FRANZ
Auf dem Weg durch den Wald geraten wir in einen Platzregen. Als wir die Pforte von ViaTerra erreichen, nimmt der Niederschlag wieder ab. Es nieselt nur noch. Julia bleibt plötzlich stehen.
»Ich bin ganz sicher, dass Rakel im Haus war und uns hinterhergesehen hat«, sagt sie leise.
Ihre Haare kleben ihr am Kopf, und in ihren Wimpern haben sich Wassertropfen verfangen. Sie ist so schön, dass ich eine unbändige Lust habe, sie an mich zu ziehen. Julia durchschaut mich sofort.
»Hör auf, mich so anzustarren.«
»Möchtest du mit zu mir in die Suite kommen?«, schlage ich vor. »Wir könnten eine heiße Dusche nehmen und uns gegenseitig einseifen.«
»Hör sofort auf! Du hast dich kein bisschen verändert!«, schimpft sie.
Ich versuche es auf einem anderen Weg.
»Willst du lieber in die Sauna? Es gibt eine im zweiten Stock.«
»Idiot.«
»Ich höre da heraus, dass du direkt zurück in deine Unterkunft gehst? Schade. Du weißt ja, dass Maria, die Maklerin, um elf Uhr kommt. Wir werden uns im Gemeinschaftsraum treffen, und – wenn du dabei sein möchtest? Es wird um die Bauzeichnungen gehen.«
Julia nickt, dann biegt sie wortlos ab und geht in Richtung Gästehäuschen.
Ich sollte mich wirklich zusammenreißen, bevor ich solche Sachen von mir gebe. Auf der anderen Seite kann ich meine Fantasie nicht unterdrücken, ihren Körper mit Seife einzureiben. Ein Teil von mir wird sich offensichtlich nie ändern. Ich bin schon immer frech und anzüglich gewesen. Bei dem Gedanken muss ich an mein jüngeres, brutaleres Ich denken, ich war ja eine richtige Naturgewalt. Viele gehen davon aus, dass wir Menschen alle mit denselben Voraussetzungen ins Leben starten. Aber so ist das in Wirklichkeit nicht. Einige sind einfach anders als andere.
Es regnet wieder in Strömen, als Maria den Gemeinschaftsraum betritt, vor ungebändigtem Optimismus sprühend.
»Erzähl, wie lief es mit den Bauzeichnungen?«, frage ich sie.
»Hervorragend!«
Aber da taucht tatsächlich Julia auf, und ich stelle die beiden vor. Sie setzen sich. Marias Parfüm hängt wie eine schwere Wolke über uns, und von ihren Haarspitzen tropft das Wasser auf den Tisch. Sie lacht verlegen.
»Ich freue mich so, dich wiederzusehen, Franz. Bevor wir zur Sache kommen, noch eins. Was ist mit dem Frühlingsfest …«
»Ich sage Elyssa Bescheid, dass du herzlich willkommen bist«, verspreche ich ihr.
Julia sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich habe also wie angekündigt Hilmer Blomberg sofort angerufen«, berichtet Maria. »Es ist zwar sehr früh gewesen, aber die stehen ja zu nachtschlafender Zeit auf, um zu beten. Ich habe ihm mitgeteilt, dass sich der Besitzer doch gegen einen Verkauf entschieden hat. Und dann habe ich ein bisschen über dich hergezogen.«
»War das unbedingt notwendig?«
Sie schmunzelt.
»Auf jeden Fall, er sollte doch denken, dass ich auf seiner Seite bin. Ich habe ihm erzählt, dass ich zwar sehr gläubig sei, bisher aber noch nicht die richtige Kirche gefunden hätte und auch der Schwedischen Kirche kritisch gegenüberstünde, weil die sich nur noch mit Wohltätigkeitsveranstaltungen beschäftigte. Dann deutete ich an, dass ich der Ansicht gewesen bin, eine religiöse Botschaft in den Zeichnungen entdeckt zu haben. Er hat sofort angebissen und war verdammt stolz auf seinen hässlichen Entwurf.«
Sie ist sehr zufrieden mit sich und ihrer Arbeit. Oberwasser zu haben, steht ihr gut, ihre Augen strahlen geradezu. Ich lehne mich vor, ihr Parfum sticht mir in der Nase.
»Nachdem ich Hilmer ein bisschen um den Bart gegangen bin, hat er mir den Sinn und Zweck des Gebäudes beschrieben. Da würdest du nicht im Traum draufkommen …«
Triumphierend hebt sie ihr Kinn in die Luft.
»Du musst uns nicht länger als nötig auf die Folter spannen«, ermahne ich sie.
Julia wedelt ungeduldig mit der Hand.
»Denn von heute an in sieben Tagen will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte …« , sagte Maria mit tiefer, feierlicher Stimme, »… und vertilgen von dem Erdboden alles Lebendige, das ich gemacht habe. «
Mir kommt das sehr bekannt vor, aber es dauert einen Augenblick, bis ich es wiedererkenne. Erstes Buch Mose.
Ich schlage mir mit der Hand auf die Stirn. »Die Arche Noah!«
»Genau! Die haben vor, eine neue Version davon zu bauen.«
»Das meinst du nicht im Ernst?«
Sie nickt besserwisserisch. Julia starrt sie mit geöffnetem Mund an.
»Ihrer Ansicht nach ist es nämlich nur eine Frage der Zeit, bis Gott sich entscheidet, die Menschheit erneut durch eine Sintflut zu vernichten«, erklärt Maria.
»Aber warum sind sie so besessen von der Idee, es ausgerechnet hier in der Heide zu bauen?«, frage ich.
»Sie haben es mathematisch berechnet und herausgefunden, dass die Heide auf Dimö die perfekte Höhe hat, wenn die gigantischen Flutwellen kommen und ihr Haus – also Schiff – mitreißen. Alles Leben auf der Erde wird dann ausgelöscht sein, und sie segeln übers Meer, bis alles wieder getrocknet ist und sie von Neuem anfangen können.«
»Hilmer Blomberg und seine Familie?«, fragt Julia und sieht aus, als würde sie ihren Ohren nicht trauen.
»Ganz genau. Sowie ein paar auserwählte Mitglieder der Ursprungsevangelisten. Viele haben bereits ihr großes Interesse angemeldet, mitfahren zu dürfen.«
Irgendetwas an ihrer Geschichte scheint aber nicht zu stimmen.
»Das mit der Berechnung glaube ich nicht. Die Ursprungsevangelisten verachten alles Wissenschaftliche. Das sind keine Mathematiker, sondern religiöse Fanatiker. Es hat eher etwas damit zu tun, dass die Heide heiliger Boden ist. Und wir sollten herausbekommen, warum das so ist. Karin hat erzählt, dass Hilmer schon seit Jahren versucht, das Land dort zu kaufen. Und auch sein Vater hat das vor seinem Tod getan.«
»Hilmer Blomberg hat angedeutet, er hätte für die ganze Insel konkrete Pläne, er hat es eine Erneuerung genannt. Aber ich mag nicht zu viel herumschnüffeln, damit er nicht misstrauisch wird. Ich könnte mich aber in seiner Gemeinde umhören …«
»Ich weiß nicht«, sage ich skeptisch. »Hilmer ist deren Anführer. Wenn er sagt, dass die Heide als heiliges Land gilt, wird das niemand anzweifeln. Unter Umständen ist er der Einzige, der weiß, warum es so ist. Höchstens noch ein, zwei Eingeweihte. Wir sollten lieber etwas über ihre Gründungsgeschichte herausfinden.«
»Und wofür ist der eingezäunte Pool?«, fragt Julia.
»Das soll ein Teich werden. Sie wollen ein Netz darüber spannen und dort Vögel halten. Ihr wisst schon, verschiedene Tierarten, so wie auf der Arche Noah eben. Sie planen auch Käfige für Säugetiere.«
Das Entsetzen und Staunen stehen Julia ins Gesicht geschrieben.
»Was für Idioten!«, ruft sie. »Und das hat er Ihnen einfach so bereitwillig erzählt?«
»Ja, er war sehr offen und hat mir erklärt, dass sie davon überzeugt sind, der Tag des Jüngsten Gerichts stehe unmittelbar bevor. Er hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich an einer ihrer Zusammenkünfte teilnehme. Um mich zu retten. Oder er erhofft sich einen Vorteil, weil ich den Besitzer beeinflussen kann. Offensichtlich hat er noch keine Ahnung, dass es Karin ist.«
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber es scheint tatsächlich alles zu stimmen. Hilmers Besessenheit, was die Heide betrifft, und dann diese seltsamen Zeichnungen. Das passt wirklich, das ist genauso irre wie die Gemeinschaft selbst. Während mir diese Gedanken und Schlussfolgerungen durch den Kopf gehen, wächst mein Unbehagen. Ich weiß nur zu gut, wozu fanatische Menschen imstande sind. Die Auseinandersetzung mit Hilmer Blomberg und seinen Söhnen ist noch längst nicht vorbei. Sie werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihren Willen durchzusetzen. Und um sich zu rächen.
»Das passt auch zu den Sachen auf ihrer Webseite«, wirft Julia ein. »Bald segeln wir in den Hafen Gottes , steht dort, und daneben ist ein Foto von der Heide abgebildet.«
»Darf ich zum Frühlingsfest kommen?«, sagt Maria unvermittelt und lächelt mich flehend an.
»Aber … das hatte ich dir doch schon zugesichert«, erwidere ich unkonzentriert. »Alle Inselbewohner sind willkommen.«
In Gedanken plane ich bereits meinen nächsten Zug – wie ich mit Marias Hilfe Hilmer überlisten kann. Unter Umständen muss ich nochmal mit ihr ins Bett, aber das ist kein großes Opfer, wenn man bedenkt, wie nützlich sie mir sein kann. Ich lehne mich erneut zu ihr hinüber.
»Ich werde dafür sorgen, dass wir beide an der Tafel nebeneinandersitzen.«
Wir trinken unseren Kaffee und plaudern eine Weile ungezwungen miteinander. Julia und Maria unterhalten sich über Uddevalla, wo Julia aufs Gymnasium gegangen ist. Ich aber höre nur mit einem halben Ohr zu.
Kaum hat Maria uns wieder verlassen, werfen Julia und ich uns vielsagende Blicke zu. Sie ist aufgesprungen und dreht große Kreise im Raum, klopft sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und murmelt vor sich hin. Ich fasse das nicht.
Dann lässt sie sich aufs Sofa fallen.
»Die Arche Noah auf Dimö? Und Hilmer plaudert das einfach so aus? Glaubst du ihr das Ganze?«
»In diesem Fall schon. Diese Spinner können die Bibel in- und auswendig, die könntest du mitten in der Nacht wecken. Die leben in dieser Welt. Die Hälfte der Sachen, die sie tun, würden wir bei anderen als reinstes Irrenhausverhalten bezeichnen.«
»Ich kann es nur nicht fassen«, sagt sie. »Aber jetzt haben wir wenigstens eine Ahnung, wie verrückt die sind.«
»Du weißt aber auch, dass es sie umso gefährlicher macht?«
»Das mag schon sein. Gleichzeitig aber bestätigt es, wie dumm sie sein müssen. Ich habe doch gesagt, dass du sie mit Leichtigkeit überlisten kannst. Sieh dir bloß an, wie viel du in der Zwischenzeit schon über sie herausbekommen hast.«
Die Sonne fällt fast waagerecht durchs Fenster, ein paar widerspenstige Haarsträhnen umrahmen ihr Gesicht wie Goldschimmer. Sie schmunzelt.
»Sag mal, dieses Frühlingsfest. Ich würde sagen, dass Maria sich erhofft, dich betrunken zu machen und mit dir im Bett zu landen.«
»Ich trinke nie so viel, dass ich mein Urteilsvermögen verliere.«
Julias Augen werden ganz schmal.
»Was hast du eigentlich vor, Franz?«
Ich reiße die Hände in die Luft, habe das Bedürfnis, mich Julia gegenüber zu erklären.
»Ich habe keine Gefühle für Maria. Nicht so jedenfalls . Sie ist frisches Blut, das uns ungeheuer nützlich sein kann.«
Julia grinst weiter. Ich winke ab.
»Sie ist ein bisschen verknallt in mich! Und wenn schon!«
»Das ist doch nicht dein Ernst? Du gehst immer davon aus, dass alle dich wollen. Mir ist es vollkommen egal, für wen du solche Gefühle hast. Aber wenn ich euch bei diesem peinlichen Flirten zusehen muss, dann weiß ich nicht …«
Ich sehe, wie die Waagschale in Bewegung kommt, schwankt, ein neues Gleichgewicht findet. Julia scheint tatsächlich ein bisschen eifersüchtig zu sein. Aber das würde sie niemals zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber.