14

JULIA

Auf dem Weg zu Karins Hütte wurden ihre Schuldgefühle mit jedem Schritt größer. Sie hatte nicht vor, Thor ihre nächtlichen Eskapaden vorzuenthalten. Der Mangel an Aufrichtigkeit hatte bereits ein gefährliches Ausmaß erreicht. Obwohl sie sich erfolgreich einredete, dass sie sich nur Thor zuliebe auf den Kuss eingelassen hatte, löste das bevorstehende Geständnis eine nervöse Spannung in ihr aus.

Die Luft war so kalt, dass ihr Atem weiße Wolken bildete. Die Bäume und Büsche waren nur schwarze Silhouetten, aber der Mond wies ihr den Weg. Sie erreichte die Lichtung und sah Karins Hütte vor sich. In einem der Fenster brannte Licht. Sie hatte es so eilig, dass sie auf dem feuchten Boden ausrutschte.

Dann spähte sie durch das erleuchtete Fenster. Thor saß auf dem Bett und war in sein Handy vertieft. Sie klopfte gegen die Scheibe. Thor zuckte zusammen, ließ das Handy fallen und starrte sie an. Es dauerte einen Augenblick, bis er sie erkannte. Sie zeigte auf die Haustür und formte mit den Lippen: Mach auf! Sie ging zur Haustür und drückte die Türklinke herunter, aber die war verschlossen. Karin öffnete schließlich im Bademantel die Tür, schlaftrunken. Thor, der hinter ihr stand, sah am Boden zerstört aus.

»Du hast mich angelogen«, sagte Julia und starrte Karin wütend an. »Du hast doch gesehen, wie verzweifelt ich war, trotzdem hast du gelogen.«

»Thor hat mir das Versprechen abgenommen«, sagte Karin leise.

»Verstehe. Damit er in Ruhe in Selbstmitleid baden und sich seine Zukunft ruinieren kann.«

»Ich lasse euch beide mal besser allein, dann könnt ihr reden«, sagte Karin und verschwand in ihrer kleinen Schlafkammer.

Thor konnte Julia nicht in die Augen sehen.

»Wie lange hattest du denn vor, dich hier vor mir zu verstecken?«, fragte sie aufgebracht.

»Ich hatte gehofft, dass du aufhörst, nach mir zu suchen und nach Hause fährst«, sagte er mit gesenktem Kopf.

»Aber so bin ich nicht. Wenn du wüsstest, was ich alles getan habe, um dich zu finden. Hast du mich gesehen, als ich heute Vormittag da war?«

Er schabte nervös mit dem Fuß auf dem Boden.

»Ich habe mich in den Büschen versteckt.«

»Das ist das Kindischste, was ich je gehört habe.«

Er schloss die Augen, als würde er auf diese Weise der Situation entkommen können.

»Wollen wir uns in mein Zimmer setzen und reden?«

Sie gingen in das kleine Gästezimmer, in dem er immer schlief. Sein Handy lag auf dem Bett, und sie sah, was für einen Artikel er gerade gelesen hatte. Probleme von Sektenaussteigern – unüberwindlich?

»Thor, im Ernst jetzt. Was ist los mit dir?«

»Ich versuche zu begreifen, warum ich immer das Gefühl habe, nicht mehr zu existieren. Mein ganzes Leben ist von meiner Herkunft als Sektenkind beeinflusst. Ich ertrage es nicht, die Kommentare meiner Mitschüler zu hören, nachdem mein Vater seinen Auftritt im Fernsehen hatte. Und ich ertrage auch die Vorstellung nicht, dass meine Mutter ein Kind bekommt. Nach allem, was sie Vic und mir angetan hat.«

Sie setzten sich auf das Bett. Ihr stiegen Tränen der Erleichterung in die Augen. Sie freute sich so sehr, dass er gesund war und nicht tot im Graben lag.

Er zupfte an der Bettdecke. Sein Oberkörper bebte.

»Willst du mir noch was sagen?«, fragte sie.

»Ich weiß, dass ich mich kindisch benommen habe, aber es ist mir einfach alles zu viel geworden. Die Spannung zwischen dir und meinem Vater. Und zwischen ihm und mir. Ich will dazugehören, ich möchte wissen, wo ich hingehöre. Ich habe keine richtige Familie, und das Einzige, was ich mir seit meinem Ausstieg von ViaTerra wünsche, ist eine Familie.«

Sie hatte ihn noch nie so verzweifelt erlebt. Zaghaft berührte sie seinen Oberarm, ihre Fingerkuppen erzeugten eine Spur von Gänsehaut.

»Manchmal ist das Leben einfach chaotisch«, sagte sie mit milder Stimme. »Es gibt immer wieder solche Phasen, und alle Menschen durchleben Krisen.«

Das war der richtige Moment, die Wahrheit zu sagen. Sie griff nach seiner Hand, fuhr nervös mit der Zunge über ihre Lippen.

»Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich habe es für dich getan. Darf ich es dir erzählen?«

»Ja, erzähl es ruhig«, sagte er nichtsahnend.

Sie schüttelte den Kopf, langsam und entschuldigend.

»Es wird dir nicht gefallen, aber bitte versprich mir, nicht auszuflippen.«

Sie sah ihn an und registrierte jede noch so kleine Bewegung an ihm, während sie ihm von ihrem Besuch bei Franz erzählte. Als sie zu dem Detail mit den Hanfseilen und dem Bettgestell kam, sah sie es in seinen Mundwinkeln zucken. Als sie den Kuss erwähnte, drehte er sich weg und stöhnte auf. Dann senkte sich eine schwermütige Stille über sie. Würde er gleich in Tränen ausbrechen? Würde ihr zum Weinen zumute sein? Sie sahen sich an.

»Es war ein sehr kurzer Kuss. Eigentlich nur ein Küsschen. Er hätte mir sonst nicht gesagt, wo du bist. Ich habe es nur getan, um dich zu finden. Verurteile mich ruhig dafür, aber …« Ihre Stimme war abgehackt, niedergeschlagen.

Thor lächelte sie an.

»Mein Vater ist ein Idiot, stimmt’s?«

»Da hast du recht.«

»Aber wenigstens ist er nicht so falsch wie meine Mutter. Auf sie kann man sich überhaupt nicht verlassen. Mein Vater ist wenigstens ein unverstellter Idiot. Aus seiner Begeisterung für dich hat er nie ein Geheimnis gemacht.«

»Bist du sehr sauer auf mich?«

»Ein bisschen. Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich getan hast. Hast du ihn allen Ernstes an das Bettgestell gefesselt?«

»Ja.«

Er lachte leise.

»Tschuldige, dass ich lache, aber das ist total verrückt.«

»Es war alles andere als lustig.«

»Und ist mein alter Herr ein guter Küsser? Besser als ich?«

Sie wusste, dass er einen Scherz machte, um ihr zu zeigen, dass er nicht mehr sauer war. Aber neugierig war er schon.

»Das hat nur ein paar Sekunden gedauert. Aber wenn du mich fragst, er ist kein schlechter Küsser, trotzdem kommt er nicht einmal in die Nähe von dir. Du bist der beste Küsser der Welt.«

Seine Gesichtszüge entspannten sich.

»Das geschieht ihm ganz recht«, sagte er zufrieden. »Das beweist doch nur wieder, dass wir uns von ihm fernhalten sollten. Er soll sich verpissen!«

»Ich glaube es nicht, macht dich das an, Thor?«, fragte sie entsetzt.

»Ein bisschen schon, wenn ich ehrlich bin. Weil du dich für mich entscheidest und nicht für ihn. Dass er nicht gegen seinen kleinen Jungen gewinnt. Das ist ziemlich … zufriedenstellend.«

Julia verabscheute dieses Kräftemessen zwischen Thor und Franz, aber darauf wollte sie jetzt nicht weiter eingehen. Sie war vor allem erleichtert, dass Thor nicht mehr sauer auf sie war.

Er zog sie zu sich aufs Bett und küsste sie.

»Schluss! Hör auf«, sagte sie. »Tun wir jetzt so, als wäre alles wieder wie vorher?«

»Ja, wenn du das auch willst?«, sagte er und legte sich auf den Rücken neben sie. »Ich komme mit nach Hause. Natürlich will ich mein Abitur machen. Wenn ich traurig und deprimiert bin, möchte ich, dass du mir zuhörst und mich nicht ausschimpfst. Versprichst du mir das?«

»Das verspreche ich dir«, sagte sie feierlich.

Sie drehten sich zueinander, sahen sich tief in die Augen.

»Willst du wirklich mit mir zusammen sein, Julia?«, fragte er. »Ich bin … einfach zum Verzweifeln. Ist dir das nicht zu viel?«

»Warum glaubst du, bin ich nach Dimö gekommen und habe mich wie Rambo aufgeführt?«

»Ich will, dass alles wieder gut wird. Versprochen. Ich bin eigentlich nicht so.«

»Das weiß ich doch.«

»Wollen wir morgen früh die erste Fähre nehmen? Meine Englischklausur ist am Montag.«

»Das machen wir.« Sie hielt ihm sein Handy vors Gesicht. »Was ist das für ein Artikel?«

»Ach, nichts …«, sagte er und wurde rot. »Ich dachte … also, ich wollte …«

»Vielleicht solltest du dir doch einen Psychotherapeuten suchen?«

»Ja, vielleicht. Mal sehen. Aber lass uns jetzt schlafen, sonst sind wir morgen früh nämlich völlig fertig.«

Der Himmel veränderte schon seine Farbe – in ein tiefes Taubengrau. Die Morgendämmerung kündigte sich an. Eine erste Amsel sang. Julia schlich ins Badezimmer und lieh sich Thors Zahnbürste aus. Er lag schon unter der Decke, als sie zurückkam. Sie zog sich aus und kletterte zu ihm ins Bett, schmiegte sich an ihn. Langsam wurde ihr warm, und kurz darauf waren sie beide eingeschlafen.

Am nächsten Morgen verabschiedeten sie sich früh von Karin, weil sie noch das Auto abholen mussten, das Julia an der Pension geparkt hatte.

»Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen, Julia«, sagte Karin.

»Ja, das ist okay. Aber Thor muss nicht immer verhätschelt und in Schutz genommen werden. Dieses Mal hätte er eher einen Tritt in den Hintern gebraucht.«

Karin schüttelte den Kopf. Allerdings so dezent, dass Julia es fast nicht bemerkt hätte.

»Thor bewirkt Wunder in meinem Garten. Jetzt muss ich die ganze Arbeit allein machen.«

Sie lächelte schelmisch, und Julia konnte ihr einfach nicht mehr böse sein.

Auf dem Weg zurück in den Ort hatte Thor seine Hand auf Julias Rücken gelegt. Das war so ungewöhnlich, er wirkte geradezu geistesabwesend. Alles hatte sich nach ihrem Gespräch geändert – und doch nichts. Sie mussten ihr wirkliches Leben in den Griff bekommen und ihre Eigenheiten bearbeiten, wenn es zwischen ihnen zu eng wurde.

Die Luft war feucht und weich. Über den Feldern lag ein zarter Nebel, der so typisch war für die Insel. An einigen Stellen spross im Asphalt Unkraut. Dieses Wetter hatte einen permanenten Lichtwechsel zur Folge. Die Zweige der Bäume glänzten gerade noch wie Silber, einen Augenblick später verschwanden sie in einem dichten grauen Dunst. Das Auto war mit Wassertropfen übersät und hatte beschlagene Scheiben. Thor wollte seiner Mutter nicht begegnen, deshalb fuhren sie direkt zur Fähre.

Sie hatten gerade den Wagen an Deck abgestellt, als Julias Handy klingelte.

»Hallo, meine Süße, hast du Thor gefunden?«, fragte Sofia.

»Ja, wir sind jetzt auf der Fähre und fahren zurück.«

»Da bin ich wirklich erleichtert. Habt ihr euch ausgesprochen?«

»Ja, aber wir sind noch nicht fertig mit dem Reden.«

Sofia atmete schwer.

»Das ist jetzt bestimmt der vollkommen falsche Zeitpunkt«, sagte sie, und ihre Stimme klang sehr ernst, »aber ich finde, ihr solltet auf dem Nachhauseweg bei uns vorbeikommen. Ich muss unbedingt über etwas Wichtiges mit euch sprechen.«