Wie viele Tage waren vergangen, seit sie auf dem U-Boot unterwegs waren? Tarik lag in seiner Koje, über ihm seine Tochter, ganz oben Elif. Nebenan stöhnte einer der beiden männlichen Offiziere, wenigstens erbrach er sich in letzter Zeit nicht mehr, lag nur noch apathisch da. Tarik war selbst erstaunt, dass er von Seekrankheit verschont geblieben war, obwohl er noch nie richtig zur See gefahren war, eine Bootstour im Hafen von Kuwait war seine einzige Fahrt auf dem Wasser geblieben.
Elif litt auch an Seekrankheit, aber sehr viel diskreter im Vergleich zum Offizier, der alle an seinem Zustand teilhaben ließ, durch lautstarkes Würgen, Stöhnen und nicht zuletzt durch den stinkenden Eimer.
Beim untätigen Herumliegen kamen die Gedanken an Chaled wieder. Was war ihm zugestoßen? Hätte Tarik noch länger nach ihm suchen müssen, in den Trümmern, die der Tsunami zurückgelassen hatte? Die Vernunft sagte ihm, dass es sinnlos gewesen wäre, aber das Gewissen meldete immer wieder Zweifel an.
Amany redete nicht viel, wie immer. Wenn sie nicht gerade bei den Israelis saß, um ihnen mit den Landkarten zu helfen, lag sie meist auf ihrer Koje und zeichnete Karten. Nur mit Marija konnte er gelegentlich einige Worte auf Arabisch wechseln.
Von ihr wusste er auch, dass sie sich dem Hafen in Europa näherten. Die Landung selbst war dann mit heftigem Kratzen, Scharren und Rütteln nicht zu verpassen.
Doch es hieß weiter warten, die Spannung im Boot schien mit Händen zu greifen. Was ging vor sich?
Später bat Marija Tarik, ihr beim Zubereiten eines großen Essens zu helfen, des »letzten großen Abendessens«, wie sie es nannte. Stundenlang stand er vor der kleinen Ablagefläche neben der Küche und schnitt Obst, entfernte die faulen Stellen, sammelte die Stückchen in einer riesigen Schüssel und gab immer wieder Zitronensaft darüber. Danach kam Salat dran, auch da gab es schon viel auszuschneiden.
Marija brachte eine Kiste mit Mangos. »Können wir nicht mitnehmen, zu schwer, zu viel Abfall. Heute gibt es Mango satt.« Sie erklärte weiter: »Morgen müssen wir alle Vorräte sortieren: Alles, was leicht zu tragen ist, kommt ins Gepäck. Es soll für zwei Wochen reichen.«
Tarik erschrak: »Zwei Wochen? So lange müssen wir laufen?«
Marija nickte: »Wird eine ziemliche Schlepperei. Wenn wir da pro Tag zwanzig Kilometer schaffen, wäre das schon sehr gut.«
»Wir kommen nicht zurück, hier in den Hafen, zum Boot? Und nach …«, fast hätte er Palästina gesagt, »nach Israel?«
Marija zuckte mit den Schultern.
Tarik war noch beim Schälen und Zerteilen der Mangos, als die Kommandantin zu ihm kam, mit einem Paar Stiefel und warmen Sachen, für den Marsch in die Berge, wie Marija übersetzte. Als sie wieder allein waren, raunte ihm Marija zu: »Die Sachen sind wahrscheinlich vom Kommandanten.«
Es war unglaublich: Ihm, Tarik, einem Araber aus Gaza, hatten sie die Sachen eines hohen israelischen Offiziers und U-Boot-Kommandanten gegeben! Dass er aus Gaza war, wusste die Kommandantin noch nicht, fiel ihm ein, wenn Marija es nicht weitererzählt hatte. Tarik legte die neue Ausrüstung sorgfältig auf seine Koje.
Am nächsten Morgen musste er die warmen Sachen gleich anziehen: Alle waren aufgefordert, mitzuhelfen, die Vorräte aus dem Boot nach draußen zu schleppen, eine steile Hafentreppe hoch, die noch dazu rutschig war. In einem leeren Container wurde ein großes Warenlager eingerichtet, bewacht von einer Soldatin mit Maschinenpistole. Dort wurden die Lebensmittel auf Rucksäcke und Taschen verteilt.
Im Boot waren die Frauen damit beschäftigt, aus den Stiefeln und warmen Jacken passende Kleidung für den Marsch zusammenzustellen. Auch Amany bekam Stiefel, eine Armeejacke mit Kapuze und sogar lederne Handschuhe. Dann brach sie mit einem kleinen Kommando auf, das den Anfang ihres Weges erkunden sollte. Nach einigen Stunden kamen sie zurück.
»Was hast du gesehen?«
»Alles zerstört, die ganze Stadt. Tote und Schutt, demolierte Autos liegen herum. Aber die Straßen sind noch zu erkennen, alles wie auf der Karte. Es gibt drei verschiedene Straßen in die Richtung, in die wir gehen müssen. Ich kann alles finden, es ist genauso wie auf der Karte, nur kommt man nicht mehr überall durch, wegen der Trümmer.«
»Ein Tsunami, wie bei uns?«
»Die Offizierin meinte, es müsste eine Druckwelle gewesen sein.«
Am Morgen des Abmarsches gab es noch Kaffee und für jeden ein Brot an Bord, Marija räumte die Küche auf, so, als würde man bald wiederkommen, und Tarik half ihr dabei.
Dann sollten sich alle draußen versammeln. Tarik hatte schon seine Stiefel an, also eigentlich die des toten Kommandanten. Er schlüpfte in die Jacke und ging über die wackelige Leiter und die rutschige Treppe an Land. Vor dem Container waren Rucksäcke und Taschen aufgestapelt. Jeder bekam zwei Gepäckstücke zugeteilt. Soweit Tarik es ertasten konnte, waren in seinem Rucksack Tüten mit Lebensmitteln und Dosen, an einem der Trageriemen baumelte ein großer Topf. In der ihm zugeteilten Tasche befanden sich offenbar Decken oder Schlafsäcke.
Sie standen lange herum, bis eine Offizierin etwas rief. Alle stellten sich auf, auch Tarik hielt es für besser, sich in das entstehende Viereck einzufügen, Amany blieb dicht neben ihm. Die Kommandantin hielt eine Art Ansprache, danach gab es Anweisungen, offenbar ging es darum, in welcher Reihenfolge sie marschieren sollten. Amany wurde direkt angesprochen, sie sollte ganz vorne mit dabei sein: »Amany, you join me in the first group. You will show us the way.« Elif und Tarik würden in der zweiten Gruppe laufen, damit sie nah bei Amany waren. In dieser Gruppe waren auch die beiden israelischen Offiziere aus dem Hauptquartier, die – so meinte Tarik zu spüren – missbilligend auf seine Jacke sahen, vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein.
Es ging los. Die Kommandantin winkte Amany zu sich, dann marschierte sie mit zwei anderen Offizierinnen voran. Tariks Gruppe folgte, dahinter zwei weitere. Tariks Stiefel waren etwas zu groß. Er spürte jetzt schon, an welchen Stellen das Scheuern zu Blasen führen würde.