KAPITEL 14

TARIK: WASSEREINBRUCH

Dumpf ließ Tarik den schweren runden Stahldeckel in die Betonfassung mit den Gummidichtungen fallen. Die Luke des langen Schachts hinunter zum Bahnhof, an die vierzig Meter unter dem Haus, war wieder geschlossen. Diese Öffnung, der direkte Zugang, wurde von Passagieren nicht genutzt. Sie mussten durch das »Labyrinth«, damit sie die Lage des Tunnels nicht beschreiben konnten. Die Luke sah von außen in geschlossenem Zustand aus wie der Deckel eines unterirdischen Tanks, und sie durfte nur geöffnet werden, wenn kein Nicht-Eingeweihter es mitbekommen konnte.

An dem Kranhaken an der Hallendecke hing senkrecht noch ein runder, länglicher Behälter, der soeben aus dem Schacht hervorgeholt worden war. Tarik hatte ein schlechtes Gefühl, vermutlich war eine Rakete darin. Er sah sich als Tunnelbauer und Verkehrsunternehmer, aber nicht als Teil einer Kriegsmaschinerie, die sinnlos nach Israel feuerte – auch wenn er in Momenten wie diesem einräumen musste, dass sein Tunnel Teil einer militärischen Organisation war.

Tarik startete den Motor des neben der Luke stehenden Lasters und manövrierte ihn unter den Kran. Dann stieg er aus und übernahm wieder die Kransteuerung.

Vorsichtig ließ er den Kranhaken herunter, Amany brachte den Behälter auf der Ladefläche nach und nach in eine waagrechte Position; zwar hing das schwere Ding noch am Haken, aber um es in die richtige Position zu bugsieren, war trotzdem einiges Geschick nötig. Amany ging es leicht von der Hand. Schließlich lag der Behälter auf der Ladefläche, sie löste den Haken und sicherte den Behälter mit Gurten.

Tarik schloss das Verdeck und rollte die weiß-blauen Planen aus. Der Laster verwandelte sich wieder in einen UNRWA-Lkw, den die Israelis nicht angreifen würden. Eine Menge metallbeschichteter Kartons, mit alten Textilien und Schaumstoff gefüllt, wurden neben und auf den Raketen-Container gestapelt, damit die Israelis auch mit Radar- oder Infrarot-Geräten nichts Verdächtiges unter der Plane bemerken konnten.

Tarik rangierte den Laster beiseite. Morgen würde er ihn hinausfahren und beim UN-Lager an einen zuverlässigen Fahrer übergeben, der ihn in die Nähe eines Waffenlagers der Hamas bringen würde, wohin genau, durfte er nicht wissen, genauso, wie der Fahrer nicht wusste, wie die Ladung seines Lasters nach Gaza gekommen war.

Für heute gab es jedoch noch etwas zu tun. Er hatte Amany bereits angekündigt, dass er sich weit unten im Tunnel eine Stelle genauer ansehen musste, an der sich die Tunnelwand früher schon einmal verformt hatte.

Ein Tunnel lebte, er brauchte Pflege, man musste früh erkennen, wenn sich der Berg veränderte oder wenn Wasser eintrat, weil der Untergrund sich gesetzt hatte. Bisher erwies sich sein Tunnel als solide Konstruktion, aber er wollte kein Risiko eingehen. Der Tunnel sollte zuverlässig und sicher bleiben, das war er seiner Ingenieursehre schuldig.

Tarik und Amany setzten Helme mit Kopflampen auf, Tarik öffnete wieder die Luke, Amany ließ sich geschickt mit den Füßen voraus hineingleiten, bekam die oberste Sprosse mit den Händen zu fassen und hangelte sich an der Leiter in dem senkrechten Schacht hinunter. Tarik tat es ihr nach, hinter sich verschloss er die Luke wieder. Das war eigentlich gar nicht nötig, weil ja niemand Zugang zu diesem Eingang hatte, außer Chaled, der vor seinem Computer saß. Jedenfalls schloss er die Luke und ließ sie fest einrasten, zum Glück, das sollte sich später als Rettung erweisen.

Stufe für Stufe kletterten Amany und Tarik nach unten. Er war wieder einmal stolz auf seine Tochter, die so gar keine Angst hatte, vielleicht weil sie mit dem Tunnelbau und dem Tunnel groß geworden war. Er würde sie niemals zu einer Heirat zwingen, dieser Gedanke kam ihm in diesem Moment. Entweder fand sie einen Mann, den sie wirklich lieben konnte, oder sie würde eben nicht heiraten. Er würde das anders machen als andere Väter, das war er Salma und Yasmina schuldig. Die beiden Gesichter hatten sich in seiner Erinnerung plötzlich übereinander geschoben, ein verrücktes Gefühl, und ungerecht gegenüber Salma.

Unten angekommen, schalteten sie das Licht im Bahnhof an, dann machten sie den Zug fertig. Sie fuhren ein Stück bis zu einer Stelle, wo der Tunnel hoch genug zum Aussteigen war, und ließen den Zug dort stehen, um sich gebückt auf den Weg tiefer in den Tunnel zu machen.

Nach einigen Hundert Metern setzte sich Tarik hin und streckte den Rücken, der vom gebückten Gehen steif geworden war. »Lass uns zwei Minuten ausruhen«, bat er. Amany nickte, was aber lediglich am Schaukeln des Lichtscheins ihrer Kopflampe zu sehen war. Es herrschte völlige Stille, wie sie nur tief unter der Erde zu finden ist. Er dachte nach. Diese Stille war es, die er im Erdinnern suchte. Anderen machte sie Angst, aber ihm war das fremd. Natürlich hatte er Respekt vor dem Berg, wie jeder Bergmann und jeder Tunnelbauer, aber er fühlte sich wohl hier unten, in der Stille. »Hast du eigentlich keine Angst im Tunnel?«, fragte er seine Tochter.

Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn du dabei bist, weiß ich, dass alles ok ist.«

Amany war schon ein erstaunliches Mädchen. »Lass uns weitergehen.«

Sie waren nach der Pause nur einige Meter weit gekommen, als plötzlich ein dumpfes Grollen zu hören war, nicht allzu laut zwar, aber alarmierend hier unten, wo es sonst keine Geräusche gab. War das der Zug? Sie hatten doch alles verschlossen und den Zug gesichert. Tarik schlug das Herz bis zum Hals. War der Tunnel entdeckt worden und wurde bombardiert? Er drehte sich um, richtete den Lichtschein seiner Kopflampe auf das erschrockene Gesicht seiner Tochter.

»Was ist das?«

Er wusste nicht, was er antworten sollte, er hatte ein solches Geräusch nie gehört und entschied: »Wir gehen besser zurück!«

Sie gingen schneller, als sie gekommen waren, und spürten die Ermüdung im Rücken durch das Laufen in gebückter Haltung vor Angst nicht mehr. Schneller, sie stießen immer wieder mit dem Helm an die Tunneldecke. Jetzt kam von hinten ein leichter Wind – also doch ein Zug? Aber wo sollte der denn herkommen?

Der leichte Wind wurde zu einem starken, der sie vor sich hertrieb. Sie liefen immer schneller, die Ohren waren belegt, der Luftdruck hatte offenbar zugenommen, es knackte in den Ohren.

Schließlich legte sich der Wind, aber fast im gleichen Moment machten sie eine viel schlimmere Entdeckung: Die Stiefel patschten jetzt ins Nasse, sie liefen im Wasser, das offenbar von hinten kam. Es musste einen massiven Wassereinbruch auf der ägyptischen Seite gegeben haben, das Wasser hatte offenbar die Senke der Mittelstation geflutet und stieg jetzt langsam weiter an. Tarik begann zu schwitzen, gerade hatte er sich noch in Gedanken seiner Furchtlosigkeit im Berg gerühmt, jetzt fühlte er Panik aufsteigen. Er riss sich innerlich am Riemen. Ihm war eigentlich immer klar gewesen: Irgendwann würde der Tunnel auffliegen, und die Ägypter hatten als wirksamstes Mittel gegen Tunnel deren Flutung entdeckt.

Sie erreichten den Zug, das Wasser stand hier schon über den Schienen, und es stieg weiter. Sie krochen in den Zug, setzten ihn in Bewegung, das Wasser hatte die elektrische Ausrüstung noch nicht erreicht, aber jeden Moment konnte es passieren, dass ein Kurzschluss den Zug lahmlegte. Tarik überlegte, welche Teile der Elektrik als Erstes vom steigenden Wasserstand betroffen wären. Die Batterien waren nicht ganz unten eingebaut, zum Glück, denn bei einer unter Wasser gesetzten Batterie konnte alles Mögliche passieren, sogar die Bildung von Chlorgas war nicht ausgeschlossen. Der unbeladene Zug beschleunigte bergauf gut, Tarik sah mit Erleichterung, dass sie den Wettlauf mit dem Wasser vielleicht gewinnen konnten.

Nach langen Minuten näherten sie sich der Station. Das Licht war erloschen, oder hatten sie es vor der Abfahrt ausgeschaltet? Nein, er war sicher, es hatte gebrannt, als sie in den Tunnel fuhren. Die Stromversorgung war unabhängig vom Stromnetz, das zu häufig ausfiel – wieso war das Licht nicht mehr an?

Inzwischen stand nur mehr wenig Wasser unter dem Zug, wie er im Schein der Stirnlampe erkennen konnte. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, war sein Schrecken dafür umso größer: Ein plätscherndes Geräusch erfüllte die Halle. Er leuchtete nach oben. Das Wasser kam eindeutig aus dem Schacht, über den sie in den Bahnhof eingestiegen waren. Wenn gleichzeitig auf der ägyptischen Seite und auf der Seite von Gaza Wasser eindrang, war es vielleicht doch keine Flutung durch ägyptisches Militär, sondern ein Unwetter? Aber solche Wassermassen, wie sie von ägyptischer Seite hereingebrochen sein mussten, konnte doch kein Gewitter produzieren, oder?

»Warte hier, ich steige nach oben und schaue nach, ob man etwas erkennen kann.« Tarik kletterte Leitersprosse für Leitersprosse in den runden Schacht, er bekam dabei eine Dauerdusche ab. Als er einen Meter von der großen Luke entfernt war, suchte er mit dem Scheinwerfer auf seinem Helm, wo das Wasser herkam. An einer Stelle spritzte das Wasser durch eine Undichtigkeit in der Luke mit einem feinen Strahl herein in den Schacht. Offenbar stand draußen das Wasser, und es musste ziemlich hoch stehen, sonst hätte es nicht einen solchen Druck.

Mit einer Hand hielt er sich an der Leiter fest, mit der anderen fuhr er sich über die Stirn, er war vollkommen durchnässt, und plötzlich bemerkte er: Das Wasser war salzig! Tarik konnte sich das nicht erklären, Meerwasser, hier? Kilometerweit vom Meer entfernt?!

Er griff an die Stelle, an der die Luke undicht war, es war aussichtslos, man konnte den Wasserstrahl nicht stoppen. Er hangelte sich wieder nach unten, richtete seine Lampe auf Amany, sie blickte zu ihm auf, ihre Beine standen bis zu den Knien im Wasser. So viel Wasser konnte in der kurzen Zeit unmöglich von oben gekommen sein, es drängte also auch weiterhin aus dem Tunnel.

Amany stand einfach nur da, sie gähnte. Jetzt bemerkte er es auch: Der Luftdruck hatte sich weiter verändert, er verspürte wieder Druck auf den Ohren.

Was war hier los? Auf der Südseite war mit einer Flutung zu rechnen, wenn die Ägypter den Tunnel entdeckt hatten. Aber wieso wurde auch auf der Gaza-Seite geflutet? Wie konnten die Israelis das bewerkstelligen? Und wieso kam das Wasser gleichzeitig von beiden Seiten?

»Komm auf die Leiter!« Er zog Amany zu sich heran und stieg die Leiter wieder hoch, bedeutete ihr, hinter ihm herzusteigen, bis ihre Füße wieder im Trockenen waren. Er nahm eine Haltung ein, die auch einige Zeit erträglich sein würde, er musste nachdenken. Amany schluchzte auf, Tarik strich ihr über den Kopf, versuchte, sie zu beruhigen.

Er richtete die Lampe wieder nach oben, der Wasserstrahl war nun weniger kräftig, eigentlich war es nur noch ein kleines Rinnsal, das aus der undichten Luke kam, und das wurde immer schwächer. War das Wasser oben abgelaufen? Dann müsste die Luke wieder zu öffnen sein!

Tarik schaute nach unten: Der Zug war fast ganz im Wasser verschwunden, und es stieg immer noch. Auch der Luftdruck war offenbar weiter gestiegen, er hatte schon wieder Druck auf den Ohren. Waren sie in einer Luftblase? Wenn von oben und von unten Wasser kam, konnte die Luft ja nicht verschwinden, sie wurde komprimiert! So musste es sein.

»Vater, was ist hier los? Wie kommen wir hier raus?«, fragte Amany, die zwei Sprossen unter ihm auf der Leiter stand. Tarik packte sie bei der Schulter. »Ich weiß noch nicht wie, aber wir kommen hier raus.« Und er fügte hinzu: »Ich mache jetzt meine Lampe aus, um Batterie zu sparen.«