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JULIA

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie keine Angst beim Aufwachen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie auf Dimö war. Und der Grund dafür war nicht das monotone Rauschen des Meeres und der holzige Duft des Häuschens, sondern das tiefe Gefühl von Sicherheit. Da begriff sie, dass sie unterschwellig die ganze Zeit angespannt gewesen war. Das war wie ein kaum hörbares Brausen in den Ohren gewesen, eine Schwere im Körper. Aber das alles war jetzt wie weggeblasen.

Franz hatte die Hütte für sie herrichten lassen. Das Badezimmer war mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet und der Kühlschrank gefüllt. Man hatte ihr einen Schreibtisch mit einem Drucker ins Wohnzimmer gestellt. Auf dem Nachttisch lag ein Stapel Bücher. Ein Buch über Psychologie, ein Bildband über die Bohuslänküste sowie ein altes Buch über die Geschichte der Insel. Es war alles sehr … kunstvoll geplant.

Sie stand auf und ging auf die kleine Terrasse. Bei ihrem letzten längeren Besuch auf ViaTerra hatte ein heftiger Sturm die Glastür zersplittert und ein großer Ast das Dach der Hütte zerstört. Aber inzwischen war alles frisch renoviert worden. Die Holzplanken waren zwar kalt, die Luft aber angenehm mild und frisch, sie roch nach Wald und feuchtem Moos. Hier konnte ihr niemand etwas antun. Die Erleichterung darüber war so groß, dass ihr ganz schwindelig vor Glück wurde.

Sie überlegte, wie sie den Tag verbringen wollte. Zuerst einen Spaziergang über die Insel, dann vielleicht einen Sprung ins Wasser. Danach wollte sie die Recherche für ihren nächsten Artikel fortsetzen. Da fiel ihr die Mail ein, die Franz ihr geschickt hatte, mit dem Benutzernamen und Passwort für das Forum der Ursprungsevangelisten. Aber kein Wunder, dass sie das vergessen hatte, die letzten Tage hatte sie wie in einem Nebel verbracht. Jetzt allerdings hatte ihr Leben ein neues, langsameres Tempo. An so einem Morgen wie auf Dimö löste sich das Gefühl für die Zeit fast vollständig auf. Das Seufzen der Wellen, das Rascheln des Windes im Laub der Bäume, der weite Himmel – irgendwie atmete alles Ewigkeit.

Sie ging wieder in die Hütte zurück und suchte die Mail von Franz, um sich über den Link mit Benutzernamen und Passwort anzumelden. Das Logo war ein Engel, der auf der Schulter eines bärtigen Mannes saß. Vermutlich war das Gott oder Abraham oder ein anderer Protagonist aus dem Ersten Buch Mose. Die Kopfzeile bestand aus dem Foto einer Landschaft, die der Heide auf Dimö zum Verwechseln ähnlich sah. Bald segeln wir in den Hafen Gottes. Was sollte das bloß heißen?

Sie fand Beiträge über Zusammenkünfte und Andachten. Die Ursprungsevangelisten hatten keine eigenen Kirchen, sondern versammelten sich privat zu Gebet und Predigt und anschließendem Essen, bei dem die Männer unter sich blieben. Die Frauen trugen fast alle bodenlange Kleider und hatten langes, geflochtenes Haar und einen Haufen Kinder.

Zufällig stieß sie auf einen Beitrag von Hilmer Blomberg, in dem er das geplante Gebäude auf dem heiligen Boden vorstellte. Es waren dieselben Zeichnungen, die ihr Franz schon gezeigt hatte. Der Grundriss sah wie ein Schiffsrumpf aus, und um den Außenpool war ein hoher Zaun gezogen. Wer baut so einen Zaun um seinen Pool? Die Blombergs hatten doch keine kleinen Kinder mehr? Vielleicht zum Schutz der Enkelkinder?

Im Menü gab es einen Reiter mit der Bezeichnung Filme . Es gab mehrere Kategorien: Andachten, Hochzeiten, Studien. Bei den Studien war ein Film von einem kleinen Mädchen gespeichert, das die Schöpfungsgeschichte aufsagte. Julia fragte sich, wie gestört man eigentlich sein musste, um so etwas zu filmen. Es gab noch eine vierte Kategorie: GT , aber als sie die öffnen wollte, wurde sie nach einem weiteren Passwort gefragt. Ihre Neugierde war geweckt – ob Franz ihr dabei helfen konnte? Für solche Angelegenheiten war doch Hampus zuständig, oder? Eigentlich wollte sie ihn nicht um weitere Gefallen bitten, denn das führte nur zu Gegenleistungen. Aber sie war zu neugierig und rief ihn deshalb an.

»Hast du gut geschlafen?«

»Wie ein Stein.«

»Das freut mich. Fehlt etwas?«

»Nein, aber ich bin gerade in diesem Forum unterwegs und wollte mir einen Film ansehen. Dafür brauche ich allerdings ein weiteres Passwort. Kannst du mir das besorgen?«

»Ich setze Hampus darauf an. Sonst noch etwas?«

»Nein, vielen Dank. Es ist toll hier.«

»Hast du Lust, später mit mir spazieren zu gehen?«, fragte er.

Sie zögerte. Eine sanfte Brise strich ihr über die Wange und brachte ihre Entschlossenheit ins Wanken. Aber nur für einen kurzen Moment.

»Nein, danke. Ich habe dir doch gesagt, dass ich das nicht will. Noch nicht.«

»Wie schade. Du befindest dich in einem Zustand der Verleugnung, Julia«, sagte er und schnaufte laut.

»Verleugnung von was?«

»Du verleugnest die Tatsache, dass wir beide gut miteinander auskommen. Und dass daran nichts auszusetzen ist.«

»Und du lebst in einem Zustand der Verleugnung, dass du meiner Mutter und anderen Schreckliches angetan hast.«

Darauf erwiderte er nichts.

Sie starrte auf einen Sonnenstrahl, der auf ihre Schreibtischplatte traf.

»So, ich muss jetzt weitermachen«, sagte sie, um schnell auf andere Gedanken zu kommen.

Karin würde ihr bestimmt erzählen können, ob und wo die Familie Blomberg auf Dimö ein Sommerhaus besessen hatte. Sie beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen und einen Spaziergang zu ihr zu machen. Sie duschte kurz und machte sich dann auf den Weg zu Karins Hütte im Wald. Es tat gut, sich zu bewegen, obwohl es noch schmerzte. Karin war im Garten und band ihre Rosen an den Spalieren fest, die an der Hauswand lehnten.

»Was für eine Überraschung!«, rief sie fröhlich. »Wie schön, dass du mich besuchen kommst.«

Julia war ein bisschen außer Atem, sie strich sich den Pony aus der Stirn.

»Oh, bist du gerannt?«, fragte Karin.

»Nein, eher geschlichen. Ich hätte ein paar Fragen an dich.«

»Gern. Wollen wir uns setzen?« Karin zeigte auf die Hollywoodschaukel, die unter einer großen Eiche stand.

Die Schaukel knarrte gemütlich, und sie plauderten ein bisschen über die Nachwirkungen des Überfalls, ehe Julia ihr eigentliches Anliegen unterbreitete.

»Ich würde gern wissen, ob du dich daran erinnerst, dass die Blombergs ein Sommerhaus auf Dimö hatten?«

Karins Lächeln verschwand und wurde durch ein Staunen ersetzt.

»Wie kommst du denn darauf? Willst du denen nochmal auf die Füße treten?«

»Allerdings, ich werde ihnen so oft auf die Füße treten, wie ich kann«, sagte Julia. »Hier können sie mir nichts antun.«

Karin lächelte.

»Du bist so hartnäckig wie ein Marder.«

Julia sah sie fragend an.

»Hat dich nicht Thor am Anfang so genannt? Hier auf der Insel gibt es viele Marder. Er weiß alles über ihr Verhalten, wenn die eine Beute haben, geben sie die niemals her.«

Julia lachte.

»Aber du weißt, wo ihr Sommerhaus stand?«

»Ja, das steht dort auch heute noch.«

»Wirklich? Benutzen sie es denn auch noch?«

»Nein.« Karins Gesichtsausdruck veränderte sich. Eine Schwere legte sich über sie. »Aber Hilmers Schwester Rakel lebt dort. Schon ganz lange.«

»Ich muss unbedingt mit ihr sprechen.«

»Davon würde ich dir eher abraten«, antwortete Karin resolut. »Rakel ist etwas sonderbar. Böse Zungen nennen sie Verrückte-Rakel. Sie ist eine Eigenbrötlerin und lässt das Haus allmählich verfallen.«

»Warum weiß Franz nicht, dass sie dort lebt?«

»Das tut er, aber ich vermute, dass er nicht weiß, dass es Hilmers Schwester ist. Franz war ja noch ein kleines Kind, als die Familie dort ihre Ferien verbrachte. Rakel war verheiratet, aber nur kurz, bevor sie geisteskrank wurde. Sie trägt noch immer den Namen ihres Exmannes: Melander. Der ist Hals über Kopf geflohen, als sie mitten in der Nacht eine religiöse Zeremonie an ihm durchführte und ihn mit einem Holzscheit verprügelte. Aber das sind nur Gerüchte. Rakel hat gute und schlechte Tage, man kann sich zwischendurch auch ganz normal mit ihr unterhalten.«

»Erinnerst du dich daran, als ihre Schwester Milka im Eis eingebrochen und ertrunken ist?«

»Oh ja, das weiß ich noch. Es war zu Weihnachten. Furchtbar, ganz furchtbar.«

»Kanntest du Milka?«

»Nein, die Familie lebte ziemlich zurückgezogen, und die Kinder durften nicht mit den nicht-religiösen Kindern der Insel spielen. Außerdem war ich viel älter als sie. Sie hatten ein paar Freunde auf der Insel, Gleichgesinnte, das waren auch Fanatiker. Sie wirkten wie eine geschlossene Gesellschaft. Da gab es kein Durchdringen.«

»Weißt du, ob Hilmer seine Schwester jemals besucht hat?«

»Nein, das glaube ich nicht. Rakel ist verwirrt, in deren Augen ist sie eine Verlorene. Soweit ich weiß, stoßen freireligiöse Gemeinschaften geisteskranke Mitglieder meistens aus«, sagte Karin und schüttelte den Kopf.

»Das ist alles so spannend«, fand Julia. »Und du weißt wirklich über alle möglichen Dinge Bescheid, die auf Dimö passieren.«

»Ja, über fast alle. Du kannst jederzeit wiederkommen, wenn du noch Fragen hast. Ich hoffe, dass du dich hier bei uns auf Dimö sicher fühlst und dich frei bewegen kannst.«

»Das tue ich.«

»Ich habe zwar schon gefrühstückt, aber magst du noch einen Kaffee?«

»Nein, vielen Dank, ich muss zurück an den Schreibtisch. Bis bald.«

Julia war inzwischen voller Energie und ging geradezu beschwingt zu ihrem Gästehaus zurück. Die Familie Blomberg hatte also Wurzeln auf Dimö. Und außerdem wohnte eine verrückte Schwester hier. Sie hatte doch die ganze Zeit schon vermutet, dass es eine tiefere Verbindung gab. Sie hatte immer geahnt, dass sich unter der Oberfläche ein Geheimnis verbarg, irgendetwas Verruchtes vielleicht.