FRANZ
Wir gehen langsam durch den Garten zurück. Der Nebel hat sich aufgelöst, jetzt weht ein leichter Wind, in dem sich das Gras wiegt. Ich kann es nicht genau sagen, aber die Unterhaltung mit Rebecka hängt mir nach. Da stimmt etwas nicht, aber was? Ich schlage mir gegen die Stirn, um meine Maschine in Gang zu setzen.
»Was tust du da?«, fragt mich Julia verwirrt.
»Ich versuche, meine Gedanken zu sortieren, bevor wir losfahren.«
Was stimmt nicht an der Geschichte, die uns Rebecka aufgetischt hat? Ich bin mir sicher, dass Gunnar Blomberg so widerlich war, wie sie ihn geschildert hat. Mich stört eher, wie sie sich selbst darstellt. Ausgenutzt. Erpresst. Unschuldig. Das machen Menschen, die die Fakten so lange verdrehen, bis eine Wahrheit entstanden ist, die ihnen passt. Diese Technik habe ich selbst sehr gut beherrscht. Ihre Version klingt glaubwürdig, ist aber auch komfortabel für sie. Vielleicht war sie wirklich nur ein weiteres Opfer. Oder eben nicht. Sie ist zu dem Zeitpunkt volljährig gewesen, sie hatte die Verantwortung für die Kinder. Trotzdem drückte sie bei dem Missbrauch beide Augen zu. Was hat uns Rebecka verheimlicht? Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass sie lügt. Sie ist überzeugend, klingt aufrichtig. Spielt die Empfindsame, sogar hervorragend. Aber ich traue ihr nicht, ich glaube es ihr keine Sekunde lang. Wenn du dich kennst, erkennst du andere , flüstert mir die Stimme in meinem Kopf zu.
Systematisch gehe ich in Gedanken unser Gespräch durch, als würde ich einen Film abspielen. Der Film stockt, als es um den Selbstmord geht. Jetzt weiß ich es.
»Das Eisloch!«, rufe ich.
»Was ist damit?«
»Warum gab es in dem See ein Eisloch?«
»Das hat sie doch erzählt, Gunnar und Hilmer waren Eisfischen.«
»Eines kann ich dir versichern, Julia. Das Loch, das man zum Eisfischen schlägt, ist nicht so groß, dass ein Erwachsener hindurchspringen kann.«
Ich mache auf dem Absatz kehrt, Julia kommt hinterher.
»Was hast du vor?«, fragt sie.
»Die soll an ihren Lügen ersticken«, knurre ich.
Rebecka hat uns hinterhergesehen und mitbekommen, dass wir umgedreht sind. Sie kommt an die Tür.
»Haben Sie noch eine Frage?« Ihr Äußeres ist beherrscht und unaufgeregt, aber ihre Stimme verrät Verunsicherung. Ich begegne ihr mit meinem durchdringendsten Blick, und sie weicht tatsächlich zurück.
»Wir haben über Ihre Worte nachgedacht und uns entschieden, dass wir Ihnen die Fotos doch nicht aushändigen werden«, verkünde ich.
»Und warum nicht?«, fragt sie bestürzt.
»Weil Sie uns angelogen haben. Es war kein Selbstmord, sondern Mord.«
»Mord? Was reden Sie denn da? Nein, Mord war das wirklich nicht«, sagt sie mit gespieltem Entsetzen und weit aufgerissenen Augen.
»Stimmt, in Ihrer Welt nennt man das wahrscheinlich einen Unfall«, sage ich. »Es ist vermutlich keine Absicht gewesen, dass Milka dabei sterben sollte. Aber wenn man im Winter jemanden kopfüber in ein Eisloch taucht, kann das schon passieren.«
»Ich habe nichts getan«, sagt sie mit plötzlich schriller Stimme. »Ich hatte nichts damit zu tun. Nur die Männer durften die Strafen ausführen. Ich bin unschuldig.«
»Erzählen Sie uns, was passiert ist. Und dieses Mal bitte die Wahrheit«, fordere ich sie auf.
»Das ist kompliziert«, murmelt sie. »Es war nicht mein Fehler, dass …«
»Keine Kunstpausen, bitte. Danke. Sie müssen uns keine Gefühle vorspielen.«
Dann erzählt Rebecka mit fast tonloser Stimme, wie Milka für ihre Schwangerschaft bestraft wurde. Gunnar hatte erklärt, dass es nur zum Schein sein würde. Er hatte sein Regelwerk formuliert und musste es nun um jeden Preis befolgen, besonders, wenn die eigene Familie involviert war. Deshalb hatte Milka, dem letzten Punkt auf der Liste folgend, in einem See zum Schein ertränkt werden müssen. Denn das war die Strafe für die unsittlichen Mädchen und ihre niederträchtigen Absichten. Die offizielle Version sollte lauten, dass Milka rechtswidrigen Geschlechtsverkehr mit einem Jungen vom Festland gehabt hatte. Allerdings würde die Familie das Kind behalten und großziehen.
Bei der Durchführung der Strafe hatte Hilmer Milka festgehalten, und Gunnar hatte ihren Kopf unter Wasser gedrückt. Milkas Mutter Alma, ihre Schwester Rakel und Rebecka hatten zugesehen. Der Kleinste, Aaron, war in seinem Zimmer eingeschlossen worden. Gunnar drückte zu fest, konnte sie nicht festhalten, und Milka rutschte ins Wasser ab. Unter die Eisdecke. Gunnar und Hilmer streckten ihre Arme ins Wasser, um sie zu packen und hochzuziehen. Aber sie war schon versunken. Ihr Körper wurde erst gefunden, nachdem das Eis geschmolzen war und sie ans Ufer gespült wurde.
Die gefühllose Kälte in Rebeckas Stimme hatte sich aufgelöst, jetzt klang sie nur noch unendlich müde.
»Ich hatte gedacht, wir hätten das alles längst hinter uns gelassen. Aber dann fing Rakel an, mir sonderbare Mails zu schreiben«, sagt sie.
»Sind Sie deshalb nach Dimö gezogen? Um ein Auge auf sie zu haben?«, frage ich.
»Nein, nicht nur deshalb. Ich wollte alle Missverständnisse aus dem Weg räumen, die zwischen uns entstanden sind. Ich war das Kindermädchen. Mich kann man nicht dafür verantwortlich machen. Aber Rakel weigert sich, mit mir zu sprechen.«
Julia hat meine Hand gegriffen und drückt sie ziemlich fest. Ich weiß, wie sehr sie unter der Geschichte leidet. Das kann ich kaum aushalten. Aber ich weiß auch, dass Rebecka dieses Mal die Wahrheit sagt. Das kann ich an ihrer tonlosen, kalten Stimme hören. Sie verstellt sich nicht mehr, sondern hat die tatsächlichen Ereignisse wiedergegeben. Emotional berührt sie die Vergangenheit nicht länger, sie will nur die Fotos in ihren Besitz bekommen, um der Demütigung zu entgehen. So verhalten sich Narzissten. Die Erkenntnis, dass wir beide aus einem Schrot und Korn sind, oder zumindest waren , bereitet mir großes Unbehagen.
»Wir müssen das unbedingt der Polizei melden«, sagt Julia.
»Das ist fast fünfzig Jahre her«, windet sich Rebecka. »Es gibt ja auch gar keine Beweise dafür. Ohne mein Geständnis werden Sie nichts erreichen können. Und das bekommen Sie nicht. Es war ein Unfall!«
»Sie irren sich. Es war Mord. Mord!«
»Selbst wenn ich der Polizei schildern würde, was ich gesehen habe, würde Hilmer alles abstreiten. Und kein Staatsanwalt dieser Erde würde nur auf Grundlage meiner Aussage eine Anklage erheben.«
Julias Augen haben eine bedrohliche Farbe angenommen. Sie sieht aus, als tobe etwas Gefährliches in ihr.
»Hm …«, übernehme ich das Wort und wende mich an sie. »Julia, lass uns bitte noch einmal überlegen, in welcher Weise wir die Fotos verwenden können. Du solltest auf jeden Fall einige davon in deinen Artikel mit einbauen.«
Rebecka wird schlagartig leichenblass.
Da lässt Julia meine Hand los und tritt näher an Rebecka heran.
»Denken Sie oft an Milka?«
»Ich habe eine eher rationale Herangehensweise an Dinge. Also, nein, das beschäftigt mich nicht die ganze Zeit.«
»Das sagt eine Menge über Sie aus. Rakel zum Beispiel denkt die ganze Zeit an ihre Schwester. Sie hat nie damit aufgehört.«
»Ja, das tut mir sehr leid für sie.«
Julia macht noch einen Schritt auf sie zu, die beiden trennen nur wenige Zentimeter.
»Sie sind ein schrecklicher Mensch«, sagt Julia. »Rakel hat gesagt, Sie hätten ein kaltes Herz, aber das trifft es nicht gut genug. Ihr Herz ist aus Stein, und es hängt mehr an ein paar erbärmlichen und unappetitlichen Pornobildern als an dem Schicksal der beiden Mädchen, die von ihrem Vater vergewaltigt wurden. Die eine ist ermordet worden, die andere ist bis an ihr Lebensende traumatisiert. Ich hoffe, dass Sie in derselben Hölle brennen werden, von der Hilmer in seinen Predigten spricht.«
Rebeckas Mund steht offen, wie ein Fisch öffnet und schließt er sich, aber es kommt kein Ton heraus.
»Dann wollen wir Sie nicht länger stören«, sage ich. »Wir melden uns wieder.«
Auf dem Weg zum Motorrad flüstere ich Julia zu: »Hast du das alles aufgenommen?«
Sie zieht ihr Handy aus der Jackentasche und hält es hoch.
»Jedes Wort!«
»Sehr gut. Dann lass uns nach Hause fahren«, sage ich. »Du willst dich bestimmt gleich an den Artikel setzen. Ich werde mit Hampus und Cornelia sprechen, sie sollen das Material zusammentragen, damit wir zur Polizei gehen können.«
»Dann ist es jetzt so weit?«
»Ja, ich glaube, damit haben wir den Tiefpunkt erreicht. Wir wissen jetzt, wie alles angefangen hat. Dass Gunnar Blomberg seine religiöse Gemeinschaft gegründet hat, um seine kranken Neigungen zu legitimieren. Und als Milka schwanger geworden ist, hat er das mit neuen Räubergeschichten gerechtfertigt – mit der Arche Noah und dem heiligen Boden in der Heide. Was sagst du dazu?«
»Doch. Das wird so sein. Aber …«
»Was denn?«
»Hilmer wird nicht wegen Mordes an Milka angeklagt werden können.«
»Das stimmt. Aber für andere Dinge schon. Wir haben die Filme! Das Ansehen der Ursprungsevangelisten ist jedenfalls zerstört. Nach diesem Skandal werden sie sich nicht erholen können.«
»Nein, wahrscheinlich hast du recht …«, sagt sie zögernd.
»Wollen wir jetzt nach Hause fahren?«
»Nein, ich gehe nachher zu Rakel und werde ihr alles erzählen. Aber vorher möchte ich noch zu Milkas Grab. Ich will dort ein Foto machen und eine Gedenkminute einlegen. Weißt du, wo der Friedhof liegt?«
»Natürlich weiß ich das. Ich lebe hier. Wir kommen auf dem Nachhauseweg daran vorbei.«
Auf der kurzen Fahrt klammert sie sich fest an mich, sagt aber kein Wort. Ich lasse sie ihren Gedanken nachhängen und genieße die Wärme ihres Körpers. Ob sie meine Nähe als tröstend empfindet? Ich bin es nicht gewohnt, dass andere ausgerechnet bei mir Trost suchen. Wenn ich ehrlich bin – und diese Ehrlichkeit ist sehr schmerzhaft –, haben mich meine Söhne gemieden, wenn sie Trost brauchten. Sie sind immer zu ihrer Großmutter gegangen. Ich wollte sie nicht vor der Dunkelheit beschützen, sondern ihnen lieber beibringen, darin zu überleben.
Auf dem Friedhof von Dimö gibt es jede Menge vergessene und ungepflegte Gräber. Einige sind jahrhundertealt. Meine Vorfahren liegen hier, auch die verkohlten Überreste meines Vaters. Ich habe sein Grab kein einziges Mal besucht. Und das wird sich auch heute nicht ändern. Es dauert eine Weile, bis wir Milkas Grab gefunden haben. Es ist ein einfacher, kleiner Grabstein, auf dem ihr Name und das Geburtsdatum und der Todestag stehen. Keine Inschrift. Auf dem Grab liegt ein frischer Blumenstrauß, eine skurrile, aber schöne Mischung aus Disteln und Gräsern.
»Rakel hat ihr Blumen aufs Grab gelegt«, sagt Julia. »Das ist alles so grausam. Sie hatte keine Chance, ihre kleine Schwester zu retten.«
Dann verbirgt sie ihr Gesicht in den Händen und fängt haltlos an zu weinen. Ihr ganzer Körper zittert.