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FRANZ

Im Garten meiner Mutter gibt es eine Stelle, von der aus man das Meer und die Heide sehen kann. Die zeige ich Julia. Sie ist ungewöhnlich still, fast verstummt von Karins Worten und erschüttert über Sillas Verschwinden. Weit draußen beim Leuchtturm liegt ein dünner Nebelschleier, die Wolkendecke darüber ist aufgerissen. Es wird ein schöner Abend. Als junger Mann habe ich hier oft gestanden und war ganz verzaubert davon, dass es immer anders aussah. Die Landschaft befand sich ständig in Veränderung, großartig – und manchmal mit einem Hauch Wehmut.

Karin hat gesagt, dass ich nach der Attacke meines Vaters verstummt war. Da stimmt etwas nicht. Ich war kein schweigsames Kind. Wenn ich mich oft genug auf diese Situation konzentriere, fällt mir vielleicht der genaue Wortlaut dessen wieder ein, was er gesagt hat.

Schweigend machen wir uns auf den Nachhauseweg. Als Julia sich wieder erholt hat, strömen die Worte nur so aus ihrem Mund.

Sie ist fassungslos darüber, dass die Blombergs Silla entführt haben. Ich nicht. Das, was Silla jetzt durchmachen muss, erfahren hunderte von Frauen in der Gemeinde der Ursprungsevangelisten jeden Tag. Hier geht es um etwas Größeres. Das ist eine Lebenseinstellung. Ein erlerntes Verhalten, das seit Generationen wiederholt wird. Manchmal fällt es Julia schwer, das große Ganze zu sehen. Sie macht sich zu viele Gedanken über die Menschen – sogar über mich.

Ihre Wangen sind rosig, und die Wut über die Worte meiner Mutter ist noch nicht verklungen. Sie sorgt sich sehr um Sofia, die am Boden zerstört ist und sich Vorwürfe macht. Sie zählt auf, was wir umgehend unternehmen müssen, um Silla sofort zu finden. Plötzlich bleibt sie abrupt stehen.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Ich bleibe ebenfalls stehen und ziehe sie an mich, ehe sie sich wehren kann. Nur einen kurzen Moment stehen wir Arm in Arm, dann stößt sie mich von sich.

»Hör auf damit!«, faucht sie mich an.

»In dir ist so viel Leben, Julia.«

»Und du bist innerlich tot. Wie kann man so ruhig bleiben? Was dir dein Vater als Kind angetan hat, ist so schrecklich . Und Silla haben sie holen können, weil ich meine Mutter nicht früh genug gewarnt habe.«

»Ich denke da logischer«, erwidere ich. »Außerdem gehöre ich nicht in die Empathie-Mannschaft.«

Julia braucht mich – zum Schutz, und um der Geschichte von den Blombergs auf den Grund zu gehen. Mir gefällt ihre anfänglich absurde Idee immer mehr, meine Art zu denken als Waffe gegen diese Fanatiker einzusetzen. Denn ich gebe zu, dass ich Julia beeindrucken möchte.

»Und, was wird als Nächstes passieren? Was werden sie mit Silla machen?«

Ich seufze. Ich kann mir sehr gut vorstellen, was sie mit Silla machen.

»Sie werden sie bestrafen. Und wenn ich mir die Bestrafung für Onanie ansehe, dann wird die Strafe für Flucht nicht angenehmer sein. Aber dagegen können wir jetzt gerade nichts unternehmen.«

»Hör auf, so kalt und herzlos zu sein. Wo willst du denn hin?«

»Ich wollte Hampus fragen, wie weit er gekommen ist. Seine Hacker-Freundin ist seit heute hier. Komm doch mit.«

»Meinetwegen.«

Wir gehen ein Stück, dann bleibt sie wieder stehen.

»Aber, wie sieht der Plan aus? Was machen wir als Nächstes?«

»Unser nächster Schritt muss von langer Hand geplant sein, wenn wir damit etwas erreichen wollen. Es gibt Leute, die denken, die Zukunft kommt schon von ganz allein. Aber in Wirklichkeit wird sie von tatkräftigen Menschen nach ihren Vorstellungen geformt.«

»Bitte erspare mir dieses gestelzte Geschwafel«, sagt sie und verdreht die Augen.

»Was ich damit sagen will, ist, dass wir doch schon Sachen ins Rollen gebracht haben. Wir haben Quellen und Ressourcen, die für uns arbeiten und die wir möglichst clever einsetzen müssen. Wenn man einen Feind bekämpfen will, ist es sinnvoll, auf ein nicht allzu starres Netzwerk aus Beobachtern und Verbündeten zurückgreifen zu können.«

»Und wie genau kannst du das auf Hilmer und seine Söhne anwenden?«

»Unsere beiden Hacker werden die Filme rekonstruieren. Hilmer hat Maria zu der nächsten Andacht eingeladen. Sie wird mir haarklein davon berichten. Wir haben Anton, der den Überblick über die Fähre und ihre Passagiere hat, und wir haben Patrik Helsing, der eine der einflussreichsten Personen in Schweden ist. Davon weißt du ja schon, du Lauscherin. Du siehst also, wir verfügen über ein gut funktionierendes Netzwerk.«

Das ist meine Expertise. Ich spiele gerne Schach im großen Maßstab, mit Spielfiguren aus Fleisch und Blut. Hilmers Nase zu brechen, entsprach einem Spielzug, bei dem ich einen seiner Bauern geschlagen habe. Nicht mehr und nicht weniger.

»Aber eine ungewisse Variable gibt es da noch«, sagt Julia.

»Und welche?«

»Wie wird Hilmer Blomberg seine Ressourcen einsetzen, jetzt wo sie Silla zurückhaben? Ihm stehen sechs Hooligans zur Verfügung und eine Bande von Anhängern, die er einer Gehirnwäsche unterzogen hat und die ihn blind verehren.«

Genau das macht dieses Spiel für mich erst interessant. Das Unvorhersehbare. Die Ungewissheit, wie der nächste Zug aussehen wird. Ich bin gut darin, das Verhalten der anderen vorauszusagen, und mein Spiel ist unbesiegbar, wenn ich selbst unberechenbar bin. Hilmer aber wird einen Fehler begehen, ganz einfach, weil selbstgerechte Menschen das immer tun. Es ist so arrogant von ihm zu glauben, dass sein hohes Ansehen in der Gemeinde auch für alle anderen Bereiche gilt.

»Das kann ich dir noch nicht beantworten, aber ich arbeite daran. Mir wird schon etwas einfallen. Ich glaube, wir beide könnten ein bisschen Abwechslung vertragen«, sage ich, als ich sehe, dass sie zittert.

»Ich weiß nicht. Aber es fühlt sich an, als würden tausend Ameisen in mir herumkrabbeln.«

»Wollen wir heute Abend schwimmen gehen?«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein, überhaupt nicht. Kurz vor Sonnenuntergang wird das Meer golden. Dann ist es, als würde man in Gold schwimmen.«

»Wie kannst du jetzt bloß ans Schwimmen denken?«

»Wenn das Gehirn immer dieselben Pfade nimmt, nutzt es sich ab, die Gedanken werden monoton, und man ist weniger effektiv.«

»Ich werde nicht mit dir allein schwimmen gehen«, sagt sie und schiebt trotzig ihr Kinn vor.

»Aber vielleicht sollte einer meiner Angestellten schwimmen gehen, um seinen Schweißgeruch endlich loszuwerden.«

»Mal sehen. Komm, lass uns zu Hampus gehen und hören, was er Neues hat.«

Er befindet sich in einer der Suiten, die er in einen Ort der Hölle verwandelt hat. Die Gardinen sind zugezogen, uns blendet das psychedelische Licht der Monitore. Überall türmen sich benutztes Geschirr und halbvolle Kaffeebecher. Der Mülleimer quillt über, und die Luft ist zum Schneiden. Ein stechender Schweißgeruch schlägt uns entgegen. Ich drehe mich zu Julia um: »Verstehst du jetzt, warum es für jemanden eine gute Idee wäre, schwimmen zu gehen?« Julia rümpft die Nase, aber Hampus hat den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden.

Die junge Frau im Rollstuhl stellt sich als Cornelia Edman vor, ist zwischen fünfundzwanzig und dreißig und sieht erfrischend wenig durchgeknallt aus. Sie hat langes kupferfarbenes Haar, schöne Augen und ein paar Sommersprossen auf der Nase. Sie passt überhaupt nicht zu meinem Bild einer Hackerin – keine Piercings in der Unterlippe oder Tattoos auf der Stirn. Wir geben uns die Hand, und ich stelle ihr Julia vor.

»Bevor du loslegst – ich schicke euch eine Reinigungskraft vorbei, die aufräumt und lüftet, und danach erwarte ich, dass du hier für Ordnung sorgst, Hampus.«

»Ich werde schon dafür sorgen, dass es ordentlich aussieht«, sagt Cornelia und zwinkert mir zu. »Hampus ist vielleicht ein bisschen durchgedreht, als er hier allein gearbeitet hat. Aber jetzt bin ja ich da, und ich bin ein Sauberkeitsfreak.«

Für einen kurzen Moment fühle ich mich stark zu ihr hingezogen. Sie wirkt authentisch, intelligent, und ich habe den absurden Gedanken, dass uns etwas verbindet.

»Ich hoffe sehr, dass es nicht zu anstrengend ist, mit dem Rollstuhl über das Gelände zu kommen«, sage ich. »Ich habe die Suite, in der du untergebracht bist, behindertengerecht einrichten lassen.«

»Das wird schon gehen«, sagt sie. »Ich kann mit dem Kerl hier ganz gut umgehen und habe auch schon schwierigeres Terrain bewältigt.«

»Cornelia konnte bereits eins der Videos wiederherstellen«, meldet sich Hampus zu Wort. »Aber wir wollen euch am liebsten gleich mehrere auf einmal zeigen können.«

»Was ist denn auf diesem zu sehen?«, fragt Julia.

»Darin muss ein kleines Mädchen die Schöpfungsgeschichte aufsagen, und ihr wird jedes Mal mit dem Lineal auf die Finger geschlagen, wenn sie ins Stocken gerät«, berichtet Hampus.

»Oh, Gott, wie widerlich«, stöhnt Julia. »Ich glaube, ich kann heute keine Kindesmisshandlung ertragen. Weder sehen noch hören.«

Julia und ich gehen tatsächlich abends bei Sonnenuntergang baden. Sie achtet zwar die ganze Zeit über penibel auf Abstand, aber ich sehe ihr an, wie sehr sie es genießt. Wie angekündigt verwandelt sich die Meeresoberfläche in flüssiges Gold. Julia scheint das kalte Wasser nicht zu stören, sie taucht, kommt wieder hoch und lacht ausgelassen und glücklich. Mir wird ganz warm in der Brust. In Julia lebt so viel Güte und Liebe, dass es ihr sogar gelingt, die zarte Flamme zu entfachen, die tief in meinem Inneren verborgen ist.

Der Teufelsfelsen, der höchste Felsen von allen, streckt seine mürrische Nase übers Meer. Man kann den Teufel deutlich sehen, mit seinen Hörnern und allem. Ich muss an Vic denken, meinen Sohn. Dort hat er gestanden, in der letzten Nacht seines Lebens. Der Wind hat ihn bei seinem Sturz gegen die Felsen geschleudert.

Das Leben kann sich von einem Moment zum nächsten verändern, unwiederbringlich. Gerade war ein wichtiger Teil deines Lebens noch da, und in der nächsten Sekunde ist er für immer verloren.

Meine Augen brennen, ich blinzele. Ist es das Salzwasser? Ich unterdrücke ein fremdes, unheimliches Lachen, das wie aus dem Nichts kommt. Das sind doch alles Anzeichen dafür, dass ich verrückt werde. Ich heule wegen Kleinigkeiten, lache über Dinge, die eigentlich traurig sind.

»Was ist los, Franz?«, fragt Julia.

Ich mache ein paar Schwimmzüge, reiße mich wieder zusammen.

»Nichts weiter«, erwidere ich. »Nur eine alte Erinnerung, über die ich aber heute Abend nicht sprechen mag.«