Montag, 1. Oktober

Joaquín hatte ausgeschlafen und sich etwas erholt. Seine Kopfschmerzen hielt er mühsam mit Schmerzmitteln unter Kontrolle, also ließ er die Dinge langsam angehen. Während Jacques Forest Kaffee kochte, besah er sich die Fotos an den Wohnzimmerwänden.

Der alte Fischer bemerkte, wie er eines der Bilder genauer betrachtete.

»Schauen Sie den Hai an? Eine seltene Aufnahme.«

»Haben Sie auch Haie gefischt?«

»So wenig wie möglich.«

»Aber Sie haben welche erwischt?«

Forest stellte die Tassen auf den Tisch, neben die Ermittlungsakte.

»Nur zufällig. Vor ein paar Jahren war ich vor der Küste der Îles-de-la-Madeleine Heilbutt fischen. Und plötzlich hatten wir einen am Haken. Zuerst haben wir gedacht, es sei eine Robbe, aber das Tier leistete zu viel Widerstand. Der Kapitän hat begriffen, dass es ein Hai war. Kein Riesenvieh, aber groß genug, um Schaden anzurichten. Als wir ihn an Bord hieven wollten, ist er bösartig geworden. Ein riesengroßes Maul voller Zähne! Wir haben ihm eine Kugel in den Schädel gejagt. Kaliber 22. Da gibt selbst der größte Fisch Ruhe.«

»Haben alle Fischer Gewehre an Bord?«

Die Männer setzten sich an den Tisch. Das Innere von Forests Haus war voller Erinnerungen ans Meer, Fotos aus seiner Zeit als Seenotretter, Bilder von Angel und ihm auf der Schiffbruch Nr. 2. Morales konnte die unterschiedlichen Umbauten verfolgen, die die junge Kapitänin im Laufe der Jahre an ihrem Boot vorgenommen hatte, sowohl die praktischen als auch die ästhetischen.

»Wir dürfen Robben erschießen, die dem Boot zu nahe gekommen sind und von der Schiffsschraube verletzt wurden. Damit sie nicht leiden. Aber heutzutage kommt so etwas kaum mehr vor. Zur Zeit des Moratoriums hatten alle Fischer auf den Krabbenkuttern welche dabei. Oder beinahe.«

Morales probierte seinen Kaffee. Er war gut. Außerdem war das Haus in gutem Zustand. Forest war ein ordentlicher Mann.

»Warum?«

Forest ließ sich Zeit und wählte seine Worte mit Bedacht. Offensichtlich war ihm diese Geschichte wichtig.

»Als die Regierung den Kabeljaufang verboten hat, hat die Hälfte der Fischer hier in der Gegend ihre Einnahmequelle verloren. Das Boot, die Fangerlaubnis, die Ausrüstung, so was kostet eine Menge Geld. Wenn jemand so hart arbeitet wie seine Väter und seine Großväter vor ihm und er seit so vielen Generationen arm ist, dass er den Stammbaum seines Elends bis zu dem Schiff zurückverfolgen kann, das seine Urahnen in Amerika abgesetzt hat, wenn er sein Haus bis zum Balkon hoch verpfändet und seinen Hund bis zum Schwanz, um sein Schiff flottzukriegen, dann ist es höchste Zeit für ihn, dass die Saison beginnt. Stellen Sie sich vor: Ein Typ steckt tief in der Kreide, die Bank ist ihm auf den Fersen, und er wartet nur auf eines: dass er wieder fischen kann. Aber er darf nicht.«

»Was ist passiert?«

»Die Fischer haben die Regierung um Hilfe gebeten. Wissen Sie, wie das Fischereiministerium reagiert hat? Es hat ihnen Krabben zugeteilt!«

»Mussten die Kabeljaufischer die Ausrüstung wechseln?«

»Das ist nicht das wirkliche Problem. Stellen Sie sich vor: In ein und denselben Fanggründen fischen manche Typen nach Kabeljau und andere nach Krabben. Und von heute auf morgen sagen Sie zu denen, die Kabeljau fischen, dass sie jetzt auch Krabben fischen sollen. Was, glauben Sie, passiert dann auf dem Wasser? Auf einmal war das Meer wie der Wilde Westen. Ich bin damals zum Arbeiten in die Staaten gegangen. Aber ich weiß, dass manche Typen Gewehre mit an Bord genommen haben.«

»Und genau da hat sich Ihr Schwager einen Krabbenkutter gekauft?«

Forest verzog wütend das Gesicht.

»Dieser verdammte Heuchler!«

»Warum sagen Sie das? Weil er mit einem Boot fischen ging, das seine Frau bezahlt hatte?«

»Nein, das wusste jeder.«

Forest lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank einen Schluck Kaffee.

»Sie haben Roberts kennengelernt. Er ist in die Staaten zum Arbeiten gegangen, weil ihn hier niemand wollte. Als er wieder da war, hat er gesagt, er könne besser fischen als alle anderen. Er hat Irène geheiratet und sich dann mit ihrem Geld ein schönes Boot gekauft. Er sagte immer, das Meer sei eine Goldgrube. Man müsse nur wissen, wie man es ausbeutete.

Stimmt, er hat immer hart gearbeitet. Aber Roberts hatte einen Vorteil. Seine Brüder waren beim Ministerium. Er wusste immer vor allen anderen, in welche Richtung sich die Regeln ändern würden. Also war er allen eine Nasenlänge voraus. Als er Wind davon bekam, dass es bald ein Moratorium geben würde, hat er niemandem davon erzählt und die anderen in neue Netze investieren lassen. Er jedoch hat sich inzwischen um seine Zukunft gekümmert. Im Sommer vor dem Moratorium hat er seinen Holzkutter bis zum Anschlag mit Feuerwerkskörpern vollgeladen und dann in der Flussmündung in die Luft gesprengt.

Sie werden sagen, dass das nicht inszeniert war, dass er so ein hübsches Boot ganz einfach hätte weiterverkaufen können. Aber wem? Leeroy wusste genau, dass von Labrador bis zu den Staaten kein Mensch mehr mit dieser Ausrüstung fischen konnte.

Und jetzt, wo er das Versicherungsgeld kassierte, konnte er sich genau ein Jahr vor dem Moratorium in Nouveau-Brunswick einen schicken nagelneuen Krabbenkutter bauen lassen. Er hat einen Schiffsarchitekten gefunden, der ihm eine leistungsstarke Maschine entworfen hat, mit einem Netz, das man hinten per Motorkraft mit einer Winde einholen konnte. Hier haben die Männer ihre Netze immer noch über die Seite eingeholt, und zwar mit bloßen Händen. Er hat sich ein Boot besorgt, das mehr Krabben aufnehmen konnte als die Boote aller anderen Fischer zusammen! Er hatte ein besseres Boot, bessere Ausrüstung, einen besseren Motor und außerdem ein Echolotgerät. Können Sie sich das vorstellen?«

Er atmete tief ein.

»Und dann hat er seine nagelneuen Netze in Firmins Fanggründen ausgeworfen.«

»Firmins Fanggründen?«

»Firmin Cyr.«

»Cyr?«

»Ja. Cléments Vater.«

Morales blieb der Mund offen stehen.

»Firmin war Krabbenfischer. Er musste seine Fanggründe mit Leeroy Roberts teilen.«

»Hat es Streit gegeben?«

»Nein. Firmin hätte sich niemals um Geld gestritten, und er war der Meinung, dass es genügend Krabben für alle gab. Leeroy hatte Glück, dass er an ihn geraten war.«

»Was ist mit Firmin geschehen?«

»Ertrunken. Clément hat die Fangrechte seines Vaters übernommen. Ich war damals in den USA

»Also fischen Leeroy Roberts und sein Schwiegersohn im selben Gebiet nach Krabben?«

»Haben sie früher. Bruce hat die Fangrechte seines Vaters übernommen und sich ein anderes Boot besorgt. Leeroy dagegen hat alle Fangrechte für Kabeljau aufgekauft, die die Leute nicht mehr haben wollten. Da können Sie Gift drauf nehmen: Falls das Ministerium jemals die Kabeljaufischerei wieder erlaubt, wird sich Roberts eine goldene Nase verdienen!«

Morales dachte darüber nach, was er gerade erfahren hatte. Forests Enthüllungen eröffneten ihm zwar eine völlig neue Sicht auf Leeroy Roberts, brachten aber trotzdem kein Licht in die Umstände von Angels Tod. Er schaute auf die Akte herunter, die immer noch neben Forest lag. Der Fischer streckte seine Hand aus und schlug sie auf.

»Ich weiß, ich darf das nicht, aber es geht um meine Nichte, und die Akte liegt hier. Also habe ich reingeschaut.«

Er drehte die Akte so, dass der Ermittler sie sehen konnte. Er hatte ein Foto ganz oben auf den Stapel gelegt: das Bild von dem Knoten in dem Tau, mit dem Angels Beine gefesselt worden waren.

»Irgendetwas an diesem Foto kam mir komisch vor. Ich habe es mir lange angeschaut. Und dann habe ich verstanden, was es war.«

Er erhob sich und holte ein Stückchen Schnur von der Arbeitsplatte.

»Das haben mir die Spurensicherer schon erklärt. Das ist ein Palstek. Seeleute benutzen ihn häufig, weil er fest und unbeweglich ist.«

Keineswegs entmutigt kam Forest zu Morales zurück.

»Ich weiß, das habe ich in Ihrem Bericht gelesen. Aber ich fische schon seit Jahren mit Angel, und sie hat diesen Knoten immer auf ihre ganz eigene Art gemacht: nämlich umgekehrt. Jedes Mal, wenn ich ihr dabei zuschaute, musste ich lächeln. Es war wie ein Kind, das aus Gewohnheit eine Doppelschleife machte.«

Er nahm das Tau hinter seine Beine und setzte sich hin.

»Hätte sich Angel die Beine mit einem Palstek zusammenbinden wollen, dann hätte sie es so gemacht.«

Forest vollführte das Manöver vor Morales.

»Als die Falle sie ins Wasser gezogen hat, hätte sich der Knoten also in diesem Winkel befunden.«

Er ließ das Ende des Taus zu Boden gleiten.

Der Ermittler verglich die Knoten. Könnte es sein, dass Angel in der Nacht ihres Todes plötzlich angefangen hatte, den Palstek andersherum zu knoten? Sehr unwahrscheinlich, vor allem, weil es dunkel und sie von Betäubungsmitteln benebelt war. In diesem Zustand wäre sie bestenfalls zu instinktiven Handlungen in der Lage gewesen.

Forest zeigte auf das Foto.

»Diesen Knoten hat nicht sie gemacht, sondern jemand anders. Jemand, der ihn umgekehrt geknotet hat, um vorzutäuschen, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Jemand, der nicht wusste, dass Angel diesen Knoten niemals so herum gemacht hätte.«

 

Das Meer war ruhig, umgab zuerst seine Füße, dann seine Knöchel, seine Waden, und bald reichte ihm das Wasser bis zu den Knien. Als es seine Oberschenkel erreichte, blieb er stehen. Unter seinen Füßen bildete der Sand ein bequemes Plateau, die Wellen brachen sich mehr als hundert Meter vor ihm. Er war das erste Mal, dass er eine Wathose zum Angeln trug. Forest hatte sie ihm in die Hand gedrückt, mit einem Köder für den Felsenbarsch und dem Tipp für einen erstklassigen Fangplatz.

Es war ein wunderschöner Nachmittag geworden, und die Sonne stand stolz und strahlend am Himmel. Sie waren zu acht in Barachois. Drei jugendliche Schulschwänzer, zwei Rentner, zwei Deckhelfer, deren Saison zu Ende war, und er. Außer den Jugendlichen war jeder mit seinem eigenen Auto gekommen. Alle angelten schweigend. Einer der Deckhelfer hatte einen Hund mitgebracht, der sich, nachdem er alle Eimer beschnüffelt hatte, friedlich im Sand niedergelassen hatte. Alle trugen wie er Wathosen aus Gummi. Sébastien warf seine Schnur ins Wasser, imitierte heimlich seine Nachbarn. Wie ein Geheimnis, das die Einwohner der Gaspésie für sich und einige wenige Gäste hüteten, die genügend Zeit mitbrachten, erhob sich im Süden die verborgene Seite des Percé-Felsens, die niemals auf einer Postkarte erschien. Sébastien holte die Schnur ein.

Wenn er sich in der Gaspésie niederließe, dann würde er nach Percé ziehen. Er könnte in einem Restaurant arbeiten und zum Beispiel ein kleines Haus für sich finden. Er warf die Schnur in hohem Bogen aus.

Die anderen Angler wiegten sich leicht im Rhythmus des Wellengangs. Er betrachtete seinen eigenen Körper und stellte fest, dass auch er schwankte. Das Meer zwang ihn zu einem ruhigen, fließenden Rhythmus. Er drehte an der Spule.

Kimos an ihn geschmiegter Körper hatte sich am Samstagabend warm angefühlt. Er hatte seine Nase in ihrem Haar vergraben und tief eingeatmet. Ein tiefer Zug ihres unvergleichlichen Dufts. Wie war das für Maude gewesen, wenn sie untreu war? Wieder warf er die Schnur aus.

Plötzlich rief jemand links von ihm: »Da beißt was an!« Mit einem Ruck an seiner Schnur begann er, die Spule aufzuwickeln. Sébastien spürte, wie ihn eine Art Fieber befiel. Er drehte seine eigene Spule, und es war so weit: Seine Schnur spannte sich.

 

***

 

Joaquín hatte nicht damit gerechnet, sie dort vorzufinden. Simone Lord saß neben dem Befragungsraum und sagte kein Wort. Er sah Lefebvre an. Dieser zuckte mit den Schultern. Er mischte sich lieber nicht in ihre Streitereien ein.

Morales hatte eine lange Pause in der Herberge gemacht, um zu essen und Schmerzmittel zu nehmen, doch die Kopfschmerzen gingen nicht weg. Er hatte es eilig, Feierabend zu machen. Er musste sich mit seinen Berichten beeilen und hoffte, er hätte am Abend Zeit, alles noch einmal zu lesen.

Er betrat den Raum, in dem, sichtlich mitgenommen von den jüngsten Ereignissen, Jimmy Roberts auf dem himmelblauen Plastikstuhl neben dem Tisch wartete. Ein identischer Stuhl stand leer auf der anderen Seite.

Als er den Ermittler sah, erhob er sich. Die Arme am Körper herabhängend und den Kopf leicht gesenkt stand er vor Morales wie ein Schuljunge, der von der Klassenbesten abgeschrieben hatte und sich nun auf die wohlverdiente gerechte Strafe gefasst machte.

»Geht es Ihnen besser, Ermittler?«

Morales antwortete nicht. Er bedeutete ihm sich zu setzen, nahm gegenüber von ihm Platz, las ihm seine Rechte vor und fragte ihn, ob er alles verstanden hätte. Jimmy nickte.

»Was wollen Sie wissen?«

»Wer hat Ihnen das Geld für Ihren Muschelkutter gegeben?«

Offensichtlich überrumpelt antwortete der junge Roberts, ohne nachzudenken.

»Mein Vater.«

Dann, als sei ihm klar geworden, dass er einen dummen Fehler gemacht hatte, atmete er lange aus, schüttelte den Kopf, und Morales sah, wie seine Schultern zusammensanken. Er hatte bereits die Waffen gestreckt.

»Ich hatte meine erste Freundin, als ich sechzehn war. Sie ist schwanger geworden. Ich hab sie geliebt, wir dachten, wir seien reife Leute, wir haben das Baby behalten. Mit achtzehn habe ich geheiratet, und dann habe ich meinen Vater gebeten, mir das Geld für einen Muschelkutter zu leihen, der damals zu verkaufen stand. Eine Abmachung zwischen ihm und mir.«

Er kippelte auf seinem Stuhl hin und her. Morales sagte nichts, überlegte, welche Richtung das Geständnis nehmen würde.

»Mein Vater wollte mir kein Geld leihen, aber meine Mutter hat ihn überzeugt. Aber er hat sehr hohe Zinsen verlangt. Viel höher als alle Banken, aber ich war nicht kreditwürdig genug, um mir Geld von einer Bank zu leihen. In diesem Alter bist du ziemlich naiv, und vor lauter Stolz auf dein neues Boot merkst du gar nicht, wie dich dein Vater total über den Tisch zieht. Oder wenn du es merkst, dann traust du dich nicht, es zuzugeben. Aber meine Frau und ich, wir haben gelebt wie arme Leute.«

Er holte ein Päckchen Zigaretten raus, spielte damit und legte es auf den Tisch.

»Als mir der Hummerfischerverband einen Preis für mein Boot angeboten hat, bin ich fast ausgeflippt: Der Betrag deckte meine Schulden ab, die Zinsen ließen mir genug Geld, um wieder in die Schule zu gehen, eine Kapitänsausbildung zu machen und auf Handelsschiffen anzuheuern. So was braucht man heute. Ein Diplom.«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber genau da hat meine Frau die Scheidung eingereicht. Da ich den Muschelkutter während der Ehe gekauft hatte, musste ich ihr die Hälfte des Verkaufspreises geben. Ich habe zu ihr gesagt: ›Lass mich meinen Vater auszahlen, und wir teilen uns, was übrig bleibt.‹ Sie wollte das nicht und hat mich vor Gericht gezerrt. Da das Geld von meinem Vater kam und auf keinem offiziellen Schriftstück auftauchte, dass das Boot total verschuldet war, musste ich meiner Ex-Frau die Hälfte des Verkaufspreises geben. Mit dem, was mir übrig blieb, habe ich meinen Vater ausgezahlt. Er hat die komplette Summe verlangt, mit Zinsen über zehn Jahre, obwohl ich das Boot keine zehn Jahre behalten hatte. Er hat sogar versucht, einen Prozentsatz für den Verkauf bei mir herauszuschlagen, aber das habe ich abgelehnt. Seitdem behandelt er mich, als wäre ich sein Angestellter. Ich glaube nicht, dass er mich enterbt hat, aber er würde nicht zögern, es zu tun.«

Die Neonröhren an der Decke erfüllten den Raum mit kaltem Licht und einem unangenehmen Brummen.

»Als ich zwanzig war, hatte ich einen Vater, eine Frau, drei Kinder und einen Muschelkutter. Ich war arm, aber glücklich. Und ziemlich naiv.

Mit sechsundzwanzig habe ich alles verloren. Meine Ex hat sich mit meinem Geld eine Doppelhaushälfte in Rimouski gekauft. Sie hat dem Anwalt erzählt, dass sie sich immer um die Kinder gekümmert hat, also hat sie das volle Sorgerecht bekommen. Klar hat sie sich die ganze Zeit um sie gekümmert: Ich war ja auf dem Wasser!

Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie das läuft mit dem Unterhalt. Die berechnen das nach deinem Gehalt. Im ersten Jahr nach der Scheidung hat der Anwalt das auf der Grundlage meines letzten Jahres als Fischer berechnet. Das konnte ich drehen und wenden, wie ich wollte, es war unmöglich, wieder zur Schule zu gehen. Also hab ich das abgehakt. Ich bin zur Fischfabrik gegangen und hab allen erzählt, das wäre schon in Ordnung, ich hätte sowieso keine Lust mehr, zur See zu fahren, und dass ich die Arbeit in der Fabrik mochte … Keine Ahnung, wen ich damit überzeugen wollte!«

Jimmy Roberts biss sich auf die Lippe und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Holztisch.

»Ich hab nie auch nur einen verdammten Cent übrig. Meine Ex arbeitet schwarz, im Bistro von ihrem Freund. Sie ist Kellnerin an der Bar. Ich sag nicht, dass sie glücklich ist, ich sag nur, dass sie wahrscheinlich ganz gut Trinkgeld kriegt, und wenn sie das bei der Steuer angeben würde, müsste ich weniger Unterhalt zahlen. Meine Kinder sind zehn, elf und dreizehn Jahre alt. Ich muss noch lange zahlen. Aber das ist nicht das Schlimmste.

Das Schlimmste ist, dass Rimouski viereinhalb Stunden mit dem Auto weg ist! Das heißt, dass ich meine Kinder ungefähr zwei Mal im Jahr zu Gesicht bekomme. Sie kommen für zwei, drei Tage an Weihnachten hierher und dann wieder in den Sommerferien. Und natürlich bleiben sie nie lange, bloß zwanzig Prozent der Sorgerechtszeit. Das hat ihre Mutter ausgerechnet, um sicherzugehen, dass ich keinen Cent Unterhalt von ihr zurückverlangen kann! Danach fahren sie, und ich kriege sie erst sechs Monate später wieder zu Gesicht. Nicht dass wir uns nicht mögen, aber wir wissen nicht mehr, wie wir miteinander reden sollen. Wir gehen campen, weil meine Wohnung zu klein ist. Ich koche für sie, wir gehen in den Park, aber sie haben mir nichts zu sagen. Vielleicht ist das normal in dem Alter, dass man seinem Vater nichts zu sagen hat, aber ich weiß auch nicht, wie ich mit ihnen reden soll. Jedes Jahr fällt es mir schwerer, sie überhaupt zu erkennen, so sehr haben sie sich verändert!«

Er zuckte resigniert mit den Schultern.

»Und wenn dann diese kleinen Klugscheißerinnen auftauchen, die uns was von Feminismus erzählen und finden, dass ich dumm und rückständig bin! Verdammte Scheiße noch mal! Ich wohne in einer winzigen Wohnung, ich seh meine Kinder kaum, und mein ganzes Gehalt geht für den Unterhalt drauf, damit meine Ex schwarzarbeiten und sich den Kram von North Face leisten kann!«

»Also haben Sie mit dem Schwarzfischen angefangen?«

Er lächelte bitter.

»Es stimmt, wir haben ein paar Mal das Boot meiner Schwester benutzt. Aber das letzte Nacht, das war ein Unfall. Wir wussten nicht, dass Sie das sind. Als wir die Quads geparkt haben, haben wir Fußspuren im Matsch gesehen. Wir sind nicht die Einzigen, die nachts die Boote … benutzen. Und nach dem, was mit Angel passiert ist, sind wir ein bisschen nervös. Ich hab Sie nicht angerührt, das sollen Sie wissen.«

Seine Stimme zitterte.

»Für Sie und die meisten Leute bin ich bloß ein Versager, aber ich liebe meine Kinder. Ich habe nie die Hand gegen sie erhoben, ich habe nie gegen irgendjemanden die Hand erhoben, und ich schwöre Ihnen, ich habe Sie nicht angerührt. Wenn Sie mir eine Anklage wegen Körperverletzung aufbrummen, dann krieg ich sie noch nicht mal diesen Sommer zu sehen.«

Morales taten die Rippen weh.

»Ja, ich habe das Boot meiner Schwester heimlich benutzt. Ich sage ›heimlich‹, aber Angel wusste Bescheid. Aber sie war nicht der Typ, der mich angezeigt hätte.«

»In der Nacht, als Ihre Schwester verschwunden ist, waren Sie da im Park, um ihr Boot zu benutzen?«

Jimmy atmete schwer. Er nahm seine Zigarettenschachtel wieder in die Hand, öffnete und schloss sie geistesabwesend. Das Geständnis könnte ihn teuer zu stehen kommen. Schließlich legte er sie auf den Tisch.

»Ja. Angel hatte uns gesagt, wir sollten unsere Fallen mitnehmen.«

»Warum?«

Jimmy Roberts warf einen unsicheren Blick in den Einwegspiegel. Morales fragte sich, wonach er suchte.

»Keine Ahnung, aber sie hat das zu uns gesagt. Also bin ich mit den Babin-Brüdern zum Kai gefahren.«

»Um wie viel Uhr ungefähr?«

»Gegen halb vier.«

»Halb vier? Sind Sie sicher?«

»Ja. Die kommerzielle Fischerei war schon vorbei. Es war niemand mehr auf dem Wasser. Bloß ein paar bescheuerte Sportfischer, die dann rausfahren, wenn’s verboten ist. Aber Sie wissen ja, wie das ist: Ich bin still, du bist still. Wir tun so, als ob wir einander nicht sehen.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»In dieser Nacht war der Höchststand der Flut um halb zwei. Zwei Stunden danach ist die Strömung zu stark zum Sportfischen. Wir waren sicher, dass wir niemandem begegnen würden.«

Die Erklärung war überzeugend.

»Was haben Sie gesehen, als Sie ankamen?«

»Angels Auto stand auf dem Parkplatz, und die Schiffbruch Nr. 2 war nicht mehr am Kai.«

»Kam Ihnen das komisch vor?«

»Ja. Ich hab sogar versucht, meine Schwester anzurufen, aber ihr Handy war abgeschaltet. Also hab ich den Tag am Kai von Rivière-au-Renard verbracht. Die Babin-Brüder haben mir abwechselnd Gesellschaft geleistet. Ich hab mir Sorgen gemacht, aber ich wusste, weder mein Vater noch Clément würden mir Bescheid sagen, wenn sie etwas hören. Also hab ich gewartet und mir gesagt, wenn Bruce und mein Vater sich auf die Suche nach meiner Schwester machen würden, dann würd ich auch mitfahren. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass was passiert war. Ich wollte so schnell wie möglich mit der Suche anfangen.«

»Um Ihre Schwester wiederzufinden oder das Boot?«

Bereits während er ihn aussprach, bereute Morales diesen Satz. Er hasste Sarkasmus. Jimmy Roberts holte tief Luft. Er hatte Tränen in den Augen. Er wartete eine Minute, bevor er antwortete.

»Ich weiß: Sie fragen sich bestimmt, ob ich imstande gewesen wäre, sie umzubringen. Aber nein. Warum hätte ich sie umbringen sollen?«

Er sah Morales direkt in die Augen.

»Überlegen Sie mal, Ermittler: Ich konnte dieses Boot so oft benutzen, wie ich wollte, weil meine Schwester nichts dagegen hatte.«

»Aber sie hat von Ihnen verlangt, Ihre Fallen einzusammeln …«

»Jetzt wird das Boot verkauft. Also ist es für mich vorbei mit der Schwarzfischerei. Außerdem werde ich ja jetzt sowieso überwacht!«

Er schüttelte energisch den Kopf und spielte erneut mit seiner Zigarettenschachtel.

»Meine Schwester Angel hat mir vor zwei Jahren angeboten, für sie zu arbeiten, aber ich habe Nein gesagt. Ich hätte es machen sollen, aber das war mein falscher Stolz. Wir sind alle so in der Familie. Aber trotzdem war ich manchmal mit, wenn sie an der Küste entlanggefahren ist. Ich habe zugeschaut, wie sie Kapitänin ist, mit ihrer orangen Latzhose und ihren großen Stiefeln, wie sie im Frühling mit ihren Fallen rausgefahren ist, das Boot hat tief im Wasser gelegen, und ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich hab sie nicht beneidet. Sie ist sogar bei schwerer See rausgefahren, um zu zeigen, dass sie es genauso draufhat wie die Jungs. Sie hat sich ans Ruder gesetzt und auf ihrem Boot Reggae angemacht. Wir anderen Fischer haben das Lokalradio an, hören irgendwelche Sängerinnen aus der Gegend. Reggae! Wahrscheinlich wollte sie, dass sich ihre Deckhelfer wie im Urlaub fühlen.«

Er schüttelte erneut den Kopf.

»Ich hatte überhaupt keinen Grund, sie umzubringen. Ich habe Angel geliebt. Ich hab sie beneidet, weil sie gut im Geschäft war. Sie hatte Eier, war ein bisschen unverschämt und hatte gesunden Menschenverstand. Alles, was mir fehlt. Sie war meine große Schwester. Ich bin kein Engel, aber ich hätte ihr niemals etwas Böses getan.«

 

Er fuhr, sein Auto erbebte im Rhythmus der Musik, als sein Handy klingelte. Er hatte seinen Anteil vom Fang mitgenommen. Ein Eimer voller Felsenbarsche war auf dem Boden zwischen den Sitzen eingeklemmt, und beim Gedanken daran, sie zuzubereiten, lief ihm bereits das Wasser im Munde zusammen.

»Hallo!«

»Hier ist Kimo.«

Er bremste und hielt am Straßenrand.

»Corine hat mir deine Nummer gegeben. Sie ist für zwei Tage weggefahren und hatte Angst, dass ich mich langweile …«

Er war so verdutzt, dass es ihm die Sprache verschlug.

»Störe ich dich vielleicht?«

»Ähm. Nein! Ich bin bloß überrascht … Ich komme gerade vom Angeln zurück.«

»Ach, ja? Wo denn?«

»Barachois.«

»Ah, hast du Felsenbarsche erwischt?«

»Eine Menge! Einen ganzen Eimer voll.«

»Hast du Lust, zu mir zu kommen? Wir könnten sie am Strand ausnehmen und dann draußen kochen, ich habe einen Extraplatz dafür. Das wäre doch ein tolles kulinarisches Experiment, oder nicht?«

Er zögerte, verwirrt. Als könnte sie seine unausgesprochene Frage hören, fügte sie eilig hinzu, dass sie sich für den Abend neulich entschuldigen wollte.

»Ich war nicht besonders nett zu dir. Auch deswegen würde ich dich gerne einladen: um ein Bier zu trinken und Frieden zu schließen. Wenn du nicht willst, dass wir deinen Barsch kochen, ist das auch okay.«

Er lächelte.

»Ich liebe es, wenn mir eine Frau zeigt, wie man kocht! Ich komme!«

Er legte auf, machte die Musik wieder an und trat aufs Gas.

 

Joaquín schloss die Tür hinter sich. Als Wachtmeister Lefebvre aufgestanden war, um Jimmy Roberts zum Eingang zu bringen, hatte der Ermittler zu ihm gesagt, dass er ihn heute nicht mehr brauchte. Simone Lord saß immer noch vor dem Einwegspiegel. Jetzt, da das Licht im Vernehmungsraum ausgeschaltet war, spiegelte das undurchsichtige Glas das Bild einer Frau wider, die wusste, dass sie eine Niederlage erlitten hatte.

»Ich brauche Ihre Hilfe, Kollegin Lord.«

Sie stöhnte unwillig.

Er ärgerte sich über ihre Reaktion.

»Warum denn?«

»Um auszurechnen, wie lange die Schiffbruch Nr. 2 vom Kai von Grande-Grave bis zu der Stelle gebraucht hat, wo wir Angel Roberts’ Leiche gefunden haben.«

»Das ist keine besondere Herausforderung!«

»Wie bitte?«

»Jeder beliebige Fischer kann das ausrechnen.«

»Wunderbar. Dann vergessen Sie’s. Dann frage ich eben einen Fischer. Von dem erfahre ich, was ich wissen muss, und muss mich nicht auch noch behandeln lassen, als sei ich geistig minderbemittelt, weil ich aus der Stadt komme. Der bezeichnet mich nicht als Rentner, weil ich zweiundfünfzig bin, als Frauenfeind, weil ich ein Mann bin, und beschimpft mich nicht, weil ich vierzehn Stunden zu spät zu dieser Ermittlung gekommen bin.«

»Vor ungefähr zehn Tagen, als ich entlang der Küste in der Bucht Patrouille gefahren bin, habe ich begriffen, dass die Schiffbruch Nr. 2 von Schwarzfischern benutzt wurde.«

Sie hatte ihm beinahe das Wort abgeschnitten. Sie redete schnell, als betete sie einen auswendig gelernten Text herunter. Sie blickte ins Leere.

»Ich habe genauso reagiert wie Sie: Ich bin nachts nach Grande-Grave gefahren, um herauszufinden, was da vor sich ging. Aber ich hatte den Code für die Schranke, und die Männer haben mich nicht bemerkt. Ich habe ihnen zugesehen und hätte sie sofort anzeigen sollen. Die Fischereiaufsicht hätte ein Boot losgeschickt und die Fallen eingesammelt. Wir hätten den Hummerkutter konfisziert, und Angel hätte eine Strafe zahlen müssen. So lautet die Vorschrift, und bei jedem dahergelaufenen Schurken hätte ich nicht gezögert.«

Sie holte mühsam Atem.

»Aber ich arbeite schon lange in diesem Milieu. Ich weiß, wie viel Mut eine Frau braucht, um sich ihren Platz unter Männern zu erkämpfen. Ich habe Angel ein bisschen gekannt, ich wusste, dass sie hart arbeitet und dass sie sich verpflichtet fühlt, ihrem Bruder eine Chance zu geben. Also habe ich mit ihr geredet, anstatt die Kavallerie zu rufen.«

Sie senkte den Kopf, und Morales sah den verführerischen Wirbel derart deutlich hervortreten, dass er zusammenzuckte.

»Angel hat auf mich gehört. Sie ist zu ihrem Bruder gegangen und hat ihm eine Woche gegeben, um all seine Fallen herauszuholen. Sie hat zu ihm gesagt, wenn sie weitermachen würden, würde sie ihn und die Babin-Brüder anzeigen, um ihre Fangerlaubnis nicht zu verlieren.«

Der nächste Satz war nur ein Murmeln.

»Zwei Nächte später war sie tot.«

Simone setzte sich aufrecht hin und sah Joaquíns Blick, der sich im Glas spiegelte.

»Ich hätte Ihnen davon erzählen sollen, ich weiß. Aber ich bin auch eine Frau in einem Männermilieu, Ermittler Morales. Wenn ich die Schwarzfischer in der Nacht von Samstag auf Sonntag mit meiner Mannschaft erwischt hätte, hätte ich Ihnen am nächsten Tag alles erklärt. Das schwöre ich. Aber Sie haben sich eingemischt, und mein Plan ist ins Wasser gefallen. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde bestraft werden. Mein Chef wird sagen, ich hätte wachsamer sein müssen, und dass ein Polizist wegen mir verprügelt worden ist. Er wird sich über die Gelegenheit freuen, mir einen Verweis zu erteilen, und mich ans Ende der Welt versetzen. Wenn er von Ihnen erfährt, dass ich Angel eine Chance gegeben habe, werde ich vor die Tür gesetzt. Niemand wird mir verzeihen, dass ich eine Frau beschützt habe. Man wird mich anklagen, einen Schwarzfischer gedeckt zu haben, so wie Sie es gestern getan haben.«

Morales fehlten die Worte. Er sah die schöne, traurige Frau an, die vor dem Einwegspiegel saß.

»Entscheiden Sie, was Sie wollen.«

Sie senkte den Blick.

»Egal, was passiert, es stimmt, dass ich meine Arbeit schlecht gemacht habe. Angel ist tot, und ich kann mir das nicht verzeihen.«

Leise verließ Joaquín den Raum. Er war erschöpft und hatte noch immer Kopfschmerzen. Er verließ die Wache durch die Hintertür, um nicht dem Drachen am Eingang zu begegnen. Er setzte sich in sein Auto, griff nach seinem Handy, wählte Cyrille Bernards Nummer. Keine Antwort. Er ließ den Motor an und schlug den Weg zur Herberge ein. Er dachte nur noch an sie, die Frauen, die zur See fuhren.

An Catherine, die ihm das Herz durcheinandergebracht hatte und dann fortgesegelt war. An Angel, die es geliebt hatte, an der Küste entlangzufahren. An Simone.

 

Sie könnten auch gleich hier miteinander schlafen. Am Ufer.

Als er ankam, wartete sie auf ihn. Sie trug einen eng anliegenden bunten Hosenanzug, der ihre Brüste, ihren muskulösen Bauch und ihre Hüften betonte. Für einen Mann wie ihn, der zwar halbwegs in Form, aber nicht besonders kräftig war, hatte ihr durchtrainierter Körper beinahe etwas Beunruhigendes oder Bedrohliches.

Sie nahm das Messer und zerlegte die Fische. Er beobachtete ihre Technik, aber seine Augen wanderten schnell von ihren Fingern zu ihren Händen, ihren Handgelenken, verweilten auf den sich deutlich abzeichnenden Muskeln ihrer Oberarme und glitten dann von den Ellbogen zu den Schultern und von dort aus beinahe unwillkürlich über ihre Brüste, die nicht besonders groß waren und zu ihrem athletischen Körper passten. Sie trug keinen BH.

Er dachte an Maude. Manchmal hatte sie so gekocht, ohne BH. Jetzt erlebte er dieselbe Nähe, aber mit einer anderen Frau. Er trank einen ersten Schluck Wein, um das Bild herunterzuspülen, aber verschluckte sich, und Kimo musste ihm auf den Rücken klopfen und ihm ein Glas Wasser bringen. Sie stand ganz nah bei ihm, so nah, dass ihre Brust seinen Arm leicht berührte. Es kam ihm so vor, als wäre es Absicht gewesen, als hätte sie ihn eingeladen, um ihn zu verwirren. Das funktionierte sehr gut. Er war verwirrt. Er goss Wein nach, trank langsamer und entspannte sich.

So war der Abend weitergegangen, mit wenigen Worten, aber sehr viel Nähe. Kimo hatte draußen das Feuer angezündet, lange bevor er angekommen war, und die Wärme der Feuerstelle schützte die beiden vor der kalten Herbstluft, die sich in die Haut bohrte, sobald die Sonne untergegangen war. Sie hatten die Fische auf der Kohlenglut gebraten, gemeinsam, viel zu nah beieinandersitzend. Der Lagerfeuergeruch hatte sich mit dem leisen Duft nach Schweiß auf ihrer Haut vermischt. Der Hosenanzug, der so leicht zu öffnen schien, enthüllte ihren athletischen Körper mehr, als dass er ihn verbarg.

Sie hatten den Fisch ohne Gewürze oder Beilagen gegessen, mit den Händen, die sich auf dem Aluminiumteller berührten. »Da, probier doch mal dieses Stück«, hatte sie gesagt, und er hatte den Mund geöffnet und das warme, weiche Fleisch des Barschs und ihre Finger an seinen Lippen gespürt.

»Magst du das?« Es war ihm schwergefallen, sein Verlangen zu unterdrücken, während die Wellen am Strand rauschten und murmelten, dass das weite Meer zum Greifen nah sei und dass der Horizont die Gestalt eines sinnlichen Frauenkörpers annehmen konnte. Sie hatten ihm eine Erlaubnis ins Ohr geflüstert.

Kimo und er hatten sich die Hände gewaschen. Sie hatte ein Dessert vorbereitet. Sie war hineingegangen, um es zu holen, während er noch Holz nachlegte. Er hatte die Musik von Celia Cruz eingeschaltet, sie war mit der Mousse au Chocolat wiedergekommen. Sie hielt ihm eine Flasche Rum hin, er hatte aus der Flasche getrunken. Sie sagte, sie mochte die Musik, und fragte, ob es jetzt Zeit für einen Tanzkurs sei. Sie stellte sich mit dem Rücken zu ihm auf, wie neulich Abend in der Bar. Sie nahm Sébastiens linken Arm und schlang ihn fest um ihre Schultern und ihren Hals. Dann ergriff sie seine rechte Hand und ließ sie an ihrer Taille hinabgleiten, bis er den Hüftknochen spüren konnte und sie sich auf seinen leichten Druck hin ein wenig vorbeugte. Sie schmiegte ihre Schulterblätter an seine Brust und presste ihren Hintern gegen seine Erektion. Sie murmelte: »Tanz mit mir.«

Und er gehorchte.

Er drehte sie herum, in diesem eng anliegenden Hosenanzug, der nur mit einem einzigen Knoten befestigt war, der unter der Hand des jungen Mannes dahinglitt und sein Begehren weiter anfachte. Als er tat, als hätte er genug, hörte sie auf einmal auf zu spielen und küsste ihn.

Sie schmeckte nach Schokolade, nach Rum, nach Salz und Schweiß. Ihre Zunge war süß und glatt, und trotz der hastigen Leidenschaft prallten sie nicht mit den Zähnen aneinander. Sébastien hielt sie an sich gepresst. Seine Hände wanderten von ihren Hüften unter ihren Hintern. Er hob sie hoch und presste sie an sich. Sie schlang ihre Beine um seine Taille, und alles, was er fühlte, alles, woran er denken konnte, als er sie küsste, war, dass ihr Geschlecht direkt auf seinem lag.

Hinter ihnen befand sich eine breite Sonnenliege mit Matratze, Kopfkissen und den notwendigen Polstern, um ihre Hüften anzuheben und zu stützen, damit er sanft und tief in sie eindringen konnte. Er hatte Lust darauf. Er setzte sie ab. Sie nahm seine Hand und legte sie auf den Knoten, der den Hosenanzug zusammenhielt. Er zog an dem Band, und ihr Körper wurde im roten Schein des Feuers sichtbar. Er trat einen Schritt zurück, um die deutlich ausgeprägten Muskeln und die kleinen Brüste zu bewundern, ihre dunklen Brustwarzen unter den Sternen. Sie trug keine Unterwäsche, und als Sébastiens Augen zu dem winzigen, samtigen blonden Dreieck zwischen ihren Schenkeln wanderten, fühlte er, dass sich die Falle um ihn geschlossen hatte.

Er beugte sich über sie, ließ seine Hand zwischen ihre Schenkel gleiten und hörte sie stöhnen. Und er sagte sich, alles war vollkommen. Der Tag, das Angeln, diese Frau, die Lust auf ihn hatte. Er hörte das Meer gegen die Felsen am Strand hämmern, so wie seine Lenden gegen Maudes geschwungenen Hintern. Oder Kimos. Er schluckte, atmete den Duft der jungen Frau an ihrem Hals ein, ging tiefer hinunter und drückte dann seine Hand, seinen Daumen, in die blonde Feuchtigkeit hinein. Sie klammerte sich an seine Schultern, öffnete den Mund und stieß ein Stöhnen aus, das die Musik des Meeres unterbrach. Sie stöhnte nicht wie Maude. Auf einmal erschauerte Sébastien. Die junge Frau spürte es, klammerte sich fest, spreizte die Beine. Er bewegte die Hand erneut, mit mehr Kraft diesmal. Maudes Beine, ihr Bauch, ihre Hüften. Seine Hand bewegte sich hart und beinahe brutal. Sie stieß eine schrillere Klage aus. Maudes Lachen, ihre Stimme, ihr ganzer Körper, ihr Geruch, ihre Augen. Die anderen Männer.

Sébastien Morales zog seine Hand weg und wich einen Schritt zurück. Ungeschickt hob er ihren Hosenanzug auf und entschuldigte sich. Ohne die Mousse au Chocolat anzurühren, ließ er sein Auto stehen und kehrte zu Fuß zur Herberge zurück.