30

SOFIA

Ich höre ihm aufmerksam zu. Er spricht mit tiefer Stimme, langsam und zu keinem Zeitpunkt zögernd.

»Ich kann Julia hier auf Dimö hundertprozentige Sicherheit garantieren. Sie kann im Gästehäuschen wohnen und arbeiten. Es wäre vollkommen unverantwortlich, sie unter diesen Umständen in ihre Wohnung zurückkehren zu lassen oder sie in Henån unterzubringen. In der Höhle des Löwen. Das wäre die beste Lösung, musst du zugeben.«

Er redet mit mir wie mit einem ungehorsamen Kind. Einem ersten Impuls folgend, will ich ihn beschimpfen und auflegen. Aber intuitiv ahne ich, dass ich von diesem Telefonat profitieren kann. Meine Beine geben nach, die Waden brennen, aber da kein Stuhl weit und breit ist, lehne ich mich gegen die Wand. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, brauche noch einen Moment, um das Für und Wider zu bedenken. Ich werfe mir vor, dass ich jetzt doch wieder mit ihm spreche, bin aber gleichzeitig erleichtert, weil seine Worte durchaus Sinn ergeben.

Er bricht das anhaltende Schweigen.

»Ich weiß, dass du mir niemals verzeihen kannst, Sofia.«

Das ist so typisch für ihn. Ist das etwa Selbstmitleid?

»Darum geht es doch jetzt nicht«, fauche ich ihn an.

»Um was geht es dann?«

»Ob du dir selbst verzeihen kannst?«

»Was denn?«

»Dein Inneres, wie du bist.«

»Ich weiß weder, ob etwas in mir ist, noch wer ich bin«, sagt er leise. Seine Tonlage hat sich verändert, als wäre die scharfe Spitze abgeschliffen worden.

»Ich weiß, was dir dein Vater angetan hat, Franz, aber das ist keine Entschuldigung.«

»Das habe ich auch nie als Entschuldigung benutzt.«

»Das Schlimme sind nicht unbedingt die Dinge, die man tut, sondern die Überzeugung, dass es das Richtige ist und man das Recht dazu hat.«

Das stimmt ihn nachdenklich. Zumindest vermute ich das, weil er schweigt.

»Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich es sehr bereue?«, fragt er.

Ich zögere, möchte heraushören, in welcher Stimmung er ist. Ich spüre eine unbekannte Nervosität.

»Ich glaube vor allem, dass du keine Schuldgefühle hattest oder hast. Du benutzt sie nur als Druckmittel, damit die Leute das machen, was du willst.«

Es fühlt sich gut an, ihm die Meinung zu sagen. Geduldig warte ich auf seine Retourkutsche, aber es kommt keine. Nur ein kurzes, heiseres Lachen, das überraschend echt klingt.

»Ach, meine Liebe. Es ist schön, mit dir zu telefonieren.«

Aber ich bin noch nicht fertig mit ihm.

»Weißt du, was viel schlimmer war? Dass du mich danach erniedrigt und weiter gequält hast. Du hast mich bei Sturm auf den Teufelsfelsen geschleppt und gedroht, mich ins Wasser zu stoßen. Hat dich das angemacht? Hast du das großartig gefunden?«

Er räuspert sich, seufzt. Verständlich, dass er nicht darüber sprechen möchte.

»Das waren die Umstände. Du hast Elvira gegen mich aufgehetzt, mir meine ungeborenen Kinder genommen. Und die Medien haben sich wie die Geier auf mich gestürzt. Mir ging es damals nicht besonders gut.«

»Nein, das kann man getrost sagen.«

»Ich meine damit den Franz, der ich damals gewesen bin. Der, der ich heute bin, würde niemals …«

»Erspar mir deine Ausflüchte.«

Warum verschwende ich überhaupt meine Zeit und rede mit ihm? Er ist ein Monster, das sich hinter der Fassade künstlicher Menschlichkeit versteckt. Es fällt mir nicht leicht, aber trotzdem muss ich zugeben, dass ich immer davon überzeugt war: Tief in seinem Inneren, in seinem pechschwarzen Herzen gibt es eine kleine Nische. Eine Nische, die der Liebe fähig ist. Das ist vermutlich nur naiv und idiotisch. Oder wie Benjamin sagen würde: Du bist eine unverbesserliche Idealistin mit einem Herz aus Gold. Ich ziehe letzteres Bild von mir vor.

Aber jetzt geht es um Julia. Ausschließlich um sie. Und wenn dieses Monster Empathie für jemanden aufbringen kann, dann für meine Tochter. Er ist nervös, das kann ich hören. Und das ist gut.

»Bist du noch dran, Sofia?«, fragt er.

»Ja.«

»Bitte glaube mir, dass ich mich verändert habe.«

»Ich glaube, dass du dir eine neue Version ausgedacht hast und den Schlaganfall vorschiebst, damit du dich deiner Vergangenheit nicht stellen musst. Aber was passiert, wenn du selbst aufhörst, dieser Geschichte zu glauben?«

»Ich bin ein anderer Mensch geworden«, sagt er. »Meine Vergangenheit hat praktisch keinen Einfluss mehr auf mich.«

Das ist zwar eine Lüge, aber ich lasse sie unkommentiert.

»Dir kann man einfach nicht vertrauen, Franz.«

»Doch, wenn es um Julia geht, schon. Ich habe ihr vor drei Jahren das Leben gerettet, und gestern hat es Thor getan, weil ich ihn angeleitet habe. Ich würde Julia niemals etwas antun.«

Seine Stimme ist so zärtlich, wenn er über sie spricht, dass mir eiskalt wird.

»Du klingst richtig besessen, hörst du das?«

»Du weißt genau, dass sie hier sicher wäre.«

»Und du weißt, dass ich mir von deinem Geschwätz nichts einreden lasse.«

»Mir geht es ausschließlich um Julias Sicherheit«, kontert er.

Der Anblick von ihr in der Notaufnahme taucht vor meinen Augen auf. Ihr blasses Gesicht unter der Sauerstoffmaske, der Tropf, die Beule auf der Stirn, die blauen Flecken am ganzen Körper. Das ist alles meine Schuld. Mir laufen stumme Tränen übers Gesicht.

»Du weißt nicht, wie sie ausgesehen hat«, sage ich heiser.

»Das muss schrecklich gewesen sein.« Jetzt hat seine Stimme etwas Warmes, fast Zärtliches, und erinnert mich an die Zeiten, in denen wir zusammengearbeitet haben und er so gute Laune gehabt hat. Damals hat er mir sein Jackett über die Schultern gelegt, wenn es mir im Büro zu kalt gewesen ist. Dieser Franz hat mich auch dazu angehalten, jede verirrte Biene zu befreien, weil sie ein wichtiger Bestandteil unseres Ökosystems ist. Und dieser Franz hat mich gelobt, wenn ich etwas richtig gemacht hatte. Das waren bessere Zeiten gewesen. Bevor mein Alltag zu einem Albtraum wurde. Mir ist nach wie vor unbegreiflich, dass mich derselbe Mann jahrelang verfolgt und schikaniert hat.

»Du hörst dich ziemlich verzweifelt an«, sage ich. »Warum bist du so daran interessiert, dass Julia nach Dimö kommt. Los, sag mir die Wahrheit, Franz.«

»Mir geht es einfach besser, wenn Julia und Thor bei mir sind«, sagt er kurz angebunden.

Natürlich! Mein Mutterinstinkt springt sofort an, reißt mich aus dem Gespräch, ich kann nur noch die weiße Wand vor mir anstarren. Er würde Julia niemals etwas antun, weil er dann nicht nur sie, sondern auch Thor für immer verlieren würde. Und Franz braucht die beiden, um seine innere Leere zu füllen. Um sein Herz zu befrieden, das chronisch unglücklich ist, einfach weil er mit diesem Wunder »Liebe« nicht zurechtkommt.

Er räuspert sich, um meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

»Wenn es noch mehr gibt, was du mit mir erörtern möchtest, ich bin ganz Ohr«, sagt er.

»Allerdings. Hast du noch ein Stündchen Zeit?«

Ich kann sein Lächeln förmlich hören.

»Ihr seid euch so ähnlich, Julia und du. Ich wiederhole mich. Ich werde sie beschützen können, wenn sie nach Dimö kommen. Beide, Julia und Thor. Du hast mein Wort, ob du mir nun vertraust oder nicht.«

»Ich stehe lediglich deiner sogenannten Veränderung skeptisch gegenüber, die du durchgemacht haben willst. Aber ich sehe auch, dass wir vielleicht keine andere Wahl haben. Ich werde das mit den anderen besprechen. Und wehe, du rufst Thor an und machst ihm Druck. So funktioniert das nicht. Ich melde mich, wenn wir uns entschieden haben.«

»Ich warte sehr gespannt auf deinen Anruf«, antwortet er. Ich höre die Ironie, die ein Zeichen dafür ist, dass es ihm gutgeht. »Ihr habt das letzte Wort.«

Zurück in Julias Zimmer betrachte ich meine kleine Familie. Thor sitzt an Julias Bett und hält ihre Hand. In mir flammt das mütterliche Bedürfnis auf, sie wie früher bei einem Albtraum in die Bettdecke zu kuscheln, ihr auf die Stirn zu küssen und zu sagen, dass alles wieder gut sein wird, wenn sie aufwacht. Aber diesen Albtraum hier kann man nicht mit Schlaf verjagen. Benjamin steht am Fenster, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Das tut er nur, wenn er nervös ist und nicht weiß, wohin mit ihnen. Das Dilemma, in dem wir stecken, hängt schwer und düster in der Luft.

Alle Blicke richten sich auf mich.

»Wer war das?«, fragt Julia.

»Das war Franz.«

»Mama! Sprichst du jetzt doch wieder mit ihm?«, fragt sie vorwurfsvoll.

Ich setze mich zu ihr, auf die andere Seite des Bettes, und nehme zärtlich ihr Gesicht in meine Hände.

»Mein Herz, du bist noch zu jung, um in der Vergangenheit hängen zu bleiben. Lebe das Leben im Hier und Jetzt!«, sage ich. »Es spielt gerade keine Rolle, was mir Franz vor zwanzig Jahren angetan hat. Wichtig ist nur, dass du in Sicherheit bist.«

»Warum hast du nicht einfach aufgelegt?«

Ich sehe zu Thor hinüber, der furchtbar unglücklich wirkt.

»Ich möchte Franz weder in meinem noch in eurem Leben wissen, aber gleichzeitig wünsche ich es Thor«, sage ich. »Da ich noch nicht weiß, wie ich das anstellen soll, bin ich ihm bisher einfach kategorisch aus dem Weg gegangen. Das ist ein bisschen feige, aber jetzt befinden wir uns in einer Ausnahmesituation, und deshalb gelten andere Regeln.«

»Was wollte er denn?«, fragt Julia.

»Er hat vorgeschlagen und angeboten, dass du nach Dimö kommst und im Gästehäuschen unterkommst, bis sie die Täter gefasst haben. Thor bleibt hier, bis er seine Klausuren geschrieben hat.«

»Und was daran soll eine gute Idee sein?«, fragt Julia.

»Kommt überhaupt nicht infrage«, widerspricht Benjamin aufgebracht.

»Sch…, lasst mich mal in Ruhe nachdenken, bitte«, sage ich und schließe die Augen. Erneut meldet sich mein Mutterinstinkt wie eine leise Stimme in meinem Kopf und versichert mir, dass Julia auf der Insel sicher sein wird. Als ich die Augen wieder öffne, starrt Benjamin an die Wand und seufzt demonstrativ laut, Thor wirkt vollkommen ratlos.

»Ich weiß, wie paradox es ist, dass ausgerechnet Franz die Lösung unseres Problems sein könnte«, sage ich. »Aber ich finde es richtig, dich nach Dimö zu schicken.«

»Und warum das, Mama?«

»Du wärst raus aus der Stadt und würdest nicht in der Wohnung festsitzen. Und bei uns in Henån bist du wirklich in der Schusslinie, das hast du ja selbst gesagt.«

Benjamin wirft mir einen sehr skeptischen Blick zu.

»Aber glaubst du wirklich, dass sie auf ViaTerra sicher wäre?«, fragt er. »Das ist doch das Einzige, was jetzt zählt.«

»Das wird sie.« Ich nicke. »Wie fühlt sich das für dich an, Julia?«

Ein Lächeln huscht über ihre Lippen.

»Wie sich das für mich anfühlt? Sind wir hier in einer Therapiesitzung, oder was? Mir ist es völlig egal, wie sich das anfühlt , solange sie mir nichts tun können.«

Das ist so typisch für Julia. Benjamin und ich sehen uns an und brechen in schallendes Gelächter aus. Thor lässt sich anstecken und am Ende auch Julia. Es tut gut, gemeinsam zu lachen, wenn die ganze Welt um einen herum voller Gefahr ist.

»Ich möchte mich sicher fühlen können«, sagt Julia. »Und Franz macht mir keine Angst. Aber wie kannst du dir so sicher sein, dass sie nicht auch auf das Gelände dort eindringen?«

»Wie ich mir da sicher sein kann?« Ich werfe Benjamin einen vielsagenden Blick zu. »ViaTerra ist wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Ich habe ein halbes Jahr lang vergeblich versucht, von dort zu fliehen.«