FRANZ
Wer der Ansicht ist, dass Nebel düster und deprimierend sein muss, der hat seine Bedeutung für die biologische Vielfalt und das ökologische Gleichgewicht nicht begriffen. Die Feuchtigkeit ist sehr wichtig für die Flechten an alten Laubbäumen, und die meeresnahen Räume sind sehr viel artenreicher als die im Landesinneren. Der Nebel im Frühling ist am schönsten, wenn die Sonne das Meer tagsüber erwärmt hat und der Nebel am nächsten Morgen in dicken Schwaden über die Insel zieht. Heute ist so ein Tag.
Ich wache um sechs Uhr auf und breche sofort zu einer Joggingrunde über die Insel auf. Die Feuchtigkeit legt sich auf mein Gesicht, ich atme die weiche Luft bis tief in die Lunge ein. Nachdem ich mich geduscht und angezogen habe, rufe ich Maria an. Dabei sehe ich, dass ich acht Anrufe von ihr verpasst habe. Sie muss ein höllisch schlechtes Gewissen haben. Leider ein bisschen zu spät. Ich rufe sie absichtlich so früh an. Ihr Büro macht erst um zehn Uhr auf, sie schläft also vermutlich noch. Und hoffentlich gehört sie zu der Sorte Menschen, die nicht wieder einschlafen können, wenn sie einmal aufgewacht sind.
»Hallo«, meldet sie sich mit müder Stimme. »Bist du es, Franz?«
Ich bleibe stumm, atme nur leise.
»Mein Lieber …«, sagt sie zögernd. »Bitte verzeih mir. Ich möchte mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Obwohl ich gestehen muss, dass ich es wieder tun würde, um eine Nacht mit dir zu verbringen.«
»Es wird keine weitere Nacht geben, Maria«, sage ich.
»Mich allein trifft aber nicht die ganze Schuld«, verteidigt sie sich. »Deine Mutter kann sehr überzeugend sein.«
»Interessant. Dasselbe hat sie von dir gesagt.«
»Ihr beide seid euch so ähnlich. So hartnäckig und stur.«
»Kannst du jetzt bitte aufhören, die Verantwortung allen anderen zuzuschieben? Du schuldest mir einen Gefallen. Ich möchte, dass du etwas für mich herausbekommst.«
»Meinetwegen. Aber dann musst du aufhören, so sauer auf mich zu sein. Ich habe deine Assistentin angerufen, weil ich mich nach eurem Frühlingsfest erkundigen wollte. Ganz Dimö redet davon. Sie hat mir geantwortet, dass meine Eltern und Geschwister herzlich eingeladen sind, ich aber nicht. Hast du das wirklich nötig?«
»Wir werden sehen. Das kommt darauf an, ob du mir helfen kannst.«
Mein Auftrag an sie ist die kryptische Bauzeichnung von Blomberg. Sie verspricht, sich so schnell wie möglich zu melden. Offenbar ist sie sehr erleichtert, dass ich mich gemeldet habe.
»Ich rufe ihn gleich an«, sagt sie. »Und werde alles über diese Zeichnungen herausbekommen. Warte nur ab.«
Ich stehe eine Weile vor dem Gästehäuschen und warte auf Julia. Sie sieht verschlafen aus, als sie vor die Tür tritt.
Noch besser. Nichts ist schöner, als schlaftrunken und langsam zu einem wunderschönen Morgen auf Dimö aufzuwachen.
»Wollen wir uns oben auf die Felsen setzen und frühstücken?«, schlage ich vor. »Die Sonne geht bald über dem Wald auf der anderen Inselseite auf. Es sieht so schön aus, wenn ihre Strahlen durch den Nebel dringen.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe schon so viele Sonnenaufgänge beobachtet, ich kann sie gar nicht mehr zählen.«
Wir setzen uns auf die Felsen, von wo aus wir sonst ins Wasser springen. Es ist windstill und frisch. Die Küche hat uns ein Frühstück eingepackt, dazu eine Thermoskanne Kaffee. Während ich die Sachen aus meinem Rucksack hole, fällt mein Blick auf das Holzkreuz, das zwischen zwei Felsen steckt.
»Was zum Teufel soll das denn?«
Das etwa einen halben Meter hohe Kreuz ist aus verwittertem Holz zusammengenagelt worden. Wahrscheinlich Treibholz. Ich hocke mich daneben und streiche mit dem Finger über die raue Oberfläche.
»Was ist das?«, fragt Julia.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Aber es kommt mir unheimlich vor, dass es ausgerechnet jetzt auftaucht.«
Julia fröstelt.
»Glaubst du, dass die Blombergs das aufgestellt haben? Meinst du, die sind auf der Insel?«
»Nein, die sind nicht hier. Es gibt auch sonst genügend religiöse Idioten auf Dimö. Der alte Pfarrer zum Beispiel ist ein Fanatiker.«
Aber sicher bin ich mir nicht. Es könnte natürlich trotzdem eine Botschaft von Hilmer sein. Wenn das so ist, dann hat er jemanden auf der Insel, der für ihn Dinge erledigt. Denn ich weiß genau, dass weder er noch einer seiner Söhne auf der Insel sind. Ich ziehe das Holz aus der Felsspalte und werfe es in einem hohen Bogen ins Meer. Es schlägt auf dem Wasser auf, wird sofort von den Wellen verschluckt, taucht aber gleich wieder auf und schwimmt davon.
»Komm, jetzt wird gefrühstückt«, sage ich, um uns abzulenken.
Julia lacht. Ihre Augen glitzern in dem sanften Morgenlicht, aber ihre Nervosität hat sich nicht ganz verscheuchen lassen.
Wir essen schweigend, während sich die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel drängen und das Meer rosa färben. Julia hat aufgegessen und schenkt sich Kaffee nach. Mit der einen Hand stützt sie sich auf dem Felsen ab, die andere hält den Becher. Vorsichtig schiebe ich meine Hand in die Nähe von ihrer, aber ohne sie zu berühren. Nur fast. Dann füttert sie einen kleinen Spatzen, der uns neugierig beobachtet, mit Brotkrümeln. Ich reibe mir den feinen, feuchten Film vom Gesicht. Der Nebel hat sich gelichtet, nur ein dünner Schleier hängt noch in der Luft, aber über dem Meer haben sich dicke graue Regenwolken aufgetürmt. Ein Sturm zieht auf. Auf Dimö kann es sehr schnell zu einem Unwetter kommen. Ein strahlend schöner Tag kann sich innerhalb von nur einer Stunde in einen gewaltigen Platzregen verwandeln. Dafür gibt es hier mehr Sonnenstunden als auf dem Festland. Mehr Nebel, mehr Sonne, auch heftigere Winde. Einfach mehr Wetter.
»Es wird bald regnen, am besten, wir brechen gleich zu Rakels Haus auf.«
Julia nickt, und wir packen alles wieder ein.
Da klingelt mein Telefon. Maria ist dran.
»Warte, vielleicht möchtest du dir das auch anhören«, sage ich zu Julia und schalte den Lautsprecher an.
»Hast du schon etwas herausbekommen können wegen der Bauzeichnungen?«, frage ich Maria.
»Ja, und du machst dir keine Vorstellungen, Franz, was ich auf mich genommen habe, nur um diese Information zu bekommen. Und vor allem, was ich dann erfahren habe.«
»Und, erzähl!«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn ich bei dir vorbeischaue. Ich habe gerade die Morgenfähre genommen, um meine Eltern auf Dimö zu besuchen, ich könnte gleich da sein.«
Julia nickt.
»Aber erst um elf«, sage ich. »Und danach habe ich zu tun.«
Maria lacht.
»Ich wusste ja schon immer, dass die Welt voller Irrer und Idioten ist, aber dieser hier übertrifft sie alle!«