In dreißig Meter Tiefe hielten wir Kurs auf Haifa, waren aber noch nicht weit gekommen, als Alisa rief: »Bewegtes Objekt auf zweihundertzehn Grad, möglicherweise U-Boot!« Leiser fuhr sie fort: »Den Sound kenne ich, das könnte die WEST VIGINIA sein.« Sie hämmerte auf ihre Tastatur, auf den Bildschirmen waren rhythmisch wiederkehrende Muster zu sehen, »Sie ist es! Auf zweihundertzwölf Grad USS WEST VIRGINIA, südwestlicher Kurs.«
Der Kommandant sah nachdenklich auf seine Mappe und wandte sich an mich: »Was waren die Kennungen im Manöver, beim Telefonieren mit der West Virginia?«
»Sierra Whiskey Victor war die WEST VIRGINIA, India Sierra Tango waren wir, Tango stand für TANIN, heute haben wir wieder die TANIN.«
»Ich bin sicher, Matthew wird sich erinnern.«
Der Kommandant griff nach dem altertümlichen Telefonhörer, der für die Unterwassertelefonie vorgesehen war, und drückte auf den Knopf. »Sierra Whiskey Victor, this is India Sierra Tango, Issam on the phone. I repeat«, er wiederholte die Durchsage.
Zuerst passierte nichts, dann war eine blechern und gequetscht klingende Stimme zu hören, »India Sierra Tango, this is Sierra Whiskey Victor. Matthew here. Good to hear from you! Over.«
Die Stimme von Matthew war kaum zu erkennen, aber: Ein Lebenszeichen von außen! Wir waren nicht allein!
Unser Kommandant fragte Matthew, welche Lageeinschätzung das amerikanische U-Boot hatte. »Major impact, unknown reason, electromagnetic pulse«, war die wenig aufschlussreiche Antwort. Der Commander berichtete weiter, er hätte keinerlei Funkkontakt, und dann wieder dieser »elektromagnetische Puls«, den unser Kommandant auch schon aus seiner Mappe für den Kriegsfall herausgelesen hatte.
Unser Kommandant bestätigte, dass wir auch keinen Kontakt hatten, und berichtete von dem Bimsstein-Regen, wobei er Bimsstein umständlich mit »Steinchen leichter als Wasser« umschreiben musste, da er das englische Wort dafür nicht kannte. »Possibly severe volcanic activities«, Hinweis auf einen Vulkanausbruch mit Tsunami. Matthew bedankte sich für die Information und ergänzte, sein Schiff werde jetzt mangels anderer Befehle und wegen der unklaren Lage Kurs auf die Heimat nehmen. »We have the same intention, heading home«, meinte unser Kommandant. »Take care and good luck. Watch out for floating containers!« Dann bat er die Amerikaner, in Kontakt zu bleiben: »Let’s stay in touch, Matthew, short wave, 8291 kHz. Every day at 12:15 noon, UTC, ok?«
»I confirm: 8291 kHz, every day at 12:15 noon UTC. Best for you, Issam. We let you know if we have any information which may help.« Damit war der Austausch auch schon beendet. Es gab nichts mehr zu sagen, jeder musste selbst zurechtkommen mit dem Mangel an Informationen und dem Gefühl, dass Schreckliches geschehen war.
Die Frauen in der Zentrale starrten ungläubig ins Leere. Was ging hier vor sich? Was war los an Land, Krieg? Aber irgendwann hätten wir doch einen Alarm bekommen müssen, einen Einsatzbefehl, den Startbefehl für unsere Waffen als Vergeltung? Oder hatte es eine Naturkatastrophe gegeben, die alles verstummen ließ?
»Was ist eigentlich ein elektromagnetischer Puls?«
Der Kommandant erklärte es uns: »Ein EMP zerstört alle Elektronik im Zielgebiet, im Kleinen macht das jeder Gewitter-Blitz. Wenn EMP-Atomwaffen im Weltraum gezündet werden, geht es voll zur Sache, dann fällt im Zielbereich komplett alle Elektronik aus. Dass es keinerlei Funk gibt, kann als Ursache einen EMP haben.«
Wir sahen betroffen drein. Doch Atomwaffen?
»Wir müssen mehr herausfinden, wir fahren näher an die Küste, neuer Kurs fünfundachtzig Grad.«
Bange Minuten, keine sagte etwas.
»Auf zwanzig Grad ein größeres Objekt, bewegt sich nicht.«
»Entfernung?«
»Tausendachthundert Meter.«
»Maschine kleine Fahrt, auf Sehrohrtiefe gehen.«
Der Kommandant sah durchs Sehrohr. »Total dunkel draußen. Welche Entfernung zum Objekt?«
»Tausendzweihundert Meter, ungefähr.«
»Noch keine Sicht. Sehrohr einfahren. Sagt mir, wenn wir das Objekt querab haben.«
Nach weiteren Minuten kam die Meldung, der Kommandant fuhr das Sehrohr wieder aus.
»Objekt scheint ein großes Schiff zu sein. Keine Positionslampen. Gib mal ein Ping, um abzutasten, wie lang es ist.«
»Das Objekt ist zweihundert Meter lang. Es macht keine Fahrt und kein Geräusch.« Tamar sagte leise zu mir: »Und keiner kümmert sich darum? Wieso treiben hier gekenterte Schiffe herum?«
»Auf dreißig Meter gehen, weiter fünfundachtzig Grad, große Fahrt, wir fahren näher an die Küste.«
In der Zentrale drängelte sich jetzt fast die ganze Besatzung, alle spürten ein gewaltiges Unheil. Flüstern und Murmeln waren zu hören.
Der Kommandant sah sich um, runzelte die Stirn, erhob die Stimme: »Leute, wir haben nach wie vor eine unklare Lage. Wenn alle hier herumstehen, bringt uns das auch nicht weiter. Ich mache eine Durchsage, wenn es etwas zu berichten gibt. Ansonsten muss jede von der Freiwache versuchen, sich auszuruhen für die nächste Wache. Freiwache wegtreten!«
Widerwillig verließen die Frauen von der Freiwache die Zentrale. Ich rechnete nach: In einer Stunde war Wachwechsel, dann müsste ich nach unten, zu der Zeit würden wir gerade die Küste erreichen. Die Zeit verging zäh, ich versuchte für mich, die Lage zu erfassen: Konnte es sich wirklich um einen Tsunami handeln? Keine Funksignale, ein gekentertes großes Schiff, treibende Container – unser einziger Kontakt war der zu den Männern auf dem US-U-Boot, aber die wussten offenbar auch nicht mehr als wir. Wie mochte es an der israelischen Küste aussehen? Wie weit war der Tsunami vorgedrungen – wenn es sich denn um einen handelte? Uri, meine Eltern, mein Bruder, Oma Sarah, die Verwandten: Hatten sie sich retten können? Warum war im Funk nichts zu hören? Mir wurde heiß und kalt, ich hielt es auf dem Sitz nicht mehr aus, bat Eva: »Pass du kurz auf, bin gleich wieder da.«
Als die Frauen von der Freiwache unten mich herabsteigen sahen, unterbrachen sie ihre erregte Diskussion und sahen mich erwartungsvoll an. »Nichts Neues.« Betroffen schwiegen alle. »In einer halben Stunde müssten wir an der Hafeneinfahrt sein. Dann wissen wir mehr.«
Ich hatte fürchterliche Angst, eine Angst, wie ich sie noch nie verspürt hatte, sie erfasste den gesamten Körper, das Herz raste, die Verdauung machte sich selbstständig. Ich musste jetzt dringend auf die Toilette, drängte mich durch die Frauen, schloss schnell die Tür hinter mir.
Danach hatte ich mich wieder im Griff, wusch mir die Hände, machte mir das Gesicht nass, um mich ein wenig abzukühlen, es nutzte nichts. Ich stand da, sah in den Spiegel, schüttelte den Kopf, raufte mir die Haare, gab einen unkontrollierten Schrei von mir. Draußen vor der Toilette achtete jetzt keiner auf mich.
In der Zentrale herrschte gespannte Ruhe. »Könnt ihr voraus irgendein Hindernis orten?«
»Negativ, ist frei.«
»Maschine kleine Fahrt, langsam auf Sehrohrtiefe gehen.«
Auf dem Monitor von Ruth konnte ich die Karten-Umrisse der Hafeneinfahrt von Haifa erkennen, wir waren vielleicht zwei Seemeilen davor.
Der Kommandant fuhr das Sehrohr aus. »Wann ist Sonnenaufgang?«
Chana meldete: »Sonnenaufgang ist fünfhundertfünfundvierzig.«
Er sah lange auf seine Armbanduhr. »Wie spät ist es jetzt?«
»Fünfhundertfünfzig, Kapitän.«
Er schaute wieder durch das Sehrohr.
»Es ist dunkel draußen. Von der Küste ist nichts zu erkennen.«
Dunkelheit, obwohl die Sonne aufgegangen sein sollte. Ich spürte die Angst wieder, sie floss diesmal aus dem Nacken nach oben, paralysierte das Denken, und sie floss nach unten, ich musste wieder auf die Toilette. Gerade kamen die Frauen der Freiwache herauf, auch ich wurde jetzt abgelöst von Judith. Es gab nicht viel einzuweisen, ich lief sofort zur Leiter, die Toilette war besetzt. Mit aller Anstrengung kämpfte ich gegen die Panik in meinem Bauch an, krallte die Finger um einen Haltegriff, bis endlich die Tür aufging und ich hineinkonnte.
Danach ging ich wieder nach oben, obwohl ich ja abgelöst war.
»Auf dem Radar keine Bewegung an Land zu erkennen. Offenbar kein Autoverkehr, den würde ich sehen.«
Ich flüsterte Esther zu: »Wie sieht es im Hafen aus?«
»Alles voll mit Treibgut und Schrott, jede Menge Container.«
Der Kommandant hing am Sehrohr, schwenkte aus, hob und senkte die Optik. »Nehmt das auf Monitor drei.«
Jetzt war der Blick aus dem Sehrohr für alle sichtbar. Es war dunkel, der Scheinwerfer leuchtete auf die Wellen, ab und zu war das Periskop auch untergetaucht. Der Kommandant fuhr es weiter aus. Dann sah man etwas, ein niedriges kastenförmiges Gebilde auf der Meeresoberfläche, er zoomte näher heran, es war zunächst verschwommen, dann stellte es sich wieder scharf. Der Scheinwerfer des Sehrohrs leuchtete auf die Dachpartie eines Lieferwagens, auf der Seite war jetzt MASA-EAT zu lesen, ein im Wasser treibendes Wrack eines Imbisswagens! Die Fahrerkabine war unter der Wasserlinie, nur manchmal schwappte das Wasser zurück, ließ einen leeren Seitenfenster-Rahmen erkennen, es gab keine Fenster mehr. Hinter dem Steuer eine verdrehte Leiche. Niemand sagte ein Wort.