Die erste Dusche nach zwei Wochen, mit heißem Wasser, Seife und Shampoo, es war unglaublich. Die Schweizer hatten Kleidung für uns, zwar viel zu groß und zu weit, aber sauber und frisch. Ich versuchte, den Gürtel so eng wie möglich zu schnallen, musste die Ärmel und die Hosenbeine hochschlagen, trotzdem fühlte ich mich gut in der Schweizer Armeekleidung.
Unsere alten Sachen lagen auf einem großen Haufen im Waschraum, der nicht gut roch. Ich teilte Chana und Abija ein, sich um die Wäsche zu kümmern: Wo es eine Dusche gab, gab es sicher auch eine Gelegenheit zu waschen. »Lasst euch etwas einfallen, fragt die Schweizer«, lautete mein wenig konkreter Befehl. Chana kam kurz darauf mit einem riesigen graugrünen Sack zurück, dort stopften sie die Wäsche hinein und schleiften den Sack weg.
Es roch muffig im Bunker, besonders hier im Waschraum, irgendwie nach Schimmel, obwohl eigentlich alles sauber aussah. Ich versuchte, mich an den Geruch im Boot zu erinnern: Die vielen Monitore, Aggregate und Waffencontainer verbreiteten eine Geruchsnote von Werkstatt und Mechanik-Öl, die Luft war trocken, und der Gedanke daran ließ etwas in mir aufkommen, das Heimweh sein musste.
Vor einigen Wochen noch hatte ich es darauf angelegt, das Boot als nicht-bordtauglich endgültig zu verlassen. Wenn der Schwangerschaftstest bei der Ärztin nicht falsch gewesen wäre, dann … Dann wäre ich bei Uri geblieben. Aber wäre ich nicht mitgefahren, könnte ich all diese Gedanken jetzt gar nicht mehr denken, und könnte Uri auch nichts mehr erzählen.
Ich sah auf meine umgeschlagenen Ärmel und die viel zu weite Hose. Für mich konnte es ein Glücksfall sein, so weite Sachen zu tragen. Schon bald würde ich einen Babybauch bekommen, in meine alten Bordklamotten würde ich dann nicht mehr passen. Ich ging hinaus aus dem Waschraum und war auf dem Weg zur Unterkunft, als ich angesprochen wurde.
»Sind Sie die Frau Kapitän?«
Ich nickte.
»Kommen Sie bitte zu unserer Kommandantin!«
Obwohl der junge Soldat Deutsch gesprochen hatte, verstand ich ihn. Ich folgte ihm, in meiner Schweizer Uniformjacke und der viel zu weiten Hose, die ich trotz des Gürtels beim Gehen festhalten musste, und kam schließlich zu dem Kommandantenraum, in dem ich kurz nach der Ankunft schon von der Befehlshaberin begrüßt worden war. Der Raum hatte eine gewölbte Decke, wie alle Räume in dem gewaltigen unterirdischen Bauwerk.
Ich kramte mein höflichstes Englisch hervor, um zum Ausdruck zu bringen, dass ich mich im Namen unseres Landes und unserer Crew für die Unterstützung und Aufnahme bedankte. Es war wohl der richtige Einstieg, die junge Frau, auf deren Uniformjacke der Name »MOSERI« eingestickt war, lächelte und antwortete: »You are welcome.«
Nach den Höflichkeiten versuchte ich, möglichst kurz aber umfassend von unseren Erfahrungen zu berichten: die Situation in Israel, die Fahrt, unsere Beobachtungen des Tsunamis und des vermuteten gewaltigen Vulkanausbruchs in der Gegend von Neapel, der die Landkarte so radikal verändert hatte.
Frau Moseri nickte nachdenklich, einen Teil der Informationen hatten wir ja schon per Funk übermittelt, dann ergänzte sie ihre Einschätzung der Lage.
Sie sprach gutes Englisch, besser als meins. »Wir hoffen, dass das amerikanische U-Boot sich wieder meldet, damit wir erfahren, ob außer Europa auch andere Kontinente betroffen sind.«
»Wann haben Sie zuletzt von dem amerikanischen Kommandanten gehört?«
»Vor zwei Wochen, aber nur kurz, da waren sie schon auf der anderen Seite des Atlantiks. Unsere Antwort konnten sie offenbar nicht empfangen.«
»Was haben sie berichtet?«
»Schlimm. Die Dunkelheit ist auch über dem Atlantik.«
»Also nicht nur eine regionale Erscheinung«, stellte ich nüchtern fest, und erst während ich die Worte aussprach, wurde mir die Tragweite dieser Feststellung bewusst. Wenn es überall dunkel war, dann …, ich zögerte, weiterzudenken. Die Neonröhren an der gewölbten Decke warfen ihr kaltes Licht auf uns.
Frau Moseri nickte. Sie sah mich ernst an und sprach wie eine Wissenschaftlerin: Staub und Gase in der höheren Atmosphäre könnten jahrelang das Sonnenlicht abschirmen und so auf der Erde Dunkelheit bewirken. Pflanzen würden absterben, Landwirtschaft sei auf Jahre unmöglich, aber – so wissenschaftliche Erkenntnisse aus früheren Katastrophen – in etwa zehn Jahren würde sich alles wieder normalisieren. Diese Jahre könne man mit den Vorräten im Bunker gemeinsam überleben und ein Weiterleben in der Zeit danach vorbereiten. »Wenn nicht von anderen Kontinenten doch noch Hilfe kommt, werden wir hier aus eigener Kraft eine neue Existenz aufbauen müssen, mit harter Arbeit.«
Die Bunkerwand bewegte sich, so, als sei ich gerade vom Boot gestiegen – oder so, als sei ich auf dem Boot in beachtlichem Seegang. Doch nicht die Wände und der Boden schwankten, ich selbst schwankte.
Auf der ganzen Erde, jahrzehntelang Dunkelheit, überleben, danach wieder anfangen? Wie denn, in der Steinzeit? Meinte sie das ernst, diese Frau Moseri? Ich hielt mich am Tisch fest, die Bewegung der Bunkerwand ließ nach, ich atmete tief durch. Woher wollte sie das alles wissen?
»Haben Sie Wissenschaftler hier im Bunker, die das so genau sagen können?«
»Nein. Aber eine der Schülerinnen aus Berlin interessiert sich für Saurier-Aussterben und Supervulkane und hat auf ihrem Computer eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Thema dabei. Durch diesen Zufall sind wir jetzt gut informiert, wie es weitergehen könnte.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen und rief ein bisschen schriller und gepresster, als es einer normalen Unterhaltung entsprochen hätte: »Wie beim Saurier-Aussterben? Wie kann man so etwas überleben?« Die lapidare Feststellung von Frau Moseri war, unsere Säugetier-Vorfahren hätten schließlich damals auch überlebt, auch die Krokodile und Vögel, nur die Saurier eben nicht, was aber für uns Säugetiere im Endeffekt sogar von Vorteil gewesen sei.
Ich zog einen der Blechstühle zu mir heran und setzte mich, um mein Schwanken unter Kontrolle zu bekommen. »Krokodile?« Frau Moseri sah mich irritiert an, schien sich zu fragen, was ausgerechnet an den Krokodilen so interessant war. Ich erklärte es ihr: »Unser Boot, auf dem wir überlebt haben, hat den Schiffsnamen TANIN. Das heißt Krokodil.«
Frau Moseri zuckte mit den Schultern und wollte wissen, welche Ausbildung unsere Crew hatte. Ich berichtete von Ingenieurinnen, Waffentechnikerinnen, Fachfrauen für Navigation und Ortung, Marija als Köchin und Sanitäterin, Elif als Krankenschwester.
»Kennt sich jemand mit Elektrotechnik aus?«
»Ja, natürlich.«
Die elektrische Anlage, ein kleines Wasserkraftwerk und die Verteilung des Stromes im Bunker, das alles musste unbedingt in Betrieb gehalten werden. Ob wir dabei helfen könnten, wollte Frau Moseri wissen. Wir würden tun, was wir konnten, klar. »Aber ohne Ersatzteile ist man irgendwann am Ende«, fügte ich hinzu.
Das Schwanken von Wand und Boden schien gebannt. Ich saß fest auf meinem Stuhl, der Tisch bewegte sich nicht mehr. Ich versuchte klar zu denken. Ich war Kommandantin meiner Crew, Frau Moseri hatte konkrete Erwartungen an uns geäußert.
Ich stand auf und erklärte: »Frau Kommandantin, unsere Crew wird Sie unterstützen und sich einsetzen, wo immer es möglich ist! Zählen Sie auf uns.« Erst während ich die Worte aussprach, wurde mir klar: Damit hatte ich unsere Crew quasi der Schweizer Armee unterstellt, die beiden Stabsoffiziere aus dem Hauptquartier würden wieder zetern. Aber alles andere wäre in unserer Situation unvernünftig und sinnlos gewesen.
Frau Moseri erhob sich ebenfalls. »Es wird viel zu tun geben. Lassen Sie es uns gemeinsam versuchen.«
Wie betäubt ging ich zurück in Richtung unseres Schlafraumes. Schlimmer als die Vernichtung des eigenen Landes konnte es kaum kommen, so hatte ich gedacht, und nun sprach diese Frau Moseri vom Aussterben der Saurier, um die Dimension der Katastrophe zu illustrieren. Waren jetzt wir Menschen dran mit dem Aussterben? Würden dann andere Lebewesen davon profitieren, wenn es uns nicht mehr gäbe?
Ein blöder Gedanke kam mir: Ja, ziemlich viele Lebewesen wären über das Verschwinden der Menschen wahrscheinlich froh, sofern sie natürlich ihrerseits die Katastrophe überlebten. Ich schüttelte die Gedanken wieder ab. Jetzt ging es um uns Menschen. Es ging um das Kind von Uri und mir. Wir mussten unsere Zukunft sichern.
Inzwischen war ich vor unserem Unterkunftsraum angekommen, davor standen die beiden Offiziere aus dem Hauptquartier in Tel Aviv, die hatten mir gerade noch gefehlt. »Wir haben auf Sie gewartet. Wir müssen jetzt die Verhandlungen mit der Schweizer Armee beginnen, um Hilfe für unser Land Israel zu organisieren!«
Ich redete leise, damit sie nahe herankommen mussten und uns möglichst niemand zuhörte. »Die Bunker-Kommandantin geht von einer globalen Katastrophe aus, wir müssen das Überleben hier organisieren. Eine Schweizer Armee und einen Staat gibt es offenbar nicht mehr, es gibt nur uns hier in diesem Bunker, sonst nichts. Ich habe unsere Crew der Bunkerkommandantin unterstellt, um unsere Kräfte zu bündeln. Sie sollten sich auch dort melden und Ihre Fähigkeiten in den Dienst aller stellen.« Bei mir dachte ich boshaft: Mal sehen, wofür die beiden tatsächlich zu gebrauchen sind.
Schweigen war die Antwort. Ich hoffte schon, sie hätten die Lage verstanden, da sagte der eine: »So geht das nicht. Wir werden selbst bei der Bunker-Kommandantin vorstellig. Wir haben einen Auftrag des Hauptquartiers zu erfüllen! Und Sie dürfen auch nicht einfach eine israelische Armee-Einheit einer fremden Macht unterstellen.«
Ich schwieg, bis mir ein Zufall aus der Verlegenheit half.
Der junge Soldat aus dem Kommandoraum kam vorbei, sah mich, stoppte abrupt. »Frau Kapitänin, kommen Sie sofort, das amerikanische Schiff hat sich gemeldet!«
Ich wandte mich um und lief in Richtung Kommandoraum, die beiden Hauptquartiersoffiziere folgten, ich spürte sie in meinem Rücken. Schon als der junge Soldat die Tür zum Kommandoraum öffnete, erkannte ich die Stimme von Matthew, dem Kommandanten der WEST VIRGINIA, aus dem Lautsprecher, von weither und mit Störgeräuschen. Ein warmes Gefühl der Vertrautheit durchflutete mich.
Frau Moseri wandte sich an die beiden nachdrängenden Offiziere: »Who are you?«
Der Wortführer stellte sich als »Colonel Levin, Israel Defence Forces, Headquarter« vor. Frau Moseri schnitt ihm mit einer Hand das Wort ab, sagte dann leise, aber bestimmt: »One of you only in this room.« Der Oberst nickte und gab seinem Kollegen ein Zeichen, den Raum zu verlassen.
Matthew war gerade dabei, Niederschmetterndes zu berichten. Nordamerika schien ebenso zerstört wie Europa, wenn nicht schlimmer.
Frau Moseri gab mir ein Zeichen, das Gespräch zu übernehmen.
»This is Leah, we arrived here with the whole crew.« Ich berichtete, wie wir das Schiff in Genua aufgegeben hatten und zu den Schweizern in den Bunker gelangt waren.
Frau Moseri übernahm wieder und wollte wissen, welche Pläne die WEST VIRGINIA verfolgte.
»Wir kommen auch nach Genua, allein auf uns gestellt auf dem Schiff haben wir noch für vier Wochen Proviant, dann ist Ende.«
Frau Moseri und ich sahen uns an. Ich nickte vorsichtig. Frau Moseri antwortete, dass die Besatzung der WEST VIRGINIA willkommen sei, aber es sei bereits sehr eng. Der Oberst aus dem Hauptquartier machte aufgeregte Zeichen, sprach leise auf mich ein. Ich bat Frau Moseri um eine kurze Beratungspause.
Nachdem wir den Kontakt zu den Amerikanern unterbrochen hatten, wurde der Oberst deutlicher und forderte uns auf, das amerikanische U-Boot zu fragen, ob sie die etwa vierzig Überlebenden des Hauptquartiers in Tel Aviv evakuieren könnten. Frau Moseri zuckte mit den Schultern, gab mir das Zeichen, ich sollte mit Matthew sprechen.
»Matthew, kommt nach Genua, dann sehen wir weiter, wir kommen euch entgegen. Aber wir haben eine Bitte: Wäre es denkbar, dass ihr einen Umweg macht und in Tel Aviv vierzig Überlebende aus dem Hauptquartier mitnehmt?«
Jetzt herrschte Schweigen am anderen Ende der Funkverbindung. Diesmal brauchte Matthew Bedenkzeit. Der Oberst aus dem Hauptquartier hatte Zuckungen im Gesicht. Endlich knackte es wieder im Lautsprecher. Im Prinzip ja, so meinte Matthew, sie hätten nicht mehr die ganze Besatzung an Bord, einige seien in Amerika ausgestiegen, also sei genug Platz im Schiff. Ich sprach noch ein anderes Problem an: Es gab keine Häfen mehr, in denen man anlegen konnte, das einzige Boot, mit dem man die Brandung durchbrechen und zu ankernden Schiffen gelangen konnte, war inzwischen auch zerstört. Matthew jedoch wusste seine Crew in der Lage, an Land zu kommen, bei moderatem Wetter, sie hätten ein Schlauchboot dabei. Zum Abschied erklärte er, man sei gerade in der Meerenge von Gibraltar und würde jetzt mit voller Fahrt Kurs auf Tel Aviv nehmen. Dann war das Gespräch zu Ende.
Der Oberst seufzte erleichtert. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Und ich musste zugeben: Diesmal hatte er sich im richtigen Moment eingemischt. Hilfslieferungen für Tel Aviv zu organisieren: Unmöglich. Aber Überlebende abzuholen und ihnen hier eine Chance zu bieten, das schien durchaus ein Weg.
Nach dem Gespräch herrschte zunächst Schweigen. Erst langsam sickerte die Tragweite der Informationen zu uns durch: Auch aus den USA war keine Rettung zu erwarten, auch dort war alles vernichtet. Was um alles in der Welt war geschehen? Ein Vulkanausbruch in Europa konnte doch nicht die ganze Welt verwüsten?
Frau Moseri warf in den Raum: »Vielleicht ein Impact irgendwo ganz woanders auf der Erde, der dann den Vulkanausbruch im Mittelmeer als Sekundäreffekt verursacht hat?«
Wir diskutierten, doch wir fanden keine Lösung. Wir würden es wahrscheinlich nie erfahren, es war auch nicht wichtig, was genau geschehen war. Es galt, mit der Situation zurechtzukommen.