KAPITEL 24

TARIK: AMANYS GEDÄCHTNIS WIRD GEBRAUCHT

Man ließ sie in Ruhe. Tarik, Amany und Elif saßen in dem Raum mit den zwanzig Feldbetten und Tarik wusste nicht: Hatten sie eine Zuflucht gefunden, oder waren sie eingesperrt?

Der Raum war warm und trocken, es gab Wasser aus dem Hahn und Essen. Das war weit mehr als draußen zwischen den Trümmern, ohne Dach und eine Möglichkeit, es sich irgendwo bequem zu machen. Aber wie sollte es weitergehen? Vor der Tür waren Geräusche zu hören, Stiefelgetrampel, Stimmen, die rasch wieder verstummten. Wer kam da in den Bunker, und wer verließ ihn?

Vorsichtig trat Tarik vor die Tür, doch er ging diesmal nicht, wie erlaubt, zum Waschraum, sondern drang in Richtung des Bunkerinneren vor. Er kam bis zu einer Tür, die verschlossen war. Die Bewegung der Türklinke führte aber dazu, dass auf der anderen Seite Geräusche zu hören waren. Die Tür wurde geöffnet, ein finster dreinblickender Soldat sah ihn an und fragte etwas auf Hebräisch.

»Sorry, just want to see where we are.«

»No passage. Go to your room.« Und schon schloss sich die Tür wieder. Tarik ging zurück, berichtete Elif, die sich erhob: »I will try and talk to them. Stay here.«

Nach einer Weile kam sie zurück und erklärte, dass sie jederzeit gehen könnten. Wenn sie den Bunker aber verließen, dürften sie nicht zurückkommen. Und dann sagte sie: »Nobody survived in Tel Aviv, that is what he said. Can you believe that nobody survived?« Sie wollte es nicht glauben, dass niemand in der ganzen Stadt überlebt haben sollte.

Tarik atmete tief ein. »I am so sorry.« Er fügte die Frage hinzu, ob ihre ganze Familie hier gelebt hatte. Er benutzte die Vergangenheitsform.

Elif schluchzte auf. Sie schien ihre Lage erst jetzt zu realisieren. Tarik ging zu ihr, beugte sich hinunter und berührte sie an der Schulter. Sie umklammerte ihn und weinte. Tarik legte zögerlich einen Arm auf ihren Rücken, er spürte ihr Zucken bei jedem Aufschluchzen. So standen sie da, als plötzlich die Tür aufging. Ein junger Soldat kam herein, sah sich um, deutete auf Amany: »You! Come with me.« Er machte eine gebieterische Handbewegung.

Amany erschrak, schrie auf und klammerte sich auch an Tarik, der jetzt von zwei Frauen als Halt genutzt wurde. Elif musterte böse den jungen Soldaten, der einen Arm von Amany gepackt hatte und sie in Richtung Tür dirigierte.

Elif schrie ihn auf Hebräisch an. Es musste sinngemäß so etwas geheißen haben wie: »Lass deine Finger von dem Mädchen!«, denn der Soldat nahm erschrocken seine Hand weg. Elif redete weiter auf ihn ein und erklärte Tarik: »We will stay together. Your daughter will not go without us.«

Der Soldat zuckte mit den Schultern, seufzte und verschwand wieder. Kurze Zeit später kam er zurück und bedeutete allen dreien, ihm zu folgen.

Sie gingen durch die Tür, die Tarik vorher nicht hatte passieren dürfen, und weiter hinein in das Bunkerinnere. Es war das reinste Labyrinth, Quergänge überall, mal ging es nach links, mal nach rechts, sie kamen an einem großen Aufenthaltsbereich oder einer Art Kantine vorbei, dann an technischen Anlagen. »Wait here«, befahl der Soldat und verschwand durch eine Tür. Heraus kam der Offizier, der sie zu Beginn verhört hatte. Er entschuldigte sich, dass er seinem Kameraden nicht gesagt hatte, dass Amany etwas schreckhaft sei.

»Please, come in.« Er ließ sie eintreten und erklärte, man brauche dringend die Fähigkeiten der »jungen Dame«.

»Please …«, der Offizier bat Amany zu einem großen Besprechungstisch, um den mehrere Armeeangehörige herumstanden. Auf dem Tisch lag eine Europa-Karte in großem Maßstab, wie Tarik sehen konnte, von Skandinavien bis Sizilien, von Rumänien bis England und Portugal, an den Ecken waren ausgerissene Löcher, sie musste vorher an einer Wand befestigt gewesen sein.

Amany zögerte, Tarik nickte ihr beruhigend zu: »Wir sind ja hier, Elif und ich, und wir bleiben hier. Hilf ihnen, wenn sie dich brauchen.«

Der Offizier befahl dem jungen Soldaten noch etwas, der nahm Haltung an, bestätigte kurz und rückte ab.

Amany bekam den Platz in der Mitte an dem großen Tisch, direkt vor der Karte. Ein Offizier sprach mit ihr und sie begann, auf einem leeren Blatt Papier zu schreiben und zu zeichnen, schaute immer wieder auf die Karte, zeichnete weiter. Tarik und Elif standen im Hintergrund, an einer Art Katzentisch. An der gegenüberliegenden Wand hing ein riesiger Bildschirm, auf dem Israel und die angrenzenden Länder zu sehen waren. An vielen Stellen blinkten rote Lichter.

Inzwischen war der junge Soldat zurückgekommen, er trug ein Tablett mit drei Tellern, auf denen je ein Sandwich lag, sowie drei Plastikflaschen Wasser, und stellte es auf den Katzentisch.

Bruchstücke des Gesprächs der Offiziere mit Amany waren zu hören, sie sprachen Englisch. Tarik hörte seine Tochter sagen, dass ein neuer Tunnel noch nicht in der Karte eingezeichnet sei. Sie schien hoch konzentriert, zeichnete ein Detail auf ein Blatt, das den genauen Verlauf der Straßen und Schienenwege rund um eine große Stadt zeigte, den Namen der Stadt verstand Tarik nicht.

So, wie Amany stundenlang am Computer hatte arbeiten können, so stand sie jetzt ohne Ermüdungserscheinungen Rede und Antwort, zeichnete aus dem Gedächtnis ganze Kartenausschnitte, verlangte nach vergrößerten Kopien von bestimmten Bereichen, dazu musste die große Karte zusammengefaltet und zu einem Kopierer gebracht werden. In die Ausschnittvergrößerungen zeichnete Amany hinein, was sie in ihrem Kopf gespeichert hatte.

Plötzlich sprach einer der Offiziere freundlich und auf gutem Arabisch mit Amany. Tarik merkte auf, sah ihn sich genauer an. Er hatte einen dunklen Bart, eine markante Nase und freundliche Augen. Auf seinem Armeepullover, der anders aussah als die der anderen, stand ein Name in hebräischen Zeichen, den Tarik nicht lesen konnte. Doch ein anderer Israeli sprach ihn mit »Issam« an. Trug er tatsächlich einen arabischen Namen? Ein arabischer Offizier in der israelischen Armee? Allein, dass mit Amany eine Gaza-Bewohnerin im Hauptquartier der israelischen Streitkräfte mit am Generalstabstisch sitzen durfte, schien schon unerhört – dass sie es offenbar mit einem Araber als Offizier zu tun hatten, war vollends unglaublich. Tarik hatte davon gehört, dass es Beduinen im Dienst der israelischen Armee geben sollte. Aber Offiziere im Hauptquartier?

Jetzt redete der arabischsprechende Issam auf Hebräisch intensiv auf seine Kollegen ein, versuchte sie von etwas zu überzeugen, sie sahen zu Tarik und Elif und sprachen dann leise weiter. Schließlich kam der freundliche Offizier auf Tarik und Elif zu und bat sie, gemeinsam mit Amany den Raum zu verlassen. Man müsse jetzt intern diskutieren und würde sie gleich wieder hereinholen.

Die drei verließen den Raum, Amany nahm ihren Teller mit, den sie noch nicht angerührt hatte. Draußen auf dem Gang stand ein Wachsoldat, der Offizier befahl ihm etwas auf Hebräisch, und er brachte sie zurück in ihre Unterkunft. So saßen sie wieder auf ihren Feldbetten. Amany schien nun doch erschöpft von den vielen Fragen und dem Zeichnen der Karten und biss hungrig in ihr Sandwich.

»Was wollten sie von dir?«

»Ich sollte Karten zeichnen, von Italien und den Schweizer Bergen.«

»Haben die keine anständigen Karten in ihrem Hauptquartier? Was wollen sie denn mit Italien? Hier ist doch alles kaputt, wieso sind die an Italien interessiert?«

Jetzt wechselte Amany ins Englische, Elif zuliebe, die neugierig geworden war. Sie berichtete, das Hauptquartier hätte offenbar Kontakt in die Schweiz, sie wollten mit einem Schiff nach Italien und von dort weiter, anscheinend zu Fuß.

»Walk? To Switzerland? Why?« Elif schüttelte den Kopf, Amany zuckte mit den Schultern, wusste nur, dass man sich von dort Unterstützung erhoffte, denn diese Leute in Europa hätten riesige Vorräte und könnten sicher auch Hilfe organisieren für Israel. Tarik fragte Amany, was denn ihre Rolle dabei sein sollte.

»Sie brauchen mich, damit sie den Weg finden.« Dass sie gebraucht wurde, stellte Amany ganz beiläufig fest, eher erstaunt, jedenfalls nicht stolz, sie schien sich ihrer Machtposition nicht bewusst zu sein.

Sie schob sich gerade den Rest ihres Sandwichs in den Mund, als die Tür wieder aufging. Die beiden freundlichen Offiziere traten ein, der Araber und der andere, der zumindest Arabisch sprach. Issam, der Araber, setzte sich auf ein Feldbett Amany gegenüber, der zweite nahm zwischen Tarik und Elif Platz.

Issam sah Amany ruhig an und sagte auf Arabisch: »Amany, du musst uns helfen. Du musst mitkommen auf unsere Fahrt nach Europa. Gezeichnete Karten reichen uns nicht, wir brauchen deine Ortskenntnis dort, wenn wir uns auf den Weg an Land machen. Kommst du mit?«

Amany schluckte den Rest des Sandwichs hinunter, sah auf den Boden. Schließlich blickte sie auf, fragte Issam, ob sie allein mitfahren müsste oder ob Tarik und Elif mitkommen würden. Issam sah nachdenklich drein und sagte dann, dass auf dem Schiff sehr wenig Platz sei, sie müsse allein mitfahren. Amany schüttelte ganz leicht den Kopf, in ihrem Gesicht deutete ein Zucken um die Augen an, dass sie gleich zu weinen beginnen würde. Elif hatte den Wortwechsel beobachtet, ohne ihn genau zu verstehen, schien aber zu ahnen, worum es ging. Sie schaltete sich auf Hebräisch ein und stellte den beiden Offizieren Fragen. Eine intensive Diskussion entspann sich, Elif wurde wieder laut, deutete auf Tarik. Schließlich erklärte sie Tarik und Amany auf Englisch, was eine Art Mantra für sie geworden zu sein schien: »Either we go together, all three of us, or we stay here.« Amany war von dem auf Hebräisch geführten Streit eingeschüchtert, hatte sich einmal kurz erschrocken an Tariks Hand geklammert.

Issam seufzte, sah den anderen Offizier an, gab ihm ein Handzeichen, und sie gingen zusammen vor die Tür. Amany beruhigte sich wieder.

Nach einiger Zeit kam Issam allein zurück in den Schlafraum. »Wir brauchen die Hilfe von Amany, und Amany braucht euch. Also nehme ich euch alle drei mit.«

Tarik sah seine Tochter an: »Wir bleiben zusammen, keine Angst.«

Amany nickte, murmelte: »Ja, zusammen.«

Issam legte kurz seine Hand auf ihre Schulter: »Es ist eng auf unserem Schiff, es wird eine anstrengende Fahrt. Wenn wir am Ziel sind, in Europa, wird es erst recht schwierig, dann müssen wir zu Fuß weiter.«

Amany sah ins Leere. Nicht einmal Tarik konnte jetzt erkennen, was in ihr vorging.

Der Offizier sprach nun langsam und leise zu Tarik, seine Worte waren aber offenbar auch an Amany gerichtet: »Lasst uns zusammen Hilfe holen. Ich bin der Kapitän des Schiffes, die Fahrt nach Europa liegt in meiner Verantwortung. An Land müssen wir den Weg finden, so wie ihr hierher gefunden habt. Alle zusammen und mit Amany haben wir eine Chance.«

Vorsichtig berührte Tarik seine Tochter, hoffte, sie würde jetzt ein positives Zeichen geben. Und tatsächlich: Amany begann zu nicken.