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JULIA

Den Film sah sie erst ein paar Tage später. Sie brach in Tränen aus, unendlich traurig darüber, dass Milka nicht mehr zu retten war. Der Film offenbarte einmal mehr, wie groß Hilmers Verrat an seinen Schwestern gewesen war. Das Einzige, was sie beruhigen konnte, war Zeugin seiner Verhaftung zu werden. Wie der Streifenwagen vorfuhr und ihn in Handschellen abführte. Jemand aus Henån hatte das gefilmt und ins Netz gestellt. Hilmer hatte sich der Festnahme aktiv zur Wehr gesetzt. Aber im Polizeiwagen sah er auf einmal ganz klein und jämmerlich aus. Ein ekelhafter, alter und vernichteter Mann.

Julia besorgte einen Strauß Wildblumen und legte sie auf Milkas Grab. Es regnete, ein milder Nieselregen, der von einem grauen Himmel fiel. Sie flüsterte mehrmals »Verzeihung«, ohne genau zu wissen, warum. Es fühlte sich richtig an, dass jemand Milka um Vergebung bat. Und Hilmer würde das sicher niemals tun. Während sie die Worte flüsterte, immer und immer wieder, zerriss es sie innerlich vor Schmerzen. Und vor Trauer. Sie spürte, wie erst eine nicht zu bremsende Wut in ihr aufstieg, dann aber alles still wurde. Eine unendliche Leere entstand. Es war zu Ende.

Ein paar lange, erschöpfende Tage lagen hinter ihr. Die Reaktion der Medien auf die Ereignisse ging Julia auf die Nerven. Die Geschichte bot alles, was die Klatschpresse liebte. Eine sektenähnliche, rätselhafte Gemeinschaft. Sexueller Missbrauch von Mädchen. Dazu ein brutaler Mord. Julia hatte ihre Artikel auf Fakten aufgebaut und darauf geachtet, nicht zu reißerisch zu klingen. Aber je mehr sensationshungrige Medien auf den Zug aufsprangen, umso wilder und spektakulärer wurden die Überschriften. Am Ende las Julia gar nichts mehr. Sie war wütend, weil das Wichtige – der Missbrauch religiöser Macht zur Unterdrückung von Frauen und Mädchen – in den wilden Spekulationen über perverse und okkulte Orgien unterging. Diese Flut an Nachrichten löste nur das Bedürfnis in ihr aus, sich auszuklinken und eine Pause zu machen.

Die Begeisterung über ihre Beiträge aber war allgemein groß, bis auf einige vereinzelte, freireligiöse Stimmen, die sich darüber beschwerten, dass ihre Darstellung das falsche Bild des christlichen männlichen Unterdrückers und Patriarchen unnötig anstachle. Ansonsten aber war die Resonanz durchweg positiv, und man munkelte bereits von großen Journalistenpreisen. Sie versuchte, sich über die Anerkennung zu freuen, aber sie hatte zu dem jetzigen Zeitpunkt einfach keinen Überschuss für das Schöne. Es war zu viel in zu kurzer Zeit passiert, und sie musste erst einmal alles verarbeiten. Außerdem hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass jetzt das Gute in der Welt herrschte, nur weil eine lebensgefährliche Bewegung ausgeschaltet worden war. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass der Sturz eines teuflischen Tyrannen nur die Herrschaft eines noch schlimmeren nach sich zöge. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie die neue Führung der Ursprungsevangelisten aussehen würde, wenn Rebecka Andersson die Fäden zog. Viele Anhänger hatten sich, wie vorhergesagt, gegen ihr ehemaliges Oberhaupt gewandt und Hilmer für seine Taten verurteilt und sich von ihm distanziert . Aber niemand aus der Gemeinschaft übernahm die Verantwortung für die Filme, die regelmäßig auf die Webseite hochgeladen worden waren. Und es würde schwer werden zu beweisen, wer sie gepostet hatte. Hilmer und seine Söhne sahen einer Gefängnisstrafe entgegen, Rakel und Silla würden beide als Zeugen vor Gericht aussagen. Auch die Filme, die Cornelia und Hampus wiederhergestellt hatten, würden als Beweismaterial angeführt werden können.

Silla war nach wie vor mit Filip in Franz’ Wohnung in Göteborg untergebracht und würde dort bleiben, bis alles vorbei war. Julia telefonierte täglich mit ihr. Silla ging es von Tag zu Tag besser, sie war voller Hoffnung und Zuversicht. Julia wusste, dass Silla anstrengende Monate bevorstanden. Die erste Herausforderung würde die Konfrontation mit ihrem Vater und den Brüdern im Gerichtssaal sein. Julia hatte vor, ihr über die ganze Zeit zur Seite zu stehen. Danach würde sie ihre Tante endlich kennenlernen. Rakel hatte Silla angeboten, sie auf Dimö zu besuchen, wenn sich alles wieder beruhigt hatte.

Hilmer und seine Söhne saßen in Untersuchungshaft. Die Polizei hatte mittels eines DNA -Abgleichs zwei der Söhne als Täter identifizieren können, die für den Überfall auf Julia verantwortlich gewesen waren. Der Nachbar der Blombergs, der die Verhaftung von Hilmer gefilmt hatte, war auch dabei, als seine Söhne abgeführt wurden. Julia hatte sich den Clip mit Franz zusammen angesehen. Anders als Hilmer, hatten die Söhne ihre Gesichter hinter ihren Kapuzenpullis und Jacken versteckt. In einem Anfall von Panik hatte Julia angefangen, die Brüder durchzuzählen.

»Bist du sicher, dass sie alle erwischt haben?«, fragte sie Franz. »Es waren doch sechs, aber ich habe nur fünf gezählt.«

Da lachte Franz und strich ihr liebevoll über den Kopf.

»Julia, Liebes … die haben sogar in den Nachrichten gesagt, dass sie alle Söhne der Familie Blomberg festgenommen haben. Mach dir keine Sorgen. Das Spiel ist aus.«

Obwohl sie einiges an Franz auszusetzen hatte, gelang es ihm auch dieses Mal, sie zu beruhigen.

Aber die Paranoia wollte sie trotzdem nicht loslassen. Beim Spazierengehen sah sie sich unentwegt um, zuckte beim geringsten Knacken im Wald zusammen. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf, wie gelähmt vor Angst, und war felsenfest davon überzeugt, dass sich jemand ins Haus geschlichen hatte. Dann schaltete sie alle Lampen an und machte sich wie eine Besessene auf die Suche nach dem Eindringling. Wenn es besonders schlimm war, rief sie Thor an, auch wenn es schon spät war. Der Klang seiner Stimme holte sie aus ihrer Panik zurück ins Hier und Jetzt. Zurück in ihr Häuschen. Zurück in ihr Schlafzimmer. Zurück in ihr Bett. Dort war sie sicher. Das geschah alles nur in ihrem Kopf. Bevor sie auflegte, schaltete sie das Licht aus, um sicherzugehen, dass sie es auch in der Dunkelheit aushielt. Thor war immer für sie da. Ende der Woche war die Abiturverleihung, danach würde er nach Dimö aufbrechen, um den Sommer mit ihr dort zu verbringen. Noch war Julia nicht wieder bereit, aufs Festland zu fahren, außerdem sollte die große Feier für Thor in der Pension von Elvira und Simon stattfinden.

Manchmal hatte sie so eine große Sehnsucht nach ihm, dass sie kaum noch Luft bekam. Er hatte so hart für sein Abitur gearbeitet, um es mit hervorragenden Noten abzuschließen. Was ihm auch gelingen würde, wie er ihr ohne den Anflug eines Zweifels in der Stimme am Telefon gesagt hatte.

An diesem Morgen hatte sie ihn wieder angerufen, allerdings nicht aus Angst, sondern vor Sehnsucht.

»Ich wäre gern für dich da gewesen«, sagte er leise. »Du hast das alles allein durchgestanden.«

»Du warst für mich da, ich durfte dich immer anrufen. Außerdem war Franz eine große Hilfe.«

»Stimmt das wirklich?« In Thors Stimme schwang ein wenig Stolz mit.

»Ja, er hat eine krasse Intuition und ist sehr zuverlässig, und außerdem arbeitet er extrem sorgfältig. Das Netzwerk der Ursprungsevangelisten zum Beispiel hat er auf große Papierbögen gezeichnet, die er an die Wand geklebt hat. Wer macht so was heute noch?«

»Das stimmt. Wer würde das tun?« Thor klang amüsiert.

»Ich weiß, dass er anstrengend sein kann, aber er hat nicht lockergelassen, wollte diese Fanatiker unbedingt vernichten. Und trotzdem lässt er es nicht groß raushängen. Das passt doch eigentlich gar nicht zu ihm, oder?«

»Dahinter steckt hundert Prozent ein Motiv«, sagte Thor. »Ich vermute, dass er sich bei dir einschmeicheln will.«

»In diesem Fall ist ihm das fast gelungen.«

»Heißt das, du hast ihm verziehen?«

»Was er meiner Mutter angetan hat?«

»Ja?«

»Nein, ich glaube, das ist einfach unverzeihlich. Aber es sieht eindeutig auch so aus, dass Franz auf dem Weg zu einem besseren Menschen ist.«

»Dann können wir im Sommer also auch mal was zu dritt unternehmen?«, fragte Thor voller Hoffnung.

»Warum nicht? Weißt du was, Thor? Ich bin so was von stolz auf dich und deine Noten. Aber du klingst gar nicht so happy?«

»Was soll ich sagen, ich fühle mich wie immer«, sagte er verlegen. »Wie ein Sektenkind eben.«

Das sollte wahrscheinlich ein Scherz sein, aber es klang eher traurig.

»Im Ernst jetzt? Du musst unbedingt mit diesem Sektenkind-Quatsch aufhören.«

»Vielen Dank, Julia. Jetzt geht es mir gleich viel besser.«

»Wenigstens bist du keiner von diesen Millennials, du weißt schon: superkompliziert, auf Technik fixiert und vergötterst deine Eltern. Allerdings sind wir beide auch keine Kinder mehr. Das haben wir doch bis hierher ganz gut hinbekommen, oder?«

Sie schwiegen, hingen ihren Gedanken nach. Sie mussten nicht sprechen, schließlich spürten sie beide diese besondere Verbundenheit, die ihre Beziehung von Anfang an ausgemacht hatte.

Später am Nachmittag brach Julia zu einem Spaziergang auf. Das war zu einer täglichen Routine geworden, morgens oder nach dem Mittagessen eine Runde spazieren zu gehen. Sie hatte auf ihren Touren eine kleine Bucht entdeckt, die zwischen den Felsen versteckt lag. Den kleinen Strand hatten die Sommergäste noch nicht gefunden, und Julia fing an, ihn als ihr kleines Paradies, ihr Refugium, zu betrachten.

Auf den Felsen in der Heide saß ein junges Paar und baumelte mit den Beinen. Kinder spielten Verstecken, und weiter hinten stand ein Mann mit einem Fernglas, um die Segelboote auf dem Meer zu beobachten.

Sie bog in das Wäldchen ab, inhalierte die warme Luft und spürte, wie sie langsam zur Ruhe kam. Das Schlimmste war überstanden.

Um zur Bucht zu gelangen, musste sie durch den Wald einen kleinen Hang hinunter. Das Wasser, das sie zwischen den Baumstämmen schimmern sah, war hellblau. Das letzte Stück musste sie ein bisschen über Wurzeln und dichtes Unterholz klettern. Aber dann hatte sie den Strand erreicht. Die Luft war viel kühler als im Wald. Sie fröstelte, zog die Jacke eng um ihren Körper. Die Wärme, die auf dem Spaziergang entstanden war, verflog augenblicklich. Kleine, sanfte Wellen wurden an den Strand gespült, das Wasser war kristallklar, der Wind roch nach Salz. Sie folgte den Bewegungen des Meeres, das über die glatten Steine strich.

Da bemerkte sie ein Motorboot, das an einem der Felsen vertäut war. Sie seufzte bei dem Gedanken, dass ein Fremder in ihre kleine Oase einfallen könnte. Tagestouristen oder Sommerhausbesitzer. Gleichzeitig spürte sie ein merkwürdiges Ziehen im Bauch. Etwas war anders als sonst. Sie fühlte sich beobachtet. Es war nichts Konkretes, nur ein Gefühl. Sie drehte sich um, sah in den dichten Wald. War da eine Bewegung gewesen? Und flatterte da etwas? Als sie genauer hinsah, entdeckte sie die Plane eines Zeltes. Der Stoff des Eingangs schlug im Wind. Zwei gegensätzliche Stimmen meldeten sich zu Wort: Das sind nur Camper, behauptete die eine Stimme. Die andere sagte: Hier stimmt etwas nicht.

Um sich wieder zu beruhigen, drehte sie sich um und sah hinaus aufs Wasser. Plötzlich tauchte der Mann mit dem Fernglas vor ihrem inneren Auge auf. Warum musste sie jetzt ausgerechnet an ihn denken? Er hatte doch nur den Segelbooten zugesehen. Oder hatte sie sich das bloß eingeredet?

Da hörte sie ein lautes Knacken hinter sich. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Aber sie wagte nicht, sich umzudrehen. Wie angefroren stand sie da und lauschte ihrem unruhigen, abgehackten Atem. Der Boden vibrierte. Da waren Schritte. Endlich konnte sie sich wieder bewegen, sie holte ihr Handy aus der Jacke und wählte Franz’ Nummer.

Der Geruch von Holz und Männlichkeit erreichte sie.

Und im nächsten Augenblick wurde ihr das Telefon aus der Hand geschlagen.