Das Brautkleid

Angel Roberts erwachte von einem Platschen. Es war das Geräusch des Wasserspiegels, der unter dem Gewicht einer herabstürzenden Holzfalle zerriss. Einer Hummerfalle, da war sie sich sicher. Tausende Male hatte sie dieses Krachen gehört, mit dem das Meer aufplatzte und sich wieder schloss, dieses schnalzende Knirschen, das klang wie ein Segel, das in Stücke gerissen wurde.

Sie lächelte, befriedigt über ihre Schlussfolgerung, und versuchte dann, das Hämmern zu identifizieren, das es begleitete. Es klang ein wenig wie das Klappern ihrer Ankerkette, doch war es nicht das regelmäßige, metallische Rasseln in der Winde. Ehrlich gesagt benutzte sie diese Kette nicht besonders häufig. Den Anker übrigens auch nicht.

Das anhaltende Geräusch weckte ihre Neugier. Nach und nach erwachte sie und nahm ihre Umgebung wahr: das Wasser, das gegen den Schiffsrumpf plätscherte, den Geruch nach Salz, den Schmerz in ihrem rechten Arm, der hinter ihrem Rücken verdreht war, den Stoff ihres Kleides, der ihr in der feuchten Nachtkälte auf der Haut klebte. Mühsam schlug sie die Augen auf. Gegen das Ruderhaus gelehnt, erblickte sie die weit offen stehende Heckklappe ihres Hummerkutters und die Kette, die sich ins Meer hinab entrollte. Der Drehring, der die Kette mit dem Ankertau verband, ging über Bord, und nun wurde das Tau hinab in die Tiefe gezogen. Sie versuchte zu erraten: Woran war es wohl festgebunden?

IDENTIFIKATION DER VERSTORBENEN PERSON

Name: Angel Roberts, Alter: 32 Jahre, Wohnort: Cap-aux-Os, Todesursache: Ertrinken

Ein plötzlicher Ruck brachte sie aus dem Gleichgewicht. Ihr Körper wurde über das Deck geschleift, und sie schlug sich den Kopf an. Ihr Kleid rutschte hoch und entblößte ihre Beine, die Kälte biss ihr in die Schenkel, ihre rechte Hand verdrehte sich seltsam hinter ihrem Rücken. In einem Anflug von Panik krallte sie sich mit der Linken in die Vollgummimatte, die über dem Deck lag, und versuchte, die Bewegung zu bremsen. Sie endete unvermittelt von selbst. Wahrscheinlich hatte das Gegengewicht ihres Körpers den Abstieg der Hummerfalle in die Tiefe aufgehalten. Oder womöglich hatte die Falle bereits den Grund erreicht. Das Tau um ihre Waden schloss sich fester. Angel riss sich zusammen, versuchte, die Beine zu bewegen. Was ging hier vor?

Sie holte tief Luft und begriff, dass es jetzt so weit war: Sie wurde umgebracht. Sie beruhigte sich, atmete aus und blickte hoch zum Himmel. Das sanfte Gesicht des Mondes lächelte freundlich zu ihr herab. Sie hatte den Mond immer geliebt, »den trügerischen Mond«, wie ihre Mutter ihn genannt hatte. »Wenn er geformt ist wie ein D, denkst du, er nimmt ab, und wenn er geschwungen ist wie ein C, bist du sicher, er nimmt zu. Aber der Mond ist trügerisch, meine Tochter, merk dir das: Wenn er abzunehmen scheint, nimmt er in Wahrheit zu, wenn er vorgibt zu wachsen, nimmt er eigentlich ab.«

Ein beunruhigendes Geräusch zerfetzte die Luft, der Stoff ihres Kleides zerriss, und dann zog das Tau sie ein Stück weiter auf das Wasser zu. Angel wehrte sich nicht. Sie hatte gewusst, dass es so kommen musste.

TODESUMSTÄNDE (Auszug)

Am 22. September aß Madame Roberts gegen 18 Uhr bei ihrem Vater zu Abend. Anwesend waren dabei ihr Ehemann Monsieur Clément Cyr, ihr Vater Leeroy Roberts, ihr älterer Bruder Bruce und ihr jüngerer Bruder Jimmy. Madame Roberts und ihr Ehemann feierten vier Tage im Voraus ihren zehnten Hochzeitstag. Sie hatten sich für diesen Abend entschieden, weil es ein Samstag war.

Gegen 22 Uhr begaben sich Monsieur Cyr und Madame Roberts zum Gasthaus Le Noroît in Rivière-au-Renard, wo die Wirtin Corine das alljährliche Fest zum Ende der Fischsaison ausrichtete. (Siehe im Anhang die Liste der anwesenden Personen.)

Gegen 23 Uhr 15 bat Madame Roberts ihren Mann, sie nach Hause zu bringen, da sie angab, müde zu sein. Monsieur Cyr fuhr seine Gattin heim und kehrte gegen ein Uhr nachts auf das Fest zurück.

Im Rutschen hatte sich ihr Körper leicht gedreht und dabei ihre Hand freigegeben. Angel verspürte ein Gefühl der Übelkeit, doch sie war nun hellwach. Sie drehte den Kopf und erblickte die leuchtenden Scherben auf dem Wasserspiegel, die der Mond quer über das Meer verstreute. Während neben dem Hummerkutter nur ein paar spärliche Splitter glänzten, wurden sie zum Horizont hin immer dichter und zahlreicher. Vom Festland aus wirkten sie wie ein silberner Pfad, eine mit beweglichen Pailletten gepflasterte Straße, ein mit tausend schimmernden Lichtern geschmückter Teppich. »Romantischer Quatsch«, pflegte ihre Mutter zu sagen. »Wenn sich der Mond im Ozean spiegelt, ist da weder Silber noch eine Straße. Versuch ruhig, irgendetwas zu erhaschen, und du wirst sehen: Alles rinnt dir durch die Finger! Der Mond ist trügerisch und das Meer eine einzige Täuschung.«

Angel rutschte auf das Heck zu, näher an den schaukelnden Rand des Wassers, das ihr Boot hin und her wiegte. Eine kalte Welle küsste ihre Füße, leckte an ihren Beinen. Sie hätte sich winden können, versuchen, das Tau aufzuknoten und sich damit an ihrem Boot festzubinden, sich gegen das Schicksal auflehnen, versuchen, an Bord zu bleiben, aber sie tat es nicht. Bald würde ihr Kutter auf das offene Meer hinaustreiben und sie selbst hinab auf den Grund gezogen werden.

VERMISSTENMELDUNG (Auszug)

Monsieur Cyr kehrte am Sonntag, den 23. September um zehn Uhr morgens nach Hause zurück. Seine Frau war unauffindbar, er versuchte mehrfach, sie auf ihrem Mobiltelefon zu erreichen, aber sie antwortete nicht.

Beunruhigt begab sich Monsieur Cyr an den Kai von Grande-Grave, wo er das Auto seiner Gattin fand und feststellte, dass ihr Hummerkutter nicht mehr am Bootsanleger festgemacht war. Also rief er Jean-Paul Babin an, einen der Deckhelfer seiner Frau, der ihm mitteilte, dass er nicht an Bord des Schiffes sei. Monsieur Babin sprach mit seinem Bruder Guy Babin, der seinerseits Madame Roberts’ Bruder Jimmy benachrichtigte, der wiederum seinen Vater anrief. Da niemand Madame Roberts gesehen hatte, begannen die Fischer, die Stellen abzusuchen, die sie gerne befuhr, wenn sie allein auf See unterwegs war.

Gegen 15 Uhr benachrichtigte Monsieur Cyr die örtliche Polizei, meldete das Verschwinden seiner Frau und ihres Hummerkutters. Daraufhin begannen die Mannschaften der Küstenwache mit den Suchmaßnahmen (siehe Bericht im Anhang).

Das Boot schaukelte sacht hin und her. Angel streckte ihren linken Arm aus, berührte die kalte metallische Kante des Hecks. Sie lächelte. Auf der gesamten Gaspé-Halbinsel gab es nur zwei Frauen, die einen Hummerkutter besaßen. Bald würde dieser Satz Vergangenheit sein.

»Früher gab es einmal zwei Kapitäninnen in der Gaspésie«, würden die Seeleute in Zukunft sagen und hinzufügen, dass eine der beiden auf See ums Leben gekommen war.

»Und noch nicht mal bei Sturm!«

Sie würden erklären, dass Frauen auf See nichts zu suchen hätten, dass Fischerei Männersache sei. Sie würden das erzählen, als sei es offensichtlich, denn schließlich war ihr Beruf hart, und sie sahen sich selbst gern als zähe Kerle.

Sie würden daran erinnern, dass Angel die Tochter eines verbitterten ehemaligen Kabeljaufischers gewesen sei, dass ihr älterer Bruder einmal im Verdacht gestanden hatte, einen Konkurrenten ermordet zu haben, und dass ihr jüngerer Bruder beim Schwarzfischen erwischt worden war. Sie würden erzählen, dass ihr Ehemann zuerst seinen Vater und dann auch noch seine Frau auf See verloren habe – und dass er niemals darüber hinweggekommen sei. Sie würden sagen, das Meer verschlinge jeden, der sich ihm allzu bereitwillig anvertraute.

AUTOPSIEBERICHT (Auszug aus der Zusammenfassung)

Es konnte keinerlei Spur von physischer Gewalt ante mortem festgestellt werden. Keinerlei Zeichen der Verteidigung gegen einen Angreifer, weder an den Armen noch an den Händen oder unter den Fingernägeln. Das Tau, das die Beine des Opfers auf der Höhe der Waden umschnürt hatte, war fest zugezogen, jedoch nicht so sehr, dass es den Blutkreislauf eingeschränkt hätte.

Die erhöhte Konzentration von Alkohol und die Spuren von Beruhigungsmitteln, die in Madame Roberts’ Blut gefunden wurden, legen die Vermutung nahe, dass sie im Augenblick ihres Todes bewusstlos war. Wäre sie wach gewesen, hätte sie vermutlich versucht, das Tau um ihre Beine zu lösen, oder beim Rutschen über das Deck mit ihren Fingern die Gummimatte zerkratzt. Es wurden jedoch weder Fasern noch Gummireste unter ihren Fingernägeln gefunden.

Das Wasser durchtränkte den Stoff, machte ihre Schenkel nass. Die Wellen hatten genau die richtige Höhe, die Strömung war genau berechnet. Jedes Detail stimmte, es handelte sich um einen wohlgeplanten Tod. Die Inszenierung war perfekt: das Brautkleid, der Hummerkutter und dieser ungreifbare Weg des Mondes, auf den sie nun gezogen wurde, wie ein Fisch, der sich in einen kupferfarbenen Köder verbissen hatte. »Wir klammern uns an märchenhaften Trugbildern fest, meine Tochter, und unser Glaube an Träume macht uns zu Verdammten des Meeres.« Ihre Mutter hatte recht gehabt, aber Angel bereute nichts.

ZEUGENAUSSAGEN

Für den Vorfall gibt es keine unmittelbaren Zeugen.

Auf einmal machte das Boot einen Sprung nach vorne. Für einen Sekundenbruchteil schien Angel in der Luft zu schweben, wie ein Kormoran, der seine Schwingen ausbreitete und sich dann fallen ließ. Der Hummerkutter glitt auf das offene Meer hinaus, und das Wasser schloss seine eiskalten Zähne um sie. Einen Augenblick lang trieb ihr Kleid unbeweglich auf der Oberfläche. Angel holte ein allerletztes Mal Luft, breitete die Arme aus, nicht um Widerstand zu leisten, sondern um sich zum Himmel hinzudrehen. Mit weit aufgerissenen Augen warf sie einen letzten Blick auf den Mond. Sie sollte ihre Augen niemals wieder schließen.