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FRANZ

Ich schließe die Augen, öffne sie wieder. Versuche, Emils Worte zu verarbeiten. Das ist ein einziger Albtraum. Es ist einfach unmöglich. Aber … doch, es ist tatsächlich passiert. Ich öffne die Augen wieder. Und weiß, was ich zu tun habe.

Emil bat mich, die Polizei zu informieren, aber angesichts der bürokratischen Hürden ist es unwahrscheinlich, dass sie rechtzeitig an der Fähre sind, um Set Blomberg aufzuhalten. Und wer weiß, wo auf der Insel sie gerade sind? Ich könnte die Polizei auf dem Festland anrufen, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich auf der Fähre zu verstecken und in der Menschenmenge im Hafen unterzutauchen. Set Blomberg muss aber sofort gestoppt werden. Hier und jetzt. Meine Honda steht noch vor der Tür. Auf dem Weg rufe ich Elyssa an.

»Set Blomberg wird versuchen, auf die Fähre zu kommen. Anton muss ihn aufhalten.«

Ich nehme drei Stufen auf einmal, winke dem Wachmann zu, dass er das Tor öffnen soll, und starte die Maschine. Keine Minute später bin ich auf der Hauptstraße. Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass es sieben Minuten vor vier ist. Das schaffe ich. Ich muss. Vollgas. Der Himmel ist grau geworden, im Westen zieht eine noch dunklere Front auf. Die ersten Regentropfen treffen mich. Regen ist gut. Das macht die Gangway rutschig, was das Einsteigen um ein paar Minuten verzögern wird.

Ich spüre, wie ich ruhiger werde. Entschlossen in der Ruhe. Ich drossele mein Tempo, biege bei der Zufahrt zur Fähre ab. Wie zu erwarten war, stehen viele Menschen am Anleger. Es sind hauptsächlich Inselbewohner, die mit der Nachmittagsfähre aufs Festland fahren, um Angehörige zu besuchen. Ich parke, lasse meinen Blick über die Anwesenden gleiten. Kein Set Blomberg weit und breit. Aber dann sehe ich ihn doch. Er steht etwas abseits unter einer Weide. Gutes Versteck. Denkt er. Er will sich wahrscheinlich mit den letzten Passagieren an Bord schleichen. Aber er sticht aus der Menge hervor. In erster Linie, weil er von Kopf bis Fuß klitschnass ist. Er verbirgt sein Gesicht mit der Jacke, als würde er den Regen abhalten wollen.

Mich hat er nicht bemerkt. Noch nicht.

Er ist groß, muskulös und grobschlächtig. Aber das schreckt mich nicht ab. Ich habe die Kraft der blinden Wut in mir. Als er mich sieht, reißt er die Augen auf.

»Du siehst erbärmlich aus«, sage ich angeekelt und schüttele den Kopf.

Der erste Schlag trifft ihn im Solarplexus. Er krümmt sich zusammen, ist so überrascht von meinem Angriff, dass er sich nicht wehrt. Er stürzt zu Boden, ich setzte mich rittlings auf seinen Brustkorb und schlage zu. Ein Schlag. Noch ein Schlag. Und noch einer. Ich kann nichts mehr sehen. Ich kann nichts mehr hören. Ich schlage wie besessen zu. Jeder Schlag ist härter als der vorherige. Ich hätte niemals aufgehört, aber jemand zieht mich von Set runter. Es ist Kurt Burman.

»Es reicht, Franz«, sagt er. »Du schlägst ihn sonst tot.«

Sein Tonfall verwirrt mich, er klingt, als würde er über das Wetter sprechen. Set Blomberg liegt reglos am Boden. Sein Gesicht ist blutverschmiert. Erschöpft kauere ich neben ihm, sehe aufs Meer hinaus, das dunkel und mächtig gegen die Kaimauer schlägt. Ich hebe den Kopf, lasse den Regen über mein Gesicht fließen. Das fühlt sich gut an, reinigend.

»Wer ist das?«, fragt Kurt.

»Der sechste Blombergsohn, der auf der Flucht war«, sage ich keuchend. »Beziehungsweise das, was von ihm übrig ist.«

»Ach was, der schafft das schon, wenn wir den Rettungshubschrauber rufen.«

»Ich habe die Beherrschung verloren.«

»Ja, du hattest schon immer eine kurze Lunte.«

Meine Fingerknöchel brennen, ich habe Sets Blut auf meinem T-Shirt. Meine Bauchmuskeln tun weh.

Erst jetzt bemerke ich, dass sich eine Menschenmenge um uns gebildet hat. Ich kenne fast jedes einzelne ihrer entsetzten Gesichter. Das sind alles alteingesessene Inselbewohner.

Die Realität schlägt mir ins Gesicht. Vor einem so großen Publikum habe ich einen Sohn von Hilmer Blomberg krankenhausreif geschlagen. Was zum Teufel ist in mich gefahren?

»Das ist einer von Blombergs Söhnen«, klärt Kurt die Menge auf. »Ihr wisst doch, der Hilmer Blomberg, der seine Schwester Milka vor fünfzig Jahren im See ertränkt hat.«

Jetzt klingt Kurt wie ein Pfarrer auf der Kanzel.

Das Entsetzen der Schaulustigen wandelt sich in Ekel und Verachtung.

Da treffen die beiden Polizisten von Dimö ein. Leon hat sein Handy am Ohr und bestellt den Rettungshubschrauber. Der Regen hat zugenommen, fällt als grauer Schleier über diese makabre Szene. Die Jungs aus der Krankenstation der Insel kommen auf uns zugerannt und knien sich neben den leblos wirkenden Set. Sie heben ihn auf eine Trage, ich bleibe am Boden sitzen, unfähig, mich zu bewegen. Ich bin erledigt. Dafür werde ich ins Gefängnis gehen. Körperverletzung, versuchter Totschlag. Zeugen dafür gibt es genug.

Dann aber geschieht das Unglaubliche.

Die Polizisten befragen die Umstehenden, was passiert ist. Die meisten sind erschüttert, empört und wütend, aber nicht auf mich. Kurt Burmans Tochter beispielsweise sagt aus, dass Set mich angegriffen und üble Bedrohungen gebrüllt habe, ich hätte mich nur verteidigt. Eine Rentnerin gibt sogar an, sie habe ein Messer aufblitzen sehen. Die Zeugenaussagen werden immer wilder, der Besitzer des Lebensmittelladens will eine Machete gesehen haben, die ich Set aus der Hand schlagen musste. So unterschiedlich die Versionen auch ausfallen, sie sind sich alle darin einig, dass ich von einem Wahnsinnigen angegriffen wurde und aus reiner Notwehr gehandelt habe. Was ich getan hätte, wäre eine Heldentat gewesen.

»Dieser Irre hat wie ein Terrorist ausgesehen«, fügt die Kellnerin des Cafés am Marktplatz hinzu, wo sie schon arbeitet, seit ich denken kann. »Ich bin heute mit meinen Enkelkindern unterwegs, Gott sei Dank hat Franz uns vor diesem Kerl bewahrt. Wer weiß, was sonst alles hätte passieren können.«

Sie sind sich einig. Haben sich verschworen, wie ein Mob, der Set Blomberg nachträglich noch eine verpassen will.

Ich sehe diese Menschen mit Erstaunen an. Sie sind das Herz der Insel, sie machen Dimö aus – und jetzt endlich haben sie mich in ihren Kreis aufgenommen.