in der Stadt, oder bei ihm in seiner kleinen Studentenwohnung.
Dass die Zeit, in der ich zu Hause war, immer kürzer wurde, fiel meinen Eltern nicht gleich auf, da ich immer viel mit Freundinnen ausgegangen war. Schon nach zwei Wochenenden ahnte aber Oma Sarah etwas. Als ich mich nach dem Schabbat-Essen wieder sofort verdrücken wollte, nahm sie mich beiseite: »Du bist in letzter Zeit immer so schnell weg. Wie heißt denn der Glückliche? Willst du ihn nicht mal der Familie vorstellen?« Ich muss ertappt ausgesehen haben, und ich wollte meine Großmutter auch nicht anlügen und alles abstreiten, also machte ich eine kleine Bewegung, die ein Nicken andeutete. »Ich sag nichts weiter. Aber versprich, dass du ihn bald mitbringst.« Eigentlich wollte ich Uri gerne noch ein wenig ungestört für mich haben. Aber Oma Sarah würde er sicher gefallen, oder?
Tsipora von der Betreuungsstelle hatte mir jetzt endgültig grünes Licht gegeben: Ich durfte Uri einweihen, nur von den U-Booten sollte ich noch nichts sagen, sondern »geheime Sondereinheit«. »Mehr muss er jetzt nicht wissen. Du kannst ihm aber unsere Telefonnummer geben, wenn du mal auf einem Einsatz bist. Sein Name und seine Telefonnummer sind bei deinen Daten zusätzlich hinterlegt.« Sie gab mir eine Visitenkarte, auf der nur »Betreuungsstelle« stand und eine als »24/7-Servicenummer« bezeichnete Telefonnummer. Ich steckte die Karte zu meinen Ausweisen.
Der Lehrgang ging langsam dem Ende zu. Wir büffelten für die Abschlussprüfungen, die im Laufe der nächsten Wochen stattfinden sollten.
Eines Tages eröffnete uns Anat, die Personalchefin der U-Boot-Flotte, dass am nächsten Tag »eine wichtige Veranstaltung in Paradeuniform« stattfinden würde. Wir holten also nach dem Frühstück die weiße Uniform aus dem Schrank und machten uns auf in Richtung Pier.
Hinter der Absperrung erwartete uns Anat: »Der Ministerpräsident besucht heute die U-Boot-Waffe. Ihr sollt hier«, sie hatte einen Plan mit farbigen Balken und Pfeilen in der Hand und deutete darauf, »Aufstellung nehmen, drei Reihen hintereinander. Um zehn Uhr geht es los, aber zehn Minuten vorher sollt ihr schon in Position sein, eine Stunde werdet ihr durchhalten müssen. Hier«, sie deutete auf das Nachbargebäude, »könnt ihr euch frisch machen. Dort gibt es auch Sonnencreme, eine Stunde in der Sonne kann verdammt lang werden.«
Um kurz vor zehn standen wir stramm, die Hände an der Hosennaht, und hielten unsere Paradeuniform mit dem U-Boot-Symbol an der Brust in die Sonne. Zum Glück wehte der Wind von der See her. Ich hatte das Gesicht dick mit Sonnenmilch eingecremt, alle anderen Bedürfnisse auch im grünen Bereich, eine Stunde Stehen sollte kein Problem sein. Das Knattern eines Hubschraubers war zu hören, umdrehen und schauen war jetzt verboten. Uns gegenüber hatte eine andere Bootsbesatzung Aufstellung genommen, Männer natürlich. Aus den Augenwinkeln sah ich links eine Reihe von Admirälen und Kapitänen mit viel Gold an den Uniformen und Mützen. Erkennen konnte ich nur Anat, die einzige Frau dort. Wir sahen in Richtung auf die Pier; die Spitze eines U-Boot-Turmes mit Sehrohr und den anderen ausfahrbaren Geräten lugte herüber. Auf dem Turm stand der Kommandant, auch er in Paradeuniform, die er im Einsatz an Bord sicher nicht einmal dabeihatte, wozu auch.
Nach einer Unendlichkeit, die nicht länger als fünf Minuten dauerte, bogen vier Militärautos um die Ecke und hielten an. Die hintere Tür des zweiten Wagens wurde von einem Sicherheitsmann geöffnet, auf der anderen Seite stieg ein Admiral aus. Auf unserer Seite erschien zwei, drei Augenblicke später tatsächlich der Ministerpräsident, den ich bisher nur vom Bildschirm und den Wahlplakaten kannte. Er sah weniger strahlend aus als im Fernsehen, knöpfte sein Sakko zu und strich sich über den Kopf, wo der Wind begann, die Haare in Unordnung zu bringen.
Der Admiral wies ihm den Weg zu einem Rednerpult. »Liebe Kameraden der U-Boot-Waffe«, begann er seine Rede. Er sprach eigentlich wie im Fernsehen, irgendwie kam es mir vor, als hätte ich die gleichen Sätze schon öfter von ihm gehört. Dann hob er an, um seine Botschaft an uns loszuwerden.
»Israel ist unsere Heimstatt, eine sichere Heimat, niemals wieder soll es jemand wagen, uns in ernsthafte Gefahr zu bringen, uns mit Auslöschung zu drohen oder unser Leben nachhaltig zu beeinträchtigen. Deshalb haben wir eine Armee, eine Luftwaffe und eine Marine, die uns verteidigen. Unsere Feinde und die Terroristen sollen wissen, dass wir jeden Angriff und jede Bedrohung sofort und unmissverständlich beantworten. Euch, der U-Boot-Waffe, kommt dabei eine ganz besonders wichtige Rolle zu. Wir beabsichtigen nicht, eure Waffen überhaupt jemals einzusetzen. Aber die Existenz dieser Waffen auf den Booten, von denen niemand weiß, wo sie kreuzen und die niemand hören und verfolgen kann, das ist die ultimative Abschreckung, unser höchster Trumpf, so hoch, dass niemand es wagt, gegen unser Israel, die sichere Heimstatt aller Juden, einen Krieg zu führen.«
Sein Bass schallte über den Platz, die Lautsprecher brummten bei den tiefen Tönen.
Der Ministerpräsident drehte sich zum U-Boot und sprach weiter: »Diese Besatzung fährt heute nach der Ausbildung zum ersten Mal auf einen Einsatz. Die Einsätze verlangen euch U-Boot-Männern sehr viel ab: Es ist eine große Belastung, wochenlang ohne Kontakt zu irgendjemandem an Land, getrennt von den Familien, diesen Dienst zu tun. Es ist aber notwendig, um unsere Heimat zu schützen. Allzeit gute Fahrt, und glückliche Heimkehr nach Haifa!«
Der Ministerpräsident stieg von dem kleinen Podest hinter dem Rednerpult und ging ein paar Schritte auf das U-Boot zu. Dabei wurde er von einem Admiral eskortiert, der auf ihn einsprach und dabei auf uns Frauen deutete. Der Ministerpräsident änderte abrupt die Richtung und kam auf uns zu, baute sich vor uns auf und musterte uns, Frau für Frau, sichtlich angetan. »Ich bin stolz auf euch, Frauen der U-Boot-Waffe! Ich bin sicher, ihr macht eure Arbeit genauso gut wie die männlichen Kameraden, oder sogar noch zuverlässiger!« Er winkte uns, drehte sich um und ging jetzt zum U-Boot, balancierte über die Gangway und verschwand im Vorschiffsluk.
Nach geraumer Zeit tauchten zuerst die Köpfe von zwei oder drei Begleitern wieder auf, schließlich der des Ministerpräsidenten. Er ging über den Steg, davor wartete sein Auto mit offener Tür, der Wagen fuhr sofort los.
Kurz darauf durften wir unsere Position verlassen, der »offizielle Anlass« war zu Ende, der Lehrgang würde weitergehen, sobald wir wieder die Arbeitskleidung angezogen hatten.
Am nächsten Donnerstagabend auf der gemeinsamen Zugfahrt nach Tel Aviv erzählte ich Uri beiläufig, dass der Ministerpräsident den Marinestützpunkt besucht hatte und ich in weißer Uniform hatte strammstehen müssen; ich dachte, das wäre unverfänglich. Uri sah mich nachdenklich an und sagte dann leise: »Habe im Internet gesehen, dass er die U-Boot-Besatzungen besucht hat. Fotos davon sind im Netz, die Gesichter der U-Boot-Männer sind alle verpixelt.« Einen Moment später fragte er, noch leiser, sodass nur ich es verstehen konnte: »Bist du bei den U-Booten?«
Leugnen wäre blöd gewesen, auch wenn ich noch nicht die Freigabe hatte, ihn einzuweihen. Ich nickte wortlos und fügte hinzu: »In Ausbildung.« Er sah mich nachdenklich an.
Mein erster Gedanke: Ich musste die Betreuungsstelle gleich am Montag informieren. Der zweite: Hoffentlich nahm Uri es mir nicht übel, dass ich ihn bisher nicht eingeweiht hatte. Ich flüsterte: »Wird ein großes Geheimnis draus gemacht. Musst du verstehen.«
Er nickte, sah mich an, eher erstaunt oder besorgt, nicht ärgerlich, wie ich erleichtert bemerkte.
Später, bei ihm zu Hause, sagte er: »Der Ministerpräsident hat doch die U-Boote nur gekauft, weil er dafür Prozente bekommen hat, das wird zumindest behauptet. Jetzt hat er deshalb eine Korruptionsanklage am Hals.« Ich zuckte mit den Achseln und hielt halbherzig dagegen, dass die U-Boote wohl schon wichtig seien, für die Verteidigung.
Uri sah mich an: »Wirst du allein mit lauter Männern in einem Boot sein?«
Ich lachte: »Nein, nein, keine Angst, wir haben eine Besatzung nur aus Frauen«, und fügte ernst hinzu, mit dem Finger an den Lippen: »Auch das ist geheim. Halt bloß die Klappe!«
»Ok, ok, verstanden. Aber die Tauchfahrten! Ist das nicht sehr gefährlich? Diese jüdische Offizierin auf dem argentinischen U-Boot, wann war das, vor ein, zwei Jahren, die ist mit dem U-Boot untergegangen.«
»U-Boot-Fahrt ist nicht gefährlicher als jede Seefahrt. Man braucht ein gutes Schiff, ein gutes Team und eine gute Ausbildung, wir bekommen das alles.« Uri sah mich skeptisch an. »Bist du denn schon unter Wasser gefahren?«
»Nur einmal, als Gast. Aber bald geht es los, dann bin ich auch mal länger weg, einige Wochen.«
»Immer getaucht?«
Ich nickte und sah ihn an: »Wirst du dann an Land auch schön brav bleiben?«
Er dachte nach und setzte einen unschuldigen Blick auf: »Wenn ich jetzt Nein sage, bleibst du dann an Land und machst irgendeinen Büro-Job bei der Armee, wo du jeden Abend pünktlich Feierabend hast, oder noch besser: hörst auf bei der Armee, wenn die zwei Jahre um sind?«
»Nein, ich zieh das jetzt durch, für ein paar Jahre. Also noch mal: Kannst du das aushalten, oder suchst du dir eine, die jeden Abend freihat?«
Er schaute mich an, dann nickte er, es wirkte sehr ernsthaft.
Am nächsten Morgen, nach dem ersten Kaffee im Bett, schlug Uri vor: »Lass uns zu Fuß in die Stadt gehen und dort richtig frühstücken.« Wir schlenderten aus dem Neubauviertel der Universität über die Brücke in Richtung Dizengoff-Straße, bogen in die Ben-Jehuda-Straße und kehrten wieder im Benedict ein, wo wir uns zu unserem ersten Date getroffen hatten. Wir setzten uns an »unseren« Tisch, er himmelte mich an, so als hätten wir uns gerade erst kennengelernt, und ich genoss das Gefühl, dass Uri nun Bescheid wusste und wir offenbar dabei waren, eine ernsthafte Beziehung anzufangen.
Mit vollem Bauch liefen wir wieder durch die Dizengoff-Straße und weiter in Richtung Stadtmitte. Ich achtete nicht auf die Läden links und rechts an der Straße, als Uri plötzlich vor einem Schuhladen stehen blieb. Er sah auf meine Füße und deutete dann auf ein paar hochhackige weiße Stöckelschuhe, mit falschen Edelsteinen verziert – oder funkelten da echte Diamanten? »Die könnten passen …« Jetzt erst sah ich, dass alle Schuhe in dem Laden weiß waren, es war ein Geschäft, das nur weiße Schuhe führte, und auch die im Laden nebenan angebotenen Kleider waren alle weiß, Brautkleider. Ich sah Uri an, machte er Spaß? Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
»Die sind mir zu unbequem, in so was kann ich nicht laufen.«
»Dann vielleicht die hier?« Er zeigte auf flache Treter, natürlich auch weiß.
»Gibt’s auch weiße Sneakers?«
»Wenn, dann hier in der Dizengoff-Straße, komm, wir suchen weiter.«
»Nee, du, kein Bedarf vorerst.«
Uri schien betroffen von meiner Abfuhr. War es ihm doch ernst gewesen? Ein verklausulierter Heiratsantrag?
Wir gingen ein, zwei Minuten nebeneinanderher, ohne etwas zu sagen. Ich wollte ihn ja behalten, aber doch nicht gleich heiraten. Jetzt musste ich ihm irgendwie entgegenkommen, ihm zeigen, dass auch ich mir mehr und mehr Verbindlichkeit in unserer Beziehung wünschte, ohne jedoch gleich schon konkrete Hochzeitspläne zu schmieden. Ich brach das Schweigen. »Also, hör mal zu: Heute Nachmittag hat meine Oma Sarah eingeladen, wie wäre es, wenn du mitkommst? Da kannst du dir dann überlegen, ob du mit der ganzen Friedman-Mischpoke überhaupt etwas zu tun haben willst.«
»Kann ich da denn so einfach auftauchen?«
»Das lass mal meine Sorge sein. Oma Sarah wird sich freuen.«
So klingelten wir einige Stunden später an der Tür des Hauses meiner Großmutter in Binyamina. Ich musste gar nichts erklären. Oma Sarah sah mich an, wie ich die Hand von Uri hielt und ihn mit seinem Namen vorstellte. Sie war ganz aus dem Häuschen, umarmte Uri sofort, entriss ihn mir, führte ihn an der Hand ins Haus und rief laut in die versammelte Familie: »Seht mal, wen unsere Leah da mitgebracht hat!«, so, als wäre Uri ihre Eroberung.
Sie hatten sich fast vollständig versammelt, meine Eltern, mein kleiner Bruder, zwei Omas, ein Großvater, deren Geschwister, die Tanten und Onkel, deren Kinder und auch schon einige Enkel, viel mehr Leute als ich erwartet hatte. Bei etlichen wusste ich gar nicht so genau, wie sie eigentlich mit uns verwandt waren, vielleicht waren auch gar nicht alle verwandt. Die meisten Gäste standen herum, Teller in den Händen, andere hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Es roch nach Tomatensoße, Fisch, gebratenem Fleisch und Erdbeeren, alles durcheinander.
Oma Sarah rief in den Raum: »Das ist der Uri von Leah, sagt mal alle: Herzlich willkommen!« Es gab ein großes Hallo. Meine Mutter schwieg, sah erst Uri an, dann mich, und hatte Falten auf der Stirn. Mein Vater dagegen ging gleich auf Uri zu und begann, neugierige Fragen zu stellen. Oma Sarah unterbrach ihn: »Nun lass ihn doch erst etwas essen, bevor du alles Mögliche von ihm wissen willst!«
Ich hörte meine Mutter zu Oma Sarah sagen: »Sag mal, woher wusstest du, dass Leah einen Freund hat? Kanntest du ihn schon?«
»So etwas sieht man doch. Leah sah so fröhlich aus in letzter Zeit. Ist dir das nicht aufgefallen? Töchterle, du kennst dein Kind gar nicht richtig, eine Großmutter sieht da mehr.«
Oma Sarah zwinkerte mir zu. Uri bekam einen Teller mit einer Riesenportion der selbst gemachten Dattel-Quark-Lasagne von Oma Sarah aufgedrängt. Zum Essen kam er kaum, denn er sollte Bericht erstatten, woher er stamme, ob er studiere, was er bei der Armee gemacht hätte.
Meine Nichte Rivka machte sich bei Uri durch Zupfen an seinem Ärmel bemerkbar. Uri beugte sich hinunter und fragte: »Hallo, wie heißt denn du?« Rivka aber fragte ernst: »Kannst du pusten?«, und hielt ihm einen großen schlappen Ball hin. Uri stellte den Teller ab, blies den Ball auf, verschloss das Ventil und ging mit Rivka in den Garten, um ihn auszuprobieren.
Eine große Spielzeugeisenbahn, halb fertig aufgebaut, füllte die Terrasse aus. Leo und Jakob, die beiden Söhne von Onkel Nathaniel, versuchten, die Bahn in Gang zu bringen. Uri musste auch dort aushelfen, ich sah ihn auf dem Boden knien, die Wagen ins Gleis stellen und aneinander kuppeln.
Mein kleiner Bruder ging jetzt auch auf die Terrasse und half Uri. Eine ganze Weile waren die beiden mit den Kindern beschäftigt, schließlich kam Uri wieder ins Wohnzimmer.
Onkel Samuel war der nächste Neugierige, der ihn ausfragte. Sie sprachen über die Finanzierung von Start-ups in Israel. Mein Onkel war Steuerberater. Ich hörte ihn zu Uri sagen: »Dann seid ihr ja schon ziemlich weit! Alles, was mit Wasserstoff zu tun hat, ist für Investoren wahnsinnig interessant, euer Projekt passt da perfekt ins Portfolio. Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid, ich helfe euch gerne.«
Ich war überrascht, dass sich Onkel Samuel so für Uris Firma interessierte, er, der sonst nur mit großen Konzernen aus den USA und Europa zu tun hatte. Ich hatte Uris Firma mit ihrem Wasserstoff-Projekt nicht so ganz ernst genommen. Uri hatte an der Firma ja einen Anteil, er hatte auch einen Start-Investor mit viel Geld erwähnt. Verdient hatten sie bisher aber so gut wie nichts, sie zahlten sich nur sehr kleine Gehälter aus. Aber wenn sich Onkel Samuel dafür interessierte, dann war an den Ideen vielleicht doch etwas dran.
Endlich waren wir wieder für uns, im letzten Zug vor der Schabbat-Fahrplanpause am Freitagabend zurück nach Tel Aviv. Es hatte sich etwas verändert. Vorher hatten wir nur uns gehabt, jetzt hatten wir eine Beziehung, die einer Menge Leute bekannt war, die mit Sicherheit alle über uns redeten. Gut, die Kollegen in der Betreuungsstelle hatten von Anfang an über Uri Bescheid gewusst, aber denen waren die Einzelheiten egal, solange ich mich nicht mit einem russischen Agenten einließ.
Bald würden noch mehr Leute Bescheid wissen, denn Uri griff nach seinem Telefon und fragte beiläufig: »Morgen Mittag ist Schabbat-Essen bei meiner Familie. Du kommst doch mit, oder?« Diesem Wunsch konnte ich mich schlecht entziehen, und neugierig war ich eigentlich auch, also nickte ich. Uri sagte: »Die werden hingerissen sein von meiner Matrosin«, und lächelte.
Am nächsten Tag, am Schabbat, fuhren wir vormittags mit einem Kleinbus nach Or Jehuda, wo sich die Familie von Uri traf. Jetzt galten die kritischen Blicke mir.
Uris Schabbat-Essen erschien mir fast noch größer als unser Sippentreffen bei Oma Sarah am Tag zuvor. Die Cohens waren nur ein Seitenzweig, wie ich jetzt erfasste. Zur Hälfte war die Familie irakischjüdisch, die meisten hießen Arbili. Ich wurde neugierig beäugt und ausgefragt, genau wie Uri am Tag zuvor.
Das Buffet bei den Cohens und Arbilis war mindestens so vielfältig wie das bei den Friedmans, es gab alle möglichen Köstlichkeiten, kalt oder seit dem Vortag warmgehalten, denn es war ja ein Schabbat-Essen. Ich konnte nur einen Teil davon überhaupt probieren, so viel Verschiedenes stapelte sich auf den Tischen.
Esra, ein Onkel von Uri, suchte den Kontakt zu mir. Er war Ingenieur bei der Eisenbahn und fragte mich: »Was machst du nach der Militärzeit?«
»Vorerst bleibe ich bei der Marine, danach weiß ich noch nicht.«
»Du machst länger beim Militär? Welche Fachrichtung hast du?«
»Elektrotechnik.«
»Ingenieurin, im Offiziersrang, oder? Das ist sehr interessant. Wir suchen immer Leute, gerade Elektrotechnik ist hoch im Kurs. Wann bist du denn fertig mit der Seefahrt?«
»Das wird noch dauern, habe ein Angebot für zehn Jahre.«
»Zehn Jahre! Aber wenn du schon vorher keine Lust mehr hast auf Militär, lass es mich wissen. Wir brauchen junge Ingenieure.«
»Was gibt es bei euch denn zu tun, die Gleise liegen doch schon?«
»Na, wir elektrifizieren alles, bauen neue Strecken und neue Bahnhöfe, kaufen viele neue Züge. Es gibt unendlich viel Arbeit, bis wir unser Verkehrswesen umgebaut haben. Heute fahren viel zu viele mit dem Auto.«
Esra schien echt begeistert von seiner Arbeit und der Eisenbahn, er versuchte es weiter: »Leute wie dich suchen wir, Militär-Erfahrung ist hoch im Kurs.« Ich nickte und schwieg, denn eigentlich konnte ich mir im Moment gar nichts anderes vorstellen, als bei meiner Crew und den U-Booten zu bleiben. Das merkte auch Esra.
Uris Mutter, eine geborene Arbili, also aus dem irakisch-jüdischen Zweig der Familie, war ziemlich neugierig. Eine Frau bei der Marine, auf Schiffen unterwegs, und dann noch die Militärzeit freiwillig verlängert, das war ihr offenbar unbegreiflich. Vorsichtig tastete sie sich an die Frage heran, wie man denn als Marineoffizierin eine Familie gründen könne. Ich lenkte ab. Erst wollte Uri mir weiße Schuhe kaufen, dann ließ seine Mutter erkennen, dass sie auf Enkel wartete. Das ging mir alles viel zu schnell.
Eine Frau im Alter zwischen mir und Uris Mutter hatte sich dazugestellt und mitgehört. Sie stellte sich als Gila vor und schaltete sich in das Gespräch ein. »Jetzt bring unsere Leah doch nicht gleich in Verlegenheit.« Dann wandte sie sich mir zu: »Finde ich gut, dass du dich in einem Männer-Bereich wie der Marine durchsetzen willst. Lass dich bloß nicht unterkriegen dort. Wir Frauen können vieles nicht nur genauso gut, sondern manches oft sogar besser als die Männer. Wirst du denn als Offizierin die Männer mal so richtig herumkommandieren dürfen?«
»Wir sind eine reine Frauen-Crew.«
Uris Mutter, die bei Gilas feministischen Äußerungen kritisch geschaut hatte, reagierte erleichtert auf den Begriff »Frauen-Crew«.
Gila zwinkerte mir zu und sagte: »Nicht, dass du denkst, der ganze Clan sei noch im Mittelalter unterwegs. Die Cohen-Seite jedenfalls nicht. Ich finde es toll, Kinder zu haben«, sie nickte stolz in Richtung eines kleinen Mädchens, das sich gerade die farbigsten Früchte von der Dessert-Platte angelte und offenbar ihre Tochter war. »Aber ihr solltet erst das Leben genießen, den richtigen Job finden. Lasst euch bloß Zeit.« Ich war froh, dass ich mit dieser Einstellung hier nicht allein war, und sah Gila dankbar an.
Am nächsten Morgen ging es zurück nach Haifa, Ankunft gegen neun Uhr in Bat Galim, zu Fuß in den Stützpunkt. Am Bahnhofsausgang holte ich Rachel ein.
»Wie war das Wochenende?«
Ich erzählte ihr von dem Besuch bei Uris Familie und dem Enkel-Wunsch seiner Mutter.
»Was, soweit seid ihr schon? Willst du denn heiraten? Und hier einfach aufhören?«
»Quatsch, natürlich nicht. Irgendwann will ich schon heiraten und Kinder haben, aber jetzt kommt erst die Seefahrt! Der irakische Teil von Uris Familie will bald Enkel sehen, die anderen, die Cohens, sind anders drauf, zum Glück. Eine aus der Cohen-Familie meinte sogar, wir sollen uns bloß Zeit lassen.«
Rachel lachte auf. »Ich hatte auch mal einen Freund, dessen Misrachim-Familie aus dem Jemen uns gleich verheiraten wollte. Er war sowieso nicht der Richtige, kam gar nicht infrage. Wenn ich bei ihm geblieben wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich Babysachen waschen und Datteln mit Nüssen spicken.«
Uri kam für mich schon infrage, da war ich mir inzwischen ziemlich sicher. Und Uri wollte Kinder, ich ja eigentlich auch. Wann der passende Zeitpunkt dafür war, das konnten wir uns noch in aller Ruhe überlegen.