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JULIA

»Glaubst du wirklich, dass es einen Film von dem Mord gibt?«, fragte sie skeptisch.

»Ja, davon bin ich sogar überzeugt«, sagte Franz. »Das ist die logische Konsequenz. Wenn es, wie Kurt gesagt hat, die goldene Regel der Ursprungsevangelisten gewesen ist, dass alle Strafen immer gefilmt wurden, warum hätten sie da eine Ausnahme machen sollen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Julia nachdenklich. »Vorausgesetzt natürlich, dass Gunnar nicht vorhatte, Milka umzubringen. Denn dann hätte er das nicht filmen lassen.«

»Ziemlich unwahrscheinlich, dass es so geplant war«, sagte Franz und strich sich über den Dreitagebart, den er seit seiner Erkältung wachsen ließ und der ihn nun allmählich wild und ungezähmt aussehen ließ. »Sein eigenes Kind zu töten erfordert ein hohes Maß an Gefühlskälte. Zugegeben, Gunnar war ein Sadist und ein Schwein, aber die Bewahrung der Kernfamilie ist dennoch ein zentraler Bestandteil seines Glaubens gewesen.«

»Du glaubst also, dass Rebecka das alles gefilmt hat?«

»Wer sonst? Ich bezweifle, dass es die Mutter war. Und wohl kaum der kleine Bruder. Und Hilmer war mit ihr auf dem Eis.«

»Aber, wenn sie es wirklich gefilmt haben sollte, dann wird doch Gunnar den Film nach dem Unglück zerstört haben, meinst du nicht?«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte er.

»Warum sollte er ihn behalten haben?«

»Die Frage ist, ob er ihn überhaupt besessen hat. An Rebeckas Verhalten hat mich etwas stutzig gemacht. Sie hat doch gesagt, dass sie keine Angst vor Hilmer hätte. Und sie hat mehr als breitwillig aus dem Nähkästchen geplaudert, obwohl Hilmer Prophet und Platzhirsch der Ursprungsevangelisten ist. Meiner Meinung nach besteht die Möglichkeit, dass Rebecka über eine Kopie des Films verfügt. Das würde auch erklären, warum sie so respektlos und dreist auftritt. Vielleicht irre ich mich. Nein, ich irre mich nicht . Ich spüre bis ins Mark, dass das die Wahrheit ist.«

»Jetzt mal ehrlich, Franz. Das klingt nach einer ziemlich wilden Spekulation.«

»Nein, diese herausragende Schlussfolgerung ist vielmehr das Ergebnis meiner geschliffenen Analyse.«

»Ich kann mir das nicht vorstellen«, widersprach sie ihm.

»Vielleicht musst du aber akzeptieren, dass es genau so sein kann, Julia. Begreifst du nicht, was es bedeutet, wenn ich recht hätte? Wenn es einen Film gibt und wir ihn in die Hände bekommen würden, dann könnten wir Hilmer erledigen.«

Franz konnte sehr überzeugend sein. Man musste ihm einfach glauben. Er liebte dieses Katz-und-Maus-Spiel und war so begeistert, dass sie sich davon anstecken ließ. Was, wenn das wahr wäre? Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, sich nicht zu früh zu freuen.

»Kannst du Rakel bitten, dir die restlichen Fotos von Gunnar und Rebecka zu geben? Damit statten wir ihr dann nochmal einen Besuch ab, würde ich sagen.«

»Ich habe sie schon, sie hat sie mir vorhin gegeben.«

»Hast du sie dir angesehen?«, fragte Franz.

»Nur flüchtig.« Julia rümpfte die Nase. »Altherrenpornos. Ich habe nicht vor, die für meinen Artikel zu verwenden.«

»Sehr gut. Komm, lass uns zu Rebecka fahren. Jetzt gleich. Du holst die Fotos, ich den Wagen, wir treffen uns vorn am Tor.«

Ehe sie es sich versah, waren sie schon auf dem Weg in den Ort. Julia hatte das Gefühl, dass sie sich der Wahrheit näherten. So wie Hilmer sich der Insel näherte, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Mach dir keinen Kopf über Hilmer«, sagte Franz, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Er wird in Handschellen abgeführt werden, bevor er bis drei zählen kann. Versprochen.«

»Ich bin okay. Ich schaffe das schon«, versicherte sie ihm.

Und sich selbst auch. Die Worte klangen künstlich. Sonst kamen sie ihr problemlos über die Lippen. Aus voller Überzeugung. Aber das war jetzt anders. Vielleicht sollte sie doch besser auf dem Anwesen bleiben, bis das alles vorbei war. Keine Ausflüge in den Ort. Keine Spaziergänge ans Meer. Dabei liebte sie ihre morgendlichen Touren, wenn der Nebel sich lichtete, die Sonne aufging und das Meer in Flammen tauchte.

Franz nahm eine Hand vom Steuer und legte sie ihr auf die Schulter. Mit dieser Geste wollte er sie beruhigen, sie aber reagierte zu seinem Entsetzen mit Tränen, die ihr stumm über die Wangen liefen. Sie wischte sie mit der Hand ab. Franz sagte nichts.

»Wir sind da!«, rief Julia, als sie an dem großen grauen Kasten vorbeisausten.

Franz machte eine Vollbremsung, und sie wurden beide in ihre Sicherheitsgurte gedrückt. Julia lachte aus vollem Hals, obwohl es gar nicht so besonders lustig war. Aber so konnte sie immerhin ein bisschen Energie loswerden.

Sie stiegen aus.

»Wer von uns soll reden?«, fragte Julia.

»Ich tue das«, sagte Franz in einem Tonfall, der keine Widerworte duldete.

»Und warum du?«

»Ich werde sie dazu bringen, uns den Film zu geben, wenn es einen gibt. Heute ist so ein Tag, an dem ich nicht aufzuhalten bin. Unschlagbar. Nenn es, wie du willst.«

»Geht es eine Nummer kleiner?«

»Leider nicht. Überlass mir das Reden. Sollte ich zu hart und unerbittlich sein, kannst du natürlich dazwischengehen.«

Sie klopften an, aber niemand öffnete. Dann gingen sie ums Haus herum in den Garten. Aber da war niemand. Die Hängematte baumelte im Wind. Da spürte Julia plötzlich hinter sich eine Bewegung, eine Energie. Als verdichte sich die Luft. Als sie sich umdrehte, stand Rebecka mit ausdruckslosem Gesicht vor ihnen. Ihr Blick klebte an dem Umschlag in Julias Hand.

»Sind das die Fotos?«, fragte sie.

»Ja, und es gibt keine Kopien davon«, ergänzte Franz. »Für uns sind sie wertlos, für Sie aber nicht. Wir werden sie Ihnen überlassen, aber nur im Austausch gegen etwas anderes. Eine gute Zusammenarbeit basiert auf Ehrlichkeit, und wir haben das ungute Gefühl, dass Sie uns etwas vorenthalten haben.«

»Und was sollte das sein?«

»Der Film von der Nacht, in der Milka ums Leben kam.«

Rebecka öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Franz hielt eine Hand in die Luft, um sie davon abzuhalten.

»Bevor Sie jetzt leugnen, dass es einen solchen Film gibt, lassen Sie es mich Ihnen gleich sagen. Wir wissen aus einer sicheren Quelle davon.«

Rebecka lachte. Es war eher ein Bellen.

»Das können Sie nicht.«

»Und warum sind Sie sich da so sicher?«, fragte Julia.

»Weil diesen Film nur ich und mein Mann kennen.«

»Sie geben also zu, dass es einen gibt?«, sagte Julia verblüfft. Sie war fassungslos, dass Rebecka das nicht abstritt.

»Wenn Sie mich damit erpressen wollen, gehen Sie sehr amateurhaft vor«, sagte Rebecka abfällig. »Sie können den Film haben. Das wird, zusammen mit Ihrem Beweismaterial, Hilmers Todesstoß sein. Je länger er ins Gefängnis muss, umso besser.«

Julia traute ihren Ohren nicht. Das hatte sie so nicht erwartet.

»Genügt Ihnen der Film, oder wollen Sie auch die Erklärung dafür, warum es ihn gibt?«, fragte Rebecka.

»Mit Erklärung bitte«, sagte Franz.

»Wollen wir uns nicht setzen?«, sagte sie und zeigte auf ein paar Gartenmöbel in der kleinen Laube. »Mein Mann ist auch da, deshalb kann ich Sie leider nicht ins Haus bitten.«

Sie setzten sich, und Franz und Julia warteten darauf, dass Rebecka das Wort ergreifen würde. Sie hatte den Blick gesenkt, betrachtete ihre Hände und lächelte eigenartig.

»Sie müssen wissen, dass Gunnar immer alles filmen ließ«, sagte sie, als sie endlich anfing zu reden. »Das gehörte zu meinen Aufgaben in der Familie Blomberg. Ich musste es aufnehmen, wenn eines der Mädchen bestraft wurde. Aber an dem besagten Abend hatte Gunnar sehr schlechte Laune. Vielleicht war es sogar für einen wie ihn zu viel, seine eigene Tochter für die Vergewaltigung zu bestrafen, die er begangen hatte. Er fauchte mich an, dass ich mich um Aaron kümmern sollte. Das hat mich damals verstört. Sollte ich jetzt filmen oder zuhause bleiben? Ich habe mich für das Erstere entschieden und Aaron in seinem Zimmer eingesperrt. Ich war überzeugt davon, dass Gunnar es später bestimmt begrüßen würde, diese Bestrafung als Film zur Verfügung zu haben.«

Franz forderte sie mit einem Nicken auf fortzufahren.

»Sie waren schon losgegangen, und ich bin ihnen mit der Kamera in der Hand hinterhergelaufen. Es gibt ein kleines Gehölz am See, da habe ich mich versteckt, um zu filmen. Eine sonderbare Spannung lag in der Luft. Es kam, wie es kam, und mir war sofort klar, dass Gunnar den Film auf der Stelle zerstören würde, wenn er davon erfuhr. Ich bin also schnell zurück nach Hause gerannt, habe den Film aus der Kamera genommen. Seit dem Tag habe ich ihn in meinem Besitz.«

»Und warum haben Sie nichts unternommen?«, fragte Julia. »Sie hätten die beiden doch sofort anzeigen können. Sie waren Zeugin eines Mordes! Warum haben Sie es nicht der Polizei gemeldet?«

»Ich befürchte, Sie sind etwas naiv oder kennen sich mit den Ursprungsevangelisten nicht aus. Ich bin damals sehr jung gewesen, und Gunnar war bei den Mitgliedern ausgesprochen beliebt. Die hätten sich alle gegen mich verschworen und meine Familie gegen mich aufgehetzt. Nein, dazu war ich zu feige. Aber ich wusste, dass der Film meine Lebensversicherung sein würde. Solange ich den hatte, würde mir Gunnar nichts antun können. Und Hilmer auch nicht. Aber inzwischen haben sich die Umstände grundlegend geändert, dank Ihrer hervorragenden Detektivarbeit.«

Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Kaltherzigkeit zu verbergen. Ihre Augen glichen glänzenden, harten Glaskugeln.

»Ich gebe Ihnen den Film, aber ich werde leugnen, dass ich in jener Nacht selbst aufgenommen habe. Ich werde behaupten, dass ich ihn bei den Blombergs beim Aufräumen gefunden habe und damals viel zu große Angst vor Gunnar hatte, um ihn bei der Polizei anzuzeigen. Mein Mann wird mir für die damalige Nacht ein Alibi geben. Wir waren zu der Zeit schon ein Paar. Er wird angeben, dass wir uns im Wald getroffen haben, während die anderen am See waren. Das Rätsel, wer gefilmt hat, wird niemals gelöst werden, weil es keine Zeugen dafür gibt. Ich biete allerdings an, gegen Hilmer auszusagen – als Ausgleich für den Verstoß gegen meine Anzeigepflicht. Ich kann einiges darüber erzählen, wie es zuhause bei den Blombergs zuging. In dem Film sind übrigens beide zu erkennen, Gunnar und Hilmer.«

»Warum tun Sie das?«, fragte Julia. »Hilmer Blomberg ist doch Ihr … geistiger Anführer?«

»Hilmers Zeit als Oberhaupt der Ursprungsevangelisten ist längst vorbei. Er ist altmodisch und hat ein überholtes Frauenbild. Wir brauchen eine neue Führung. Und mein Mann würde diese Rolle – mit meiner Unterstützung – hervorragend ausfüllen können.«

Franz schüttelte entgeistert den Kopf.

»Das waren also alles Sie?«, sagte er. »Sie haben diese verdammten Kreuze in die Felsspalten gesteckt. Sie haben dieses lächerliche Verbrecherfoto von mir an die Anschlagstafel vom Café gepinnt?«

Rebecka wedelte mit der Hand.

»Ja, das war albern, ich weiß. Aber Hilmer wollte es so, also …«

»Sie haben ihn direkt nach unserem Besuch angerufen, nicht wahr? Und haben Informationen über uns weitergegeben.«

»Ja, aber nichts Wichtiges. Nur, dass Julia einen Artikel schreiben wird. Ich habe vor, bei ihm so lange gute Miene zum bösen Spiel zu machen, bis die Bombe platzt. Danach ist er mir egal.«

Ihr Lächeln war voller Hochachtung.

»Und ich bin beeindruckt, dass Sie auf den Film gekommen sind. Ich hätte ihn nicht erwähnt, denn ich hatte gehofft, dass Sie ihn gar nicht benötigen. Außerdem wollte ich da nicht mit hineingezogen werden. Aber er ist eigentlich die Garantie dafür, dass Hilmer für immer hinter Gittern schmort. Ich kann Ihnen schon jetzt die volle Unterstützung der neuen Ursprungsevangelisten zusagen, wenn das hier überstanden ist, Franz Oswald.«

»Und was ist mit der Heide? Dem heiligen Boden?«

Rebecka lachte verächtlich.

»Sie meinen Gunnars Gefasel von der Arche Noah? Daran sind wir nicht interessiert. Aber wir werden unseren Namen ändern. Dieser Skandal wird nicht so schnell abflauen. Ich werde mich zusammen mit zahlreichen unserer Mitglieder öffentlich gegen die Methoden von Hilmer und seinen Söhnen aussprechen.«

In Julias Kopf drehte sich alles. Sie waren zwischen die Fronten eines Machtkampfes religiöser Fanatiker geraten.

Rebecka ging ins Haus, während Franz und Julia wie erstarrt sitzen blieben. Julia hatte gerade den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, aber Franz kam ihr zuvor.

»Wenn wir den Film haben, können wir weitersprechen. Der ist wichtig. Vergiss das nicht. Bewahre einen kühlen Kopf. Keinen Wutausbruch jetzt.«

Rebecka kam mit einem dicken Umschlag zurück, den sie Franz reichte.

»Hier ist der Originalfilm, den wird die Polizei benötigen. Man kann ja heutzutage alles nachträglich bearbeiten und verfälschen. Der Film ist auch noch auf einem USB -Stick. Mein Mann hat das Material vor ein paar Jahren digitalisiert.«

Franz streckte seine Hand danach aus, aber Rebecka zog ihre weg.

»Sie müssen mir versprechen, dass geheim bleibt, wer den Film gedreht hat. Das ist meine einzige Bedingung. Wenn Sie eine Zeugin für die Tat benötigen, kann vielleicht Rakel als vertrauenswürdig genug mitmachen. Ich kann Ihnen den Film jetzt nicht zeigen – mein Mann und ich haben viel zu besprechen. Sie werden mir da einfach vertrauen müssen.«

»Ich traue Ihnen genauso über den Weg wie der Schlange im Paradies!«, schoss es aus Julia heraus.

Rebeckas Blick verdunkelte sich. Dieser Vergleich gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber das gefährliche Funkeln verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Sie war wieder ganz die Alte. Kalt und berechnend.

Franz legte seine Hand beruhigend auf Julias Arm.

»Sie haben mein Wort«, sagte er. »Gib ihr die Fotos, Julia.«

Die Umschläge wurden ausgetauscht.

»Viel Erfolg«, sagte Rebecka gleichgültig. »Mein Mann und ich verfolgen die Entwicklungen mit großem Interesse.«

Diese unterkühlte Teilnahmslosigkeit war provozierend. Julia hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen, um das höhnische Grinsen für immer auszulöschen. Aber sie wusste auch, dass man mit Bedacht kämpfen sollte. Franz war brillant darin, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das hatte sie noch nie gekonnt.