FRANZ
Fassungslos bleibe ich auf dem Bett sitzen und versuche, das Erlebte zu verarbeiten. In Gedanken gehe ich unseren Schlagabtausch durch, bleibe an einzelnen Sätzen hängen. Und denke an den Kuss.
Gegen das Lachen, das in mir aufsteigt, bin ich machtlos. Ich lache so laut, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal so ungehemmt gelacht habe. Ich will aufstehen, aber dann lasse ich mich lachend zurück aufs Kissen fallen. Endlich kann ich mich aufraffen, stelle mich ans Fenster, um Julia vielleicht noch zu sehen. Aber sie hat das Anwesen wohl schon längst verlassen.
Ich versuche, die Knoten am Bettgestell zu öffnen, aber das ist unmöglich. Diese Fesseln werde ich mit einem Messer abschneiden müssen.
Einem Impuls folgend, rufe ich vorn bei der Pforte an.
»Chef? Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragt der Wachmann mit amüsierter Stimme.
»Sie sind Jackson, oder?«, frage ich, obwohl ich natürlich die Namen aller meiner Angestellten kenne. Ich möchte mit meiner Frage nur seine Unterlegenheit betonen, damit deutlich ist, wer das Sagen hat. »Sie haben diese Situation möglicherweise falsch eingeschätzt. Julia Frisk ist die Freundin meines Sohnes und war bei mir, weil sie sich Sorgen um ihn macht und meine Hilfe wollte.«
»Ah, verstehe. Stimmt, sie hat ihren Freund erwähnt. Machen Sie sich keine Sorgen, ich würde niemals ein Gerücht in die Welt setzen.«
»Julia ist nur eine gute Freundin.«
Ich kann hören, wie er schluckt.
»Das habe ich jetzt kapiert.«
»Sehr gut, Jackson. Dann verstehen wir uns. Noch eine Sache. Sie hätten mich anrufen müssen, bevor Sie Besucher aufs Gelände lassen. So einen Schnitzer dürfen Sie sich kein zweites Mal leisten.« Ich gebe meiner Stimme einen besonders autoritären Klang.
»Natürlich nicht, versprochen.«
»Gut, dann lasse ich Sie mal wieder Ihre Arbeit machen.«
Die vermutlich nur darin besteht, sich Pornos auf dem Handy anzusehen und sich dabei einen runterzuholen. Sicherheitsbeamte sind eine eigene Sorte Menschen. Mein Blick fällt auf die Hanfseile am Bettgestell. Ich kann sie unmöglich dort hängen lassen, meine Haushälterin soll sie nicht sehen. Es ist zwar praktisch, einen relativ kleinen Stab an Personal zu haben, aber die Gerüchteküche brodelt trotzdem. Ich streife mir ein Shirt über und gehe nach oben in mein Büro, um ein Messer zu holen. Meine Handgelenke brennen, eine Stelle ist wund gescheuert und leuchtet rot. Auf jeden Fall weiß Julia, wie man Knoten knüpft. Bei dem Gedanken, was sie mit Thor machen wird, wenn sie ihn findet, muss ich kichern.
Meine Erregung hat sich noch lange nicht gelegt. Es wird schwer werden, wieder in den Schlaf zu finden. Denn – anders als der Wachmann – lege ich niemals Hand an mich. Ich verfüge nämlich über Integrität.
Zur Ablenkung lese ich meine Mails, etwas Abtörnenderes gibt es nicht. Die erste Nachricht im Posteingang stammt von einer Adresse, die ich auf den ersten Blick nicht zuordnen kann. Eine Maklerfirma aus Uddevalla. Spam. Aber irgendwie kommt mir der Name doch bekannt vor. Maria Bremer.
Ich hatte eine Schulkameradin auf Dimö, die Maria Bremer hieß. Wenn ich mich nicht irre, was ich praktisch nie tue, ist sie nach Uddevalla gezogen. Sie war ein paar Jahre jünger als ich und sah eher durchschnittlich aus. Sie gehörte nicht zu den Leuten, mit denen ich zu tun hatte. Trotzdem weckt die Mail meine Neugier, und ich öffne sie.
Hallo Franz!
Du wirst dich wahrscheinlich nicht an mich erinnern, aber wir waren mal Schulkameraden.
Ich erinnere mich an alles und jeden, Maria.
Ich möchte dich hiermit darüber informieren, dass wir in unserem Portfolio ein Grundstück platziert haben, das direkt an deines angrenzt. Die neue Rechtsprechung ermöglicht, wie du sicherlich weißt, die Bebauung in Wassernähe, und wir sind der Überzeugung, dass dieses Grundstück auf großes Interesse stoßen wird. Ein Angebot liegt uns bereits vor. Melde dich gern, wenn du noch weitere Fragen hast.
Herzlich Maria
Mir wird schlagartig übel. Ich ahne, was dahintersteckt, hoffe aber inbrünstig, dass ich mich irre.
Solange ich zurückdenken kann, gehörte der Boden, der die Heidelandschaft hinter meinem Anwesen umfasst, einem alten Bauern, der im Inneren der Insel lebt. Es hat nie Probleme gegeben, denn alle Anwohner der Heide hatten sich in einer unausgesprochenen Übereinkunft darauf geeinigt, dass diese Fläche unberührt bleiben soll. Und zwar für immer. Deshalb hat sich auch niemand je bemüht, sie als Naturschutzgebiet eintragen zu lassen. Ich weiß, dass meine Mutter vor langer Zeit in dieser Angelegenheit den Kreisverwaltungsrat kontaktiert hat. Damals hat sie als Antwort erhalten, dass es andere Heideflächen auf dem Festland gäbe, die unter Naturschutz gestellt wurden und Dimö nicht oben auf der Liste stand. Es war ihnen ganz einfach zu umständlich, diesen Flecken am Ende der Welt zu pflegen. Unzweifelhaft aber gehört er zu den schönsten Heidelandschaften Schwedens. Wie eine lila Decke breitet sich die Heide aus, reicht im Spätsommer und Herbst bis ans Wasser hinunter. Im Winter liegt sie stumm und mit Raureif bepudert und wartet darauf, im Juni im goldgelben Schein des Heide-Ginsters zu erleuchten. Das ganze Jahr über eingerahmt und beschützt von dem kargen Felsenmeer im Hintergrund.
Es gibt kaum einen Ort auf dieser Erde, vor dem ich eine solche Ehrfurcht habe.
Im ersten Impuls spiele ich die Mail herunter. Der Bauer würde doch niemals seinen Grund und Boden verkaufen. Es muss sich um einen Irrtum handeln. Maria hat ein Dokument beigefügt, das ich neugierig öffne. Die Anzeige, die auf meinem Monitor erscheint, spricht eine ganz andere Sprache.
Dieser malerische Flecken Erde reicht bis hinunter ans Meer und befindet sich im Westen von Dimö. Eine ruhige, sichtgeschützte Lage. Hier können Sie sich Ihr Traumhaus bauen! Der Hauptort der Insel ist zu Fuß zu erreichen, dort finden Sie eine Badestelle, einen Hafen und Wassersportmöglichkeiten. Wenden Sie sich gern an uns, wenn Sie mehr erfahren wollen. Preis auf Nachfrage.
Darunter ist ein Foto abgebildet – von meiner Heide.
Vor meinem inneren Auge tauchen plötzlich Schreckensbilder auf. Von Baggern, die in meine Heide einfallen und alles zerstören, und von Vogelnestern, die von unachtsamen Stiefeln zertreten werden. Ich weiß alles über diese Heide, Flora und Fauna. Dort nistet zum Beispiel der scheue Goldregenpfeifer, auf Latein heißt er Pluvialis apricaria . Sein Name bedeutet so viel wie: »Der dem Regen gehört und von der Sonne verbrannt wurde.« Frühmorgens im Frühling kann man mit ein bisschen Glück das Birkhuhn hören. Auch dem Wiesenpieper und der Feldlerche gefällt es in der Heide. Und die Jungen der Feldhasen fallen den Seeadlern manchmal zum Opfer, die an der Küste nach Beute jagen.
Während diese Bilder durch meinen Kopf schießen, koche ich innerlich. Es ist lange her, dass ich so außer mir vor Wut war.
In jungen Jahren hatte ich große Probleme mit meiner Impulskontrolle, aber das hat sich im Laufe meines Lebens erheblich verbessert.
Ich klappe den Rechner zu, gehe nach unten und ziehe mich an. Der Hof ist menschenleer. Der Wachmann hebt eine Hand zum Gruß, ich nicke ihm zu.
Es ist mitten in der Nacht und eher dunkel, aber ich würde den Weg auch mit verbundenen Augen finden. Es duftet nach feuchtem Frühlingsboden. Der Tau hat sich in Form von winzigen Tröpfchen an die Zweige der Bäume gehängt, die im Mondlicht glitzern.
An meiner Oberfläche bin ich ruhig und beherrscht, aber in meinem Inneren lodert die Vorstufe eines zerstörerischen Wutausbruchs.
Es ist ganz still. Nur das sanfte Glucksen der Wellen, die gegen die Felsen schlagen, ist zu hören. Der Mond hat seine langgezogene Silhouette auf die Wasseroberfläche gemalt. Eine sanfte Brise weht.
Das hier ist mein Lieblingsort.
Hier kann ich sein. Hier kann ich endlich den Schrei zulassen, der in mir gewartet hat. Er kommt aus den Untiefen, ist ohrenbetäubend laut, hallt von den Felsen zurück und explodiert wie ein Blitzschlag an meinen Trommelfellen.
Erschöpft hole ich Luft, dann folgt ein zweiter Schrei – bis mein Frust, meine Enttäuschung gegen eiskalte Berechnung und Entschlossenheit ausgetauscht ist.
Dein Leben hat sich unwiderruflich geändert, Maria Bremer. Willkommen in der Hölle.