FRANZ
Wir zeigen Emil und Kurt doch nicht sofort die Filme, von denen wir gesprochen haben, weil es das schöne Essen verderben würde. Stattdessen machen wir einen Spaziergang zurück in den Ort, wo uns Emil seine kleine Kirche präsentiert. Sie stammt aus dem 16. Jahrhundert und hat ein mit biblischen Motiven bemaltes Holzgewölbe. Auf den Fresken bedrängen Teufel schöne Frauen, und man sieht Tiere im Garten Eden herumlaufen. Die Decke ist mit Wolken und Engeln versehen. Julia ist ganz überwältigt.
Ich muss schmunzeln, weil ich mich genau daran erinnere, wie ich als Jugendlicher nachts in die Kirche eingedrungen bin, um eine der Fresken zu bekritzeln. Ich habe die Taktik der Kirche verachtet, ihre Gläubigen mit Angst und Schrecken an sich zu binden. Die Schmierereien konnten zwar entfernt werden, aber sie haben es mir nie nachweisen können. Und doch wussten alle, wer es gewesen ist.
Emil erzählt uns, dass viele Kirchen in Westschweden im 18. Jahrhundert umgebaut wurden und ein solches Holzgewölbe bekamen. Er schenkt Julia ein kleines Heft mit der Geschichte des Kirchengebäudes für unsere Bibliothek. Danach gehen Julia und ich zum Hafen, weil ich ihr das Segelboot zeigen will, das ich Thor zum Abitur schenken werde. Ich überrede sie, einen kleinen Segeltörn mit mir zu machen.
»Komm schon! Nur eine kurze Probefahrt. Ich kann dir noch ein paar Kniffe beibringen.«
Das war genau das Richtige.
»Du kannst mir nichts mehr beibringen«, schnaubt sie. »Ich kann schon segeln!«
Das Boot ist ein Mälar 22, eine richtige Schönheit aus Mahagoni, das wie ein Rasiermesser durchs Wasser zieht. Es ist für einen Segelanfänger wie Thor zwar viel zu anspruchsvoll, aber Julia ist in der Lage, es elegant zu bedienen, und so wird sie es ihm schnell beibringen. Sie ist betörend in ihrem Bestreben, mir ihr Können vorzuführen. Wir bewegen uns synchron, zwischen uns besteht ein natürlicher Rhythmus, und ich genieße dieses Gefühl. Sie ist ungeschminkt, ihre Wangen sind rosig. Die Meeresbrise peitscht ihr offenes Haar in alle Richtungen. Meine Gedanken gehen mit mir durch. Das nächste Mal lege ich an einer kleinen Schäreninsel an und werde sie mit geteerten Hanfseilen in der Kajüte fesseln, so wie sie es mit mir gemacht hat. Dann werde ich sie ausziehen und … eine Stimme in meinem Hinterkopf knurrt warnend. Ich sage ihr, dass sie zur Hölle fahren soll. Aber die Stimme lacht mich nur höhnisch aus.
Stattdessen konzentriere ich mich auf meine Rachepläne, wie ich Hilmer Blomberg am besten erniedrigen und vernichten kann. Mir geht es schlagartig viel besser, und ich kann Julia den Rest des Tages meine ungeteilte Aufmerksamkeit geben. Wir essen eine Kleinigkeit in dem Café am Marktplatz, bleiben lange dort sitzen und unterhalten uns. Dann unterbricht sie mich plötzlich mitten im Satz.
»Sag mal, hast du heute frei? Musst du nicht zur Arbeit?«
Ich lache laut los.
»Die Grenze zwischen meinem Privatleben und meiner Arbeitswelt ist fließend«, sage ich. »Aber die beiden Welten befruchten sich gegenseitig.«
»Manchmal sind deine Vergleiche wirklich bescheuert«, sagt sie und verdreht die Augen.
»Das ist meine Weise, es dir zu erklären.«
»Was machst du eigentlich beruflich? Wie kannst du dir dieses Anwesen und die vielen Angestellten leisten?«
»Ich habe eine stattliche Summe von meinem Vater geerbt und lasse sie für mich arbeiten. Ich habe Leute engagiert, die das Geld in meinem Namen investieren, damit das Kapital weiterwächst. ViaTerra hat vor der Katastrophe Gewinn abgeworfen, und dieses Geld und die Dividende verwende ich für den Unterhalt der Anlage.«
»Ist das denn alles legal?«
»Ganz legal. Wenn du dem Gerede nicht so viel Glauben schenken würdest, könntest du aufhören, in mir andauernd das Böse zu sehen. Mach dir ein eigenes Bild auf der Grundlage deiner Erfahrungen.«
Sie sieht mich nachdenklich an.
»Ich werde aus dir nicht richtig schlau, Franz. Man weiß nie, woran man bei dir ist. Deine Worte hören sich immer wie Wahrheiten an.«
Sie senkt den Blick, lächelt verstohlen.
»Machst du dir wegen mir Sorgen, Julia? Zumindest ein bisschen, oder?«
»Ich wünsche dir, dass dich deine Vergangenheit nicht mehr so quält.«
»Das tut sie gar nicht«, behaupte ich. »Ich bin ein Hedonist.«
»Ich habe leider vergessen, was das bedeutet.«
»Das ist jemand, der das Gute im Leben genießt«, sage ich.
»Oder jemand, der gierig ist. Nach Geld, Macht, Sex und überflüssigen Abenteuern.«
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen und stecke auch Julia damit an.
Den Rest des Nachmittags über vermeide ich es, über die Ursprungsevangelisten zu sprechen, und sage, wir sollten unsere Köpfe auslüften. Ich habe nämlich vor, Julia zu beeindrucken, indem ich herausbekomme, was es mit dieser Rebecka Sterner auf sich hat. Sie muss eine wichtige Rolle spielen, sonst hätte unsere menschenscheue Einsiedlerin Rakel nicht das große Risiko auf sich genommen, uns diesen Namen zuzuspielen.
Am nächsten Morgen stehe ich um halb sieben auf, dusche und rufe meine Mutter an.
»Du bist ja ein richtiger Frühaufsteher geworden, Franz.«
»Morgens kann ich besser denken. Sag mal, kennst du eine Rebecka Sterner?«
»Nein, aber es gibt eine Rebecka Andersson hier auf der Insel. Sie ist mit Stig Andersson verheiratet. Vielleicht meinst du die?«
»Und kennst du sie?«
»Nein, gar nicht. Ich habe sie nur ganz selten auf der Insel gesehen, bloß wenn sie ihre Schwester im Sommer mal besucht hat. Aber jetzt hat sie Elsas Haus übernommen und es renoviert.«
»Elsa Granlund?«
»Ja, sie hat das ganze Jahr über auf Dimö gewohnt, musste dann aber in ein Seniorenheim aufs Festland ziehen. Diese Rebecka hat eine Ewigkeit lang das Haus renoviert. Ich glaube, die sind gerade erst vor Kurzem eingezogen.«
Ich bedanke mich und lege auf. Rebecka – kein ungewöhnlicher Name. Dimö ist wie ein Magnet. Man verliebt sich in die Insel, wird gezwungen, sie zu verlassen, wird wieder magisch von ihr angezogen. Ich entscheide mich, auch Kurt anzurufen. Die meisten Inselbewohner stehen früh auf, es war ein Fehler, dass wir ihn nicht schon vorher nach Rebecka Sterner gefragt haben.
»Vielen Dank für das schöne Gespräch gestern«, sage ich. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?«
»Ich habe zu danken – vor allem für das großartige Essen. Keine Sorge, ich bin schon wach, allerdings kann ich ohne meinen Kaffee noch nicht klar denken.«
»Schade, weil ich Sie etwas fragen wollte. Kennen Sie eine Rebecka Sterner?«
Zuerst herrscht Schweigen in der Leitung, dann holt Kurt scharf Luft.
»Wissen Sie was? Ich glaube, Gunnar Blombergs Kindermädchen hieß Rebecka Sterner. Sie hat sich vor allem um den Jüngsten gekümmert, den Nachzügler Aaron. Sie heißt jetzt Andersson und ist in das Haus ihrer Schwester gezogen, nachdem sie es umgebaut und zum hässlichsten Haus auf Dimö gemacht hat. Aber so etwas darf man ja nicht laut sagen.«
»Sind Sie nicht der Meinung, dass das eine sehr wichtige Information für uns ist, Kurt?«
»Nein, eigentlich nicht. Warum sollte das Kindermädchen von Bedeutung sein?«
»Weil sie uns wertvolle Details verraten kann.«
Das ist unbestreitbar, vor allem vor dem Hintergrund, dass Rakel sich die Mühe gemacht hat, sich Zugang zu meinem Anwesen zu verschaffen, um uns diesen Hinweis zu geben.
»Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich manchmal ein bisschen träge bin … im Kopf«, entschuldigt sich Kurt.
»Macht nichts. Wir hätten Sie auch direkt danach fragen können.«
»Ich kann Ihnen aber sagen, wo das Haus steht.«
»Das ist nicht nötig, ich kenne jedes einzelne Haus auf Dimö«, sage ich und ärgere mich, dass ich nicht wusste, dass Rebecka auf der Insel lebt. Denn ich bin sehr stolz darauf, dass ich die gesamte Bevölkerung kenne.
»Dann möchte ich Sie nicht länger stören, Kurt. Schön, dass Sie sich an Rebecka erinnern können. Sie sind doch nicht so ein Trottel.«
Das bringt ihn zum Lachen.
Ich sehe aus dem Fenster. Die Sonne durchflutet das Anwesen. Ihre Gleichgültigkeit den menschlichen Bestrebungen gegenüber ist einzigartig. Wir können Berge verschieben, aber es ist sinnlos, die Sonne beherrschen zu wollen. Heute ist sie stark und erwärmt den Boden, sodass der nächtliche Regen verdampfen kann. Das Grün der Blätter verleiht dem Garten einen besonderen Schimmer, als wäre die Sonne in jeden Grashalm gedrungen, in jedes einzelne Blatt.
Als ich mich gerade wieder abwenden will, hält mich mein Unterbewusstsein zurück. Da sehe ich Cornelia in ihrem Rollstuhl über den Hof von ihrer Suite in die Arbeitssuite fahren.
Da weiß ich auf einmal, was ich mit diesem Morgen anfangen werde.
Cornelia ist überrascht, als ich kurz darauf in der Tür stehe. Aber sie freut sich über meinen Vorschlag, mit mir einen Ausflug in den Ort zu unternehmen. Mein Angebot ist allerdings nicht ganz uneigennützig. Ich habe etwas zu erledigen. Wer kann schon einer Behinderten einen Wunsch abschlagen?
Auf dem Weg in den Ort plaudern wir. Es ist leicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie ist unverstellt und hat einen sehr ausgeprägten Göteborger Dialekt, was ihre Worte manchmal wie ein Lied klingen lässt, manchmal wie Peitschenhiebe. Außerdem ist sie klug und hat Humor. Ihr Haar fliegt im Fahrtwind wie ein kupferfarbener Vorhang. Die Bäume in der Allee stehen in vollem Grün und bilden einen leuchtenden Tunnel. Die Vögel fliegen über uns und verschwinden zwischen den Zweigen. Auf der Landstraße bleibe ich ab und zu stehen und zeige ihr die besonders schönen Aussichten.
»Ich kann selbst fahren, Franz«, sagt sie.
»Klar, das weiß ich doch, aber heute sollst du nur sitzen und genießen. Du weißt schon, dass es auch elektrische Rollstühle gibt?«
»Logo. Aber wo bleibt dann die Herausforderung?«
»Setzt du es manchmal irgendwie ein, dass du im Rollstuhl sitzt?«, frage ich.
»Meinst du, um das Mitleid der anderen zu ergattern? Nein, wirklich nicht«, schnaubt sie.
»Das solltest du aber.«
»Das musst du mir erklären.«
»Ich hatte damals jemanden, der mich im Rollstuhl durch die Gegend gefahren hat. Das war noch bevor ich sprechen und mich dagegen wehren konnte, weil ich nicht wie ein Gepäckstück transportiert werden wollte.«
»War das Elyssa?«
»Ja, und sie war unkontrollierbar. Wenn sich jemand vordrängelte, machte sie ein Foto von der Person und stellte es ins Netz.«
Cornelia dreht sich zu mir um.
»Das war dir bestimmt schrecklich peinlich, oder?«
»Am Anfang ja. Aber dann zeigte mir Elyssa die Kommentare, die ihre Posts bekommen hatten. Und ehrlich gesagt, das hat alles geändert. Auf einmal hatten die Leute die schweren Vorwürfe gegen mich vergessen. Was ich damit sagen will, ist, dass du aus deiner Situation Kapital schlagen kannst, Cornelia. Denn wer hasst schon Behinderte?«
Cornelia schüttelt den Kopf, als würde sie nicht fassen können, was ich gerade gesagt habe.
»Und was ist dann passiert?«
»Wenige Tage später begannen die Leute, mir nette Sachen zu schreiben. Ich habe sogar Blumen geschickt bekommen. Mein Zimmer sah wie ein Blumengeschäft aus.«
»Aber hattest du keinen Stolz?«
»Ich war doch schon ganz unten, ich musste nur noch nach oben klettern, und Elyssa half mir dabei, obwohl mir ihre Methoden nicht immer gefallen haben.«
»Also, es gibt keine Hatergruppe oder so. Wohin sollte ich deiner Meinung nach denn dann klettern?«
»Na ja, du könntest zum Gesicht einer Kampagne werden, oder eines Vereins, der für die Rechte der Rollifahrer kämpft. Du kannst auf die Diskriminierungen hinweisen und dich gegen die Sparpläne der Regierung wenden, die euch die Unterstützung kürzt. Stell dir doch mal vor, hundert Rollifahrer in der Stadt und du an der Spitze.«
Cornelia gibt ein perlendes Lachen von sich.
»Nein, danke, das ist nichts für mich. Dafür bin ich viel zu zynisch.«
»Verstehe. Dann will ich versuchen, mir etwas anderes einfallen zu lassen. Denn ich betrachte es als eine meiner Aufgaben, anderen dabei zu helfen, ihre Berufung zu finden.«
Cornelia schweigt eine Weile. Dann dreht sie sich zu mir um und hebt ihre gebogenen Augenbrauen.
»Ist es nicht vielmehr so, dass du dir einen Vorteil durch meinen Rollstuhl erhoffst?«, fragt sie. »Wenn wir bei besagter Person vorbeifahren?«
»Das ist keineswegs der einzige Grund, aber du bist schnell, Cornelia. Und das ist erfrischend.«
Wir haben das Haus von Elsa Granlund erreicht, aus dem ein großer Betonklotz mit hohen, ovalen Fenstern geworden ist. Im Garten sitzt eine Frau und sonnt sich. Sie hat weißes Haar und hellblonde Augenbrauen, was die Stirnpartie sonderbar betont. Ihr Gesicht ist fast kindlich, mit runden Wangen und hellen, großen Augen. Sie starrt mich mit leicht geöffnetem Mund an, und ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass sie genau weiß, warum ich gekommen bin.