JULIA
Sie setzte sich auf einen Stein am Wegesrand und antwortete Kurt auf seine SMS : Schicken Sie mir bitte ein Foto davon? Erst da merkte sie die Anspannung in ihrem Körper. Ihre Rippen und Schultern taten ihr weh. Sie versuchte sich zu entspannen, aber das fiel ihr schwer. Das ging ihr alles zu schnell. Rakels Worte arbeiteten in ihr weiter.
Kurts Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Das sogenannte Programm bestand lediglich aus einer einzigen Seite, die in einer sehr ordentlichen Handschrift verfasst worden war. Sie las, ihre Hand legte sich intuitiv auf ihre Lippen, sie las es ein zweites Mal, stöhnte auf.
Programm
Zurechtweisung aufsässiger Mädchen
Onanie: Zum Schein Ertränken im Wassertrog und Aufsagen von Bibelzitaten.
Aufsässigkeit und Lügen: Erde essen, um die Unsittlichkeit aus dem Mund zu entfernen, und einen Tritt auf den Kopf versetzen, wie der Schlange im Paradies.
Verrat am Vater, Ehemann, Bruder: Diese Frauen sollen in einen Zustand versetzt werden, der unstet und flüchtig ist, wie Gott es mit Kain getan hat. Das kann erfolgen, indem man sie wie ein Tier im Dunkeln ankettet und ihnen einen Tag und eine Nacht lang Essen und Trinken verweigert.
Andere Vergehen: Wenn die Unsittlichkeit eines Mädchens zu groß ist und ihre Absichten und Gedanken zu niederträchtig und böse, und alle Taten durch und durch verwerflich sind, dann soll sie vom Meer, vom Fluss oder vom See überflutet werden. Das ist Gottes Wille. Das hat er getan, um die Menschheit für ihre Verfehlungen zu bestrafen.
Das hatten sie in den Filmen gesehen. Ein perverser Irrer hat diese Strafen vor fünfzig Jahren auf ein Stück Papier geschrieben, und die Mitglieder der Ursprungsevangelisten hielten sich auch heute noch daran und filmten ihre Versionen davon. Wie war so etwas möglich? Diese armen Mädchen und Frauen, die in ständiger Angst leben mussten. Die Strafen erinnerten an die Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts, in denen Frauen zum Eisbaden gezwungen, gefoltert und in Isolationshaft gesteckt wurden.
Sie konnte nicht mehr stillsitzen und sprang auf. Die Schmerzen verschwanden zwar nicht, aber sie waren auszuhalten. Sie musste unbedingt sofort mit Franz sprechen. Ihr Ziel war dasselbe, was sie sehr erleichterte. Aber sie benötigte seinen scharfen Geist, der unglaublich schnell Zusammenhänge erkennen konnte.
Aber Franz war nirgendwo zu sehen, nicht in seinem Büro, auch nicht im Speisesaal, sie klopfte sogar an seiner Suite an und sah im Fitnessraum nach ihm. Er war spurlos verschwunden. Auf der Treppe traf sie Elyssa.
»Hast du Franz gesehen?«, fragte Julia.
»Nein, seit heute Morgen nicht mehr.« Auch Elyssa klang jetzt besorgt. »Wir waren eigentlich vorhin verabredet, aber er kam nicht und geht auch nicht ans Handy.«
»Vielleicht ist er joggen?«
»Schon möglich. Jetzt, wo du es sagst. Das stimmt, er hat heute früh keinen Sport gemacht. Soll ich ihn suchen?«
»Nein, das mach ich selbst. Er kann ja nicht weit sein.«
Die feuchte, noch blasse Heide hatte an einigen Stellen Platz für üppige Brombeerbüsche gemacht. Überall sah sie grüne Tupfer im Unterholz. Die Luft war satt, und über dem Meer hingen bedrohlich dunkle Wolken. Julia sah ihn nicht sofort, nur eine Familie, die eilig ihre Picknicksachen zusammenräumte. Aber dann bemerkte sie eine Gestalt, hoch oben auf dem Teufelsfelsen. Sie erkannte ihn sofort, obwohl er seinen Kopf in die Hände gestützt hatte. Sie kletterte so schnell sie konnte den steilen Pfad hoch. Oben angekommen sah sie, dass er auf dem Felsen saß, auf dem er seinen Schlaganfall bekommen hatte.
Hilflos musste sie zulassen, wie die Erinnerungen an jenen Abend sie überfielen. Sie konnte den Gesang des Windes und des Meeres hören, die Wellen, die gegen die Felsen schlugen und ihre Gischt bis nach oben schleuderten. Sie hörte den dumpfen Aufprall, als Vics Körper auf dem Felsenvorsprung aufschlug. Und sie sah Franz vor sich, der rücklings stolperte und auf den Felsen fiel, steif und fremd. Seine Hand hatte gezittert, die Augen waren so leer wie die eines Fisches. Einen Moment lang hatte sie damals vergessen, dass Vic gestürzt war. Franz veränderte sich von einer Sekunde auf die andere – gerade noch größer als das Leben, im nächsten Augenblick leblos. Von kraftvoll und unantastbar zu einer menschlichen Ruine. Sofia war plötzlich da, rief den Rettungshubschrauber, der sie ins Krankenhaus brachte. Danach hatte sie ihn sehr lange nicht mehr gesehen. Und jetzt saß er wieder an demselben Ort, den Kopf in die Hände gestützt.
»Franz«, sagte sie vorsichtig.
Er drehte sich zu ihr, sah sie überrascht an.
»Hallo, Julia.« Seine Stimme beunruhigte sie. Er war nicht er selbst.
»Warum sitzt du hier?«, fragte sie.
»Hier ist es so friedlich, anders als in meinem Kopf.«
»Störe ich dich?«
»Nein, überhaupt nicht. Mir ist nur wieder eingefallen, womit mir mein Vater gedroht hat.«
»Du meinst, als kleiner Junge?«
»Ja. Woran ich mich die ganze Zeit nicht erinnern konnte.«
Julia kannte seinen Gesichtsausdruck nur zu gut. So hatte er sie angesehen, als er Thor und ihr den Folterkeller gezeigt und ihnen von den Qualen erzählt hatte. Als würde er im tiefsten Sumpf seiner Erinnerung sitzen. Ein Teil von ihm sprach mit ihr, der andere steckte hilflos in der Vergangenheit fest.
»Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht möchtest«, sagte sie.
»Wem sollte ich es sonst sagen?«
Sein Blick suchte einen Punkt am Boden, dorthin starrte er.
»Er hat gesagt, dass der Folterstuhl eine Schwuchtel aus mir gemacht hat.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er hat gesagt, dass ich einen Pflock im Hintern gehabt habe und ich deshalb jetzt schwul bin. Ich sollte aber lieber niemandem davon erzählen. Die Leute würden mich nur auslachen und mich wie einen Aussätzigen behandeln. Ich glaube nicht, dass ich wusste, was schwul bedeutet, ich war ja erst drei Jahre alt. Aber ich kann mich erinnern, dass es mir Angst gemacht hat. Ich versuche mir die ganze Zeit einzureden, dass ich mir das alles nur einbilde. Aber es war tatsächlich so. Das hat er mir gesagt.«
Julia kniete sich vor ihn und nahm seine Hand. Die war glühend heiß. Und er hatte Schweißperlen auf der Stirn.
»Geht es dir nicht gut?«
»Nein, nicht besonders gut. Ich frage mich die ganze Zeit, was das mit mir gemacht hat. Eine Erinnerung, die so tief in mir verborgen war, muss doch bedeutsam sein …«, sagte er verzweifelt.
»Ja, sehr wahrscheinlich«, erwiderte sie und drückte sanft seine Hand. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, denn er hasste Mitleid. Deshalb beschloss sie, ihm einfach nur zuzuhören.
»Mir ist ein schrecklicher Gedanke gekommen«, fuhr er fort. »Vielleicht habe ich mit meinem Verhalten Frauen gegenüber immer nur beweisen wollen, dass mein Vater nicht recht hatte?«
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was er damit meinte.
»Mit deiner triefenden Männlichkeit?«, fragte sie und versuchte zu lächeln. Aber Franz seufzte nur, sein großer Brustkorb hob und senkte sich. Seine Schwermut hatte sich wie eine zu schwere Decke auf sie gesenkt. Wenn er in dieser Stimmung war, konnte man in seiner Nähe kaum Luft holen.
»Ja. Ich muss mich zusammenreißen, Julia. Wenn ich diese Schwäche nicht bald in den Griff bekomme, dann lande ich wieder in der Klapse.«
Seine Stimme klang hohl, als wäre sein Körper leer.
»Das wirst du nicht, aber ich habe das Gefühl, dass du krank wirst. Du hast Fieber.«
Er versuchte aufzustehen, brach aber wieder mit einem Stöhnen zusammen.
Eine große dunkelgraue Wolke hatte sich über ihnen in Position gebracht, und ein erster Regentropfen traf Julias Kopf. Sie hob den Kopf und bekam die nächsten Tropfen ab. Sekunden später hörten sie, wie der Regen auf die Felsen prasselte. Die dürren Kiefern, die sich in den Felsspalten festklammerten, zitterten nervös. Franz blieb reglos sitzen, ergab sich widerstandslos dem Regen. Sein Körper wurde von Schüttelfrost gepackt.
»Elyssa weiß, was sie tun muss«, murmelte er. »Ruf sie an!«
Julia nahm Franz’ Handy aus seiner Jacke und rief Elyssa an.
»Franz ist sehr krank. Er hat Fieber. Ich bin hier oben auf dem Teufelsfelsen, aber ich kann ihn unmöglich allein den Hang hinunterbekommen.«
»Ich komme und bringe Filip und noch jemanden mit«, sagte Elyssa und legte auf, bevor Julia noch etwas sagen konnte.
Schweigend saßen sie im strömenden Regen und warteten. Julia zog ihre Jacke aus und legte sie Franz um die Schultern, um ihn vor Unterkühlung zu schützen. Er leistete keinen Widerstand.
Um nicht in Tränen auszubrechen, biss sie sich auf die Lippe. Es war so schrecklich. Und traurig. Als sie die Tränen nicht mehr aufhalten konnte, vermischten sie sich mit dem Regen und liefen ihr die Wangen hinunter.