59

JULIA

Es klopfte an der Tür. Zweimal leicht, einmal hart. Das war Franz.

Julia öffnete und sah in sein geheimnisvoll lächelndes Gesicht.

»Ich habe Neuigkeiten«, sagte er. »Über Rebecka Sterner beziehungsweise Rebecka Andersson, wie sie jetzt heißt.«

»Hast du sie gefunden?«, fragte Julia aufgeregt.

»Nicht nur das. Ich habe sogar schon mit ihr gesprochen. Sie ist in der Tat das Kindermädchen der Blombergs gewesen, so wie Karin es uns gesagt hat.«

»Komm doch rein«, sagte Julia.

Franz ließ sich ins Sofa fallen. Er war außer Atem und hatte Schweißperlen auf der Stirn.

»Bist du gerannt?«, fragte sie.

»Nein, ich habe einen Rollstuhl geschoben.«

Er erzählte ihr von seiner morgendlichen Recherche und wie er mit Cornelia in den Ort gefahren war, um sie aufzusuchen. Rebecka war freundlich und entgegenkommend, sagte aber wiederholt, dass sie leider nichts über ihre Zeit als Kindermädchen bei den Blombergs sagen könnte, weil sie damals eine Verschwiegenheitserklärung hatte unterschreiben müssen. Der Grund dafür war, dass die Andachten der Ursprungsevangelisten Außenstehenden verborgen bleiben sollten. Außerdem hatten sie ihr eine ansehnliche Abfindung gezahlt – sie sollte niemandem gegenüber ein Wort darüber sagen, was innerhalb der Familie vor sich ging.

»Ich habe alles aufgeboten, meine hervorragenden Überredungskünste und meinen Charme, aber sie blieb hart«, sagte Franz, ohne die geringste Spur von Bescheidenheit. »Ist das zu begreifen?«

»Wie hat sie denn darauf reagiert, als du Gunnar erwähnt hast?«

»Das war ihr unangenehm, und sie hat dann den Augenkontakt vermieden.«

»Das heißt, sie weiß etwas.«

»Hundertprozentig!«, sagte Franz und legte einen Arm auf die Rückenlehne. »Hampus hat auch etwas herausgefunden.«

»Und was?«

»Dass sie als junge Frau ganz vernarrt in Kinder gewesen ist. Sie hat babygesittet und wollte Kindergärtnerin werden. Sie hat die Ausbildung dazu in ihrem letzten Jahr bei den Blombergs angefangen. Aber dann hat sie plötzlich alles über Bord geworfen, die Ausbildung abgebrochen und sich einen Job als kaufmännische Angestellte gesucht, wo sie bis zu ihrer Pension gearbeitet hat.«

Julia wusste nicht, worauf er hinauswollte.

»Warum ist das wichtig?«

»Wusstest du, dass untergetauchte Kriegsverbrecher oft die merkwürdigsten Dinge tun? Sie gründen dubiose Unternehmen, schreiben Gedichte oder züchten Vieh.«

»Aber sie ist doch keine Kriegsverbrecherin? Und an einem Bürojob ist doch nichts Verdächtiges?«

»Nein, natürlich nicht. Aber Menschen, die etwas in ihrem vergangenen Leben verbergen wollen, schlagen häufig ganz andere Richtungen ein. In Rebeckas Fall gehe ich davon aus, dass in ihrer Zeit bei den Blombergs etwas passiert ist, weshalb sie ihr Interesse an der Kinderbetreuung verloren hat.«

»Kann es mit Milkas Tod zusammenhängen? Ein traumatisches Ereignis kann sie doch dazu bewogen haben, sich ein anderes Berufsziel zu suchen.«

»Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Milka war vierzehn, und Rebecka war bestimmt nicht mehr für sie zuständig, als es passierte. Sie war für den Jüngsten verantwortlich, für Aaron. Und der Unfall ist ja auch kein Geheimnis gewesen, davon wussten alle. Was allerdings niemand wusste, war, was wirklich bei den Blombergs hinter verschlossenen Türen stattfand.«

Julia versuchte sich vorzustellen, was in dem gruseligen Haus alles passiert sein konnte, aber ihre Fantasie erzeugte nur grauenvolle Bilder.

»Wie sollen wir sie überzeugen, dass sie mit uns spricht?«, fragte sie.

»Das wird deine Aufgabe sein. Es wird Zeit für einen Besuch bei Rakel.«

»Soll ich da etwa allein hin?«, fragte sie ängstlich.

»Sie scheint dir doch etwas mitteilen zu wollen. Ich glaube, deine Chancen könnten größer sein, wenn du allein bist.«

»Verstehe. Obwohl mir dieses Haus Gänsehaut macht.«

»Soll ich mitkommen? Ich könnte mich im Wald verstecken und auf dich warten.«

Julia dachte kurz nach. Sie wollte unbedingt weiterkommen und war sich sicher, dass Rakel ihnen dabei helfen konnte. Leider war sie unberechenbar und wahrscheinlich sogar gefährlich.

»Was soll ich ihr denn sagen? Wenn ich die Sache mit Milka anspreche, dreht sie doch wieder durch.«

»Tu das bloß nicht. Bedanke dich für das Tagebuch. Plaudere unbeschwert mit ihr. Und versuch etwas herauszubekommen, was wir einsetzen können, um Rebecka zum Reden zu bringen.«

Schweigend sahen sie sich an. Die Jalousien bewegten sich im Wind. Sie seufzten, beide gleichzeitig.

»Okay«, sagte Julia. »Ich geh hin. Aber ich möchte das allein machen. Das fühlt sich albern an, wenn du dich im Wald versteckst. Ich habe eigentlich keine Angst vor Rakel.«

»Du machst das, was du für richtig hältst. Wann willst du los?«

»Jetzt gleich. Sofort, sonst überlege ich es mir noch anders.«

Das einzige Geräusch, das sie auf ihrem Weg begleitete, war das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen. Dazu gesellte sich tiefer im Wald das Wasser, das sich gegen die Steine im Bach behaupten musste. Bei Rakels Haus angekommen, verstummten alle Laute, sie nahm nur winzige Bewegungen im hohen Gras wahr. Es roch nach Tod und Verwesung. Ob im Garten Leichen vergraben waren? Das würde auf jeden Fall erklären, warum es ihr jedes Mal eiskalt den Rücken hinunterlief, wenn sie vor diesem Haus stand. Die Düsternis war so greifbar, als wäre sie schon Teil der Luft geworden.

Gedankenverloren lief sie in einen großen Strauch Bärenklau, der am Gartenzaun wuchs, und sie quietschte vor Schreck. Dann ging sie durch die Gartenpforte und bemerkte sofort, dass die linke Hälfte des Gartens gemäht worden war. Gras und Unkraut lagen auf einem großen Haufen zum Trocknen da und strömten einen süßlichen Geruch aus. Rakel hatte angefangen, sich um ihren Garten zu kümmern.

Julia ging bis zur Haustür und stand einen Augenblick lang unschlüssig auf der Treppe, wollte sich auf die Begegnung vorbereiten. Ihr Herz schlug laut. Ihr Blick wanderte zum Giebel hinauf, sogar dort spürte sie die Traurigkeit, die sich auch in den moosbedeckten Dachschindeln festgesetzt hatte. Als hätte sich das Haus im Winterschlaf befunden und würde mit unterkühlter Abwehr auf ihr Eindringen reagieren. Hoffentlich hatte Rakel einen ihrer guten Tage.

Und dann wurde die Tür so überraschend aufgerissen, dass Julia zurückwich. Rakel stand reglos vor ihr und sah sie an.

»Oh, hast du mich erschreckt«, stöhnte Julia.

»Wie dumm von mir. Möchtest du reinkommen?«

»Ja, ich wollte mich für das Tagebuch bedanken und für den Hinweis … auf Rebecka, und wenn …«

Die Worte purzelten nur so aus ihrem Mund heraus.

»Ja, ja, schon gut«, unterbrach sie Rakel. »Das ist bestimmt nicht der einzige Grund für deinen Besuch heute, oder? Komm doch rein. Ich habe frischen Rhabarbersaft gemacht, der Rhabarber wächst hinterm Haus und ist so groß wie Palmen. Ich kann mich wirklich von meinem Unkraut ernähren. Magst du Rhabarber lieber als Brennnesselsuppe?«

Sie wirkte viel weniger angespannt als bei ihrem letzten Besuch. Als würde sie eine Maske tragen. Ihre weißen Haare hatte sie zu einem Dutt gebunden, ihre blauen, klaren, tiefliegenden Augen sahen Julia durchdringend an. Die erinnerte sich daran, dass die Adern an Rakels Schläfen bei ihrem Anfall angeschwollen waren. Aber jetzt wirkte die Haut ganz glatt.

Sie gingen in die Küche, Julia setzte sich an den Tisch, auf dem ein Spitzendeckchen lag, das nach Mottenkugeln roch. Darauf stand eine Vase mit wunderschönen Wildblumen. Vielmehr Unkraut. Disteln, Kamille und wilde Veilchen. Rakel brachte eine Karaffe und Gläser und schenkte ihnen ein. Julia konnte keine Ähnlichkeit zu Hilmer erkennen, der kräftig gebaut war, bärtig war und eine riesige Nase hatte, wenn Franz davon noch etwas übriggelassen hatte. Rakel war eher feingliedrig und hellhäutig. Ihre Unterarme schmückten goldene Härchen.

»Habt ihr Rebecka gefunden?«, fragte sie.

»Ja, sie ist gerade auf die Insel gezogen«, antwortete Julia. »Allerdings heißt sie jetzt Andersson.«

»Das hätte ich erwähnen können, aber ich war nicht ganz bei mir, als ich den Zettel geschrieben habe.«

»Franz ist zu ihr gegangen. Aber sie weigert sich, darüber zu sprechen.«

»Das habe ich vermutet«, sagte Rakel. »Was für ein Glück, dass du heute gekommen bist. Denn heute ist ein guter Tag für mich. Genau genommen geht es mir besser, seit ich in Franz’ Palast eingebrochen bin. Himmel, was habe ich bloß für einen Eindruck gemacht?«

»Wir haben es so verstanden, dass du uns unbedingt etwas sagen wolltest. Du kannst es jetzt versuchen, wenn du magst.«

»Vielleicht bin ich ja doch auf dem Weg der Besserung. Und vielleicht kannst du mir dabei helfen. Aber ich werde nicht erzählen, was hier vorgefallen ist, das muss Rebecka tun. Das ist besser so, das wirst du bald verstehen.«

Während sie sprach, sah sie auf ihre gefalteten Hände und hob nur ab und zu den Kopf.

Julia nickte ihr aufmunternd zu, damit Rakel weitersprach.

»Die Geschichte von mir und meiner Schwester Milka darf niemals erzählt werden«, sagte sie und verzog das Gesicht wie im Schmerz. »Ich habe ein paar Mal versucht, sie aufzuschreiben, aber der Stift blieb immer am Papier kleben, und am Ende habe ich die Seiten verbrannt. Wenn ich darüber sprechen möchte, fühlt es sich immer so an, als würde eine andere Person die Herrschaft über meinen Körper übernehmen. Außerdem würde mir ohnehin niemand glauben, meine Worte sind bedeutungslos, ich gelte bei allen als verrückt und unzurechnungsfähig. Aber ich kann dir dabei helfen, Rebecka unter Druck zu setzen. Sie weiß alles. Und wenn Rebecka gesteht, habt ihr auch etwas gegen Hilmer in der Hand.«

»Hilmer?«, wiederholte Julia überrascht. »Du meinst Gunnar, deinen Vater?«

»Mein Vater ist zum Glück tot«, sagte Rakel mit kalter Stimme.

»Das bedeutet, dass auch Hilmer mit der Sache zu tun hat?«

»Er ist ein Abbild seines Vaters. Gunnar war davon besessen, andere zu quälen, und hat immer behauptet, dass es nur zu ihrem Besten sei. Sein Glaube basierte auf der Überzeugung, dass der Mensch lernen kann, die schlimmsten Prüfungen zu ertragen. Wie die armen Teufel im Ersten Buch Mose. Und Hilmer ist ganz genauso.«

»Und was hat Rebecka damit zu tun?

»Rebecka ist eiskalt und herzlos. Sie hat ihre Macht uns gegenüber erbarmungslos ausgespielt.«

Julia war fasziniert davon, wie klar Rakel sein konnte und sich schon kurz darauf nicht mehr unter Kontrolle hatte. Aber ihr schien es jetzt wirklich besser zu gehen. Also musste Julia ihre Fragen stellen, solange der Zustand anhielt.

»Warum hat Milka in ihr Tagebuch an einigen Tagen den brennenden Dornenbusch gezeichnet?«

Rakel schüttelte den Kopf, sank in sich zusammen.

»Sie hat darüber gelesen und hat Trost darin gefunden. Sie behauptete, dass sie ihn als Zeichen gesehen hatte, als eine Offenbarung, jedes Mal, wenn etwas Schreckliches passiert ist. So konnte sie sich einreden, dass die Dinge, die Gunnar ihr antat, nicht einfach nur abstoßend waren, sondern Teil von etwas Größerem und Heiligem.«

»Und was hat er getan?«

»Das wird dir Rebecka erzählen, wenn du deine Karten klug spielst.«

»Wie soll ich sie denn zum Reden bringen?«

Rakel stand auf und verschwand aus dem Zimmer. Julia lauschte dem Knarren der Dielen. Als sie zurückkam, hatte sie einen Briefumschlag in der Hand, den sie Julia gab.

»Darf ich gleich nachsehen?«, fragte sie.

Rakel nickte.

Julia holte ein Foto aus dem Umschlag und legte es auf den Küchentisch. Es war schwarzweiß und leicht vergilbt. Auf dem Foto sah man einen älteren Mann mit einer jungen, nackten Frau, die auf allen vieren vor ihm kniete und ein Seil um den Hals hatte. Der Mann hielt das Seil in einer Hand und sah mit lüsternem Blick und unheimlichem Lächeln in die Kamera. Julia musste schlucken.

»Was ist das?«

»Ich würde sagen, so hat früher Pornographie ausgesehen. Und das sind Gunnar und Rebecka.«

»Rebecka? Das Kindermädchen?«

»Ja, und ich habe noch mehrere Abzüge davon. Haufenweise. Gunnar hat damals wie wild fotografiert und gefilmt, immer solche Motive, und am liebsten mit sich selbst in der Hauptrolle. Er hat seine Sammlung hier im Haus versteckt und schaffte es nicht, sie zu zerstören, bevor es ihn erwischt hat. Ich will dir noch nicht alle Aufnahmen zeigen, aber diese eine wird Rebecka überzeugen, kooperativ zu sein.«

Das Foto war abstoßend, keine Frage. Auf der anderen Seite gab es viele Menschen, die sich für SM -Praktiken interessierten und sich dabei filmten. Aber sie spürte, dass dieses Foto nur der Anfang von etwas Größerem war.

»Hat er sie gezwungen, da mitzumachen?«, fragte Julia,

»Nein, das war freiwillig. Er hat sie gut dafür bezahlt, bei seinen Spielchen mitzumachen.«

»Aber was sollen diese Fotos dann beweisen?«

»Hier haben wesentlich schlimmere Sachen stattgefunden, und Rebecka war daran beteiligt. Die scheinheilige Tante wird alles tun, um die Verbreitung der Fotos zu verhindern. Du sollst sie damit zwingen, die Wahrheit zu sagen.«

»Weißt du, wer diese Fotos gemacht hat?«

»Dreimal darfst du raten«, erwiderte Rakel geheimnisvoll.

»Hilmer?«

»Ganz genau. Erzogen in dem religiösen Geist seines Vaters«, murmelte sie verächtlich.

Rakel blinzelte, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Aber sie fing sich wieder, lehnte sich vor und legte eine Hand auf Julias Arm. Eine warme, trockene Hand.

»Hier draußen gibt es nicht so viel zu tun, vor allem im Winter«, sagte sie. »Deshalb vertreibe ich mir an guten, normalen Tagen die Zeit mit dem Lesen von spannenden Artikeln im Netz. Ich würde fast sagen, dass mich dieser Kontakt zur Umwelt von dieser religiösen Gehirnwäsche befreit hat. Ich habe alles von dir gelesen. Dein Interview mit meiner Nichte Silla aber hat mich dazu bewogen, etwas zu unternehmen und mit dir Kontakt aufzunehmen. Hoffentlich ist es nicht zu spät für das arme Ding. Vielleicht können wir etwas wiedergutmachen … für meine Schwester.«

Rakel wirkte schlagartig müde und erschöpft, als hätte sie das Gespräch sehr viel Kraft gekostet.

»Ich glaube, das reicht für heute«, sagte sie.

Julia nickte.

»Ich verspreche, dass ich alles tun werde, um diese Sache aufzuklären. Darf ich wieder vorbeikommen, wenn ich mit Rebecka gesprochen habe?«

»Natürlich«, sagte Rakel und lächelte, aber ohne Freude im Ausdruck. »Und sollte ich mich dann komisch verhalten, kommst du einfach einen Tag später. Schön, dass du da gewesen bist.« Sie wirkte so bedrückt und beschwert wie ihre Worte über ihre Vergangenheit.

Julia drückte auf dem Rückweg den Umschlag mit dem Foto fest an ihre Brust. Was war damals in diesem Haus passiert? Sie wollte alle Fotos sehen, die Rakel aufgehoben hatte. Vor allem wollte sie Rebecka Andersson damit konfrontieren. Am liebsten sofort. Da meldete ihr Handy, dass sie eine SMS erhalten hatte. Von Kurt. Vertrag gefunden , lautete sie.