Anscheinend war ich so vorausschauend gewesen, das »Bitte nicht stören«-Schild draußen aufzuhängen, ehe ich wegsackte, denn niemand klopfte an meine Zimmertür, und ich konnte bis zwölf Uhr schlafen. Das Nikko war dazu ge dacht, asiatische Geschäftsleute zu versorgen, die um den halben Planeten geflogen waren, und besaß erstklassige Verdunkelungsvorhänge. Ich putzte mir die Zähne, bestellte beim Zimmerservice einen Badeanzug – es ist wirklich ein gutes Hotel – und ging zum Pool, um zu schwimmen, bis die Nachwirkungen von Tagen und Nächten, Schnaps und Jetlag, Gewalt und Verletzung das Weite suchten.
Ich hatte eine Reihe von Prellungen und Kratzern, die im Wasser brannten, aber nach ein paar Dutzend Bahnen wanderte mein Gehirn in die Schwimmzone, meine Aufmerksamkeit wurde wässrig, und ich paddelte auf und ab, auf und ab, bis mir die Arme wehtaten und das geprellte Knie pochte. Als ich auch noch Wadenkrämpfe bekam, musste ich aufhören. In meinem Zimmer ließ ich die Dusche knapp unter »Verbrühung« laufen, bis das Kondenswasser an den Spiegeln herunterrann. Als ich mit der Handkante ein Sichtloch freiwischte, sah ich, dass ich die Farbe einer Riesengarnele angenommen hatte.
Nass und schwitzend setzte ich mich auf die Bettdecke und starrte meinen Laptop an, der zu mir zurückstarrte. Ich konnte mich nicht einmal mehr erinnern, ob ich die Fotos von den Schrauben mit dem Nagellack auf mein neues Handy übertragen hatte. Eine Evil Maid, die meine Schwimmpause genutzt hatte, konnte sich am Abend auf eine Belobigung freuen.
Für das japanische Frühstücksbuffet des Hotels war es zu spät, aber der Zimmerservice schickte mir genug Sushi hoch, um ein Korallenriff im Pazifik zu entvölkern. Als ich damit fertig war, fühlte ich mich entspannt und gesättigt. Irgendwo in meinem Eingangsfach lag sicher schon der neue Vertrag mit Ilsa und Xoth, der genau beschrieb, welche Dienste man von mir erwartete.
Zwischen den alltäglichen geschäftlichen Mitteilungen waren sicherlich auch verwirrte Nachrichten von Marcus und Ange, ebenfalls von Tanisha, falls man sie endgültig freigelassen hatte. Die Abenteuer der vergangenen Nacht verblassten schon wie ein verkaterter Traum, ein dunstiges Durcheinander, das ich ganz automatisch in einem eigenen, fest verschlossenen Kästchen verstaut hatte.
Ich bin gut darin, untätig in einem Hotelzimmer herumzusitzen, aber da eine behagliche Zukunft auf mich wartete und die vertraute Sinfonie meiner Heimatstadt von den Straßen weit unten durch die Fenster hereindrang, juckte es mich in den Füßen, und ich wollte etwas laufen.
Die Kleidung der vergangenen Nacht stank nach Schweiß und war voller Schmutz und Blut, aber der Zimmerservice lieferte mir Sweatshirts und Hosen mit dem Logo des Wellnessbereichs. Ich zog die Socken und die Unterwäsche auf links. Am Union Square gab es einen Laden von Gap , wo ich ein paar unauffällige Normcore-Sachen kaufen konnte. Die Sportsachen waren sicherlich nicht zu lässig für den Tenderloin-Distrikt, wo gelegentlich Leute im Schlafanzug oder an warmen Tagen nur in der Unterwäsche umherspazierten.
Auf den ersten Blick war das Tenderloin-Viertel, wie ich es kannte. In einer Gasse schoss sich jemand Heroin, Sexarbeiterinnen baggerten schon am Nachmittag vor den Absteigen Kunden an, vor Eckläden standen alte Männer wie Statuen und hielten sich an Schnapsflaschen in Papiertüten fest; doch nach und nach fielen mir auch die Veränderungen auf: ein teures Café, das wie maßgeschneidert für die Marcus Yallows dieser Welt schien, ein »Farm to Table«-Restaurant mit mehrfach überkritzelter Speisekarte unter Plexiglas, wo sich junge Tech-Typen mit riesigen Bärten und Tech-Frauen mit glänzenden Haaren drängten, Minigemüse aßen und so laut plapperten, dass man es noch auf der Straße hören konnte.
San Francisco hatte sich in den Jahren, die ich nicht hier gewesen war, weiterentwickelt: Meine Freunde, meine Familie, meine Stadt – alles verwandelte sich in etwas Neues, das mir nur noch entfernt bekannt vorkam. Wer wäre ich jetzt, wenn ich in der Stadt geblieben wäre? Hätte ich geholfen, Oakland zu gentrifizieren, und ein kleines Apartment oder ein heruntergekommenes Haus gekauft, das ich abends und am Wochenende in mühsamer Kleinarbeit neu gestrichen hätte, wenn ich mich nicht gerade mit Codezeilen abrackerte, die die Klicks auf die Werbung erhöhten? Vor einem Jahrzehnt hätte ich mich an der Macht der Technologie, einen Abdruck im Universum zu hinterlassen, berauscht. In den Jahren dazwischen war ich ernüchtert, und statt Berufung war es einfach nur ein Job, was heißen soll, ich war erwachsen geworden. Vielleicht hätte ich bleiben und als Kind in einer Stadt leben können, die einfach nur wollte, dass alle spielten und es sich gut gehen ließen (während sie die Klicks auf die Werbung verbesserten).
Ich hätte meiner Mutter eine gute Tochter sein, einmal in der Woche mit ihr essen gehen und an anderen Tagen mit ihr telefonieren können.
Ich kaufte wie geplant die Normcore-Sachen in dem GAP -Laden und ließ den Sportanzug auf der Treppe einer Absteige liegen. Irgendjemand würde das Zeug finden und nutzen können. Auf der Straße, so hatte ich gehört, hat alles seinen Nutzen.
Bis ich mich entschlossen hatte, im Nikko auszuchecken und mir ein weniger exklusives Lager zu suchen, war die Zeit zum Auschecken längst vorbei. Auf dem Telefon im Zimmer brannte eine rote Lampe, weil mir der Empfang mitteilen wollte, dass sie »der Einfachheit halber« eine weitere Übernachtung auf meine Kreditkarte buchen würden. Ich fand, dass ich noch einen Abend mit ausgezeichnetem Zimmerservice-Sushi leicht überleben konnte.
Über Torrent lud ich eine ganze süchtig machende Staffel einer historischen Spionageserie von HBO herunter. Meiner Ansicht nach war das entweder gut für meine professionelle Weiterbildung oder mindestens etwas zu lachen. Neben dem Bett schloss ich den Laptop an, zog eine Flanell-Schlafanzughose und ein übergroßes T-Shirt von GAP an und startete die Wiedergabe, während ich auf das Sushi wartete.
Es klopfte, als ich die ersten beiden winzigen Wodkaflaschen aus der Minibar vertilgt hatte und mein Magen knurrte. Ich räumte das Durcheinander von Einkaufstaschen und Toilettenartikeln vom Schreibtisch, um Platz für das Tablett zu schaffen. Dann öffnete ich die Tür und gab mir große Mühe, nüchtern zu wirken.
»Stellen Sie es da drüben …« Weiter kam ich nicht. Carrie Johnstone drängelte sich herein und schloss hinter sich die Tür.
»Hallo«, sagte sie, während sie die Tür verriegelte.
Tanisha hat mir einmal das Leben gerettet.
Ich war keine gute Schülerin, aber meine Lehrer wussten, dass ich zu klug war, um durchzufallen, ließen mir deshalb eine Menge Unsinn durchgehen und gaben mir trotzdem noch Noten, die gerade ausreichten, was mich nur noch mehr ermutigte. Vor dem Wechsel zur Highschool hatte ich zwei Klassen übersprungen, daher konnten sie meine miesen Leistungen immer mit meiner »Unreife« und meiner »schwierigen Sozialisierung« erklären.
Na gut, vergessen wir die alten Geschichten. Ich hatte wirklich Schwierigkeiten im sozialen Umfeld. In der neunten Klasse saß ich als Zwölfjährige zwischen Vierzehnjährigen. Sie hatten Schamhaare und Titten, bekamen Pickel und wuchsen schnell, und ich war klein, unauffällig und schüchtern und hatte den Übungs-Büstenhalter, den meine Mutter mir aufgedrängt hatte, ganz unten in der Unterwäsche versteckt. Wenn ich in die Schule ging, hatte ich Angst, weil mich die anderen Mädchen sehen konnten, wenn wir uns zum Sportunterricht umzogen. Einen Monat später war ich von dem traumatisiert, was ich gesehen und gehört hatte. Der Altersunterschied betrug nur zwei Jahre, aber das war eine halbe Ewigkeit.
Natürlich versuchte ich, »erwachsen« zu sein – in einer anderen Zeit hätte ich zu rauchen begonnen. Stattdessen fluchte ich, trank demonstrativ Kaffee, klaute Miniröcke und Sport-BH s und zog sie in der Schule auf der Toilette an. Ich versuchte, mit den coolsten, zickigsten Mädchen ins Gespräch zu kommen, die sofort bemerkten, dass ich nicht einmal wichtig genug war, um heruntergemacht zu werden, und mich ignorierten.
Ende des zehnten Schuljahrs: Ich stand allein am Schulcontainer und versuchte, so tragisch wie möglich auszusehen, nachdem ich es gerade zum ersten Mal mit Lidschatten versucht hatte. Ich hatte die anderen Mädchen heimlich genau beobachtet und versucht, sie daheim vor dem Badezimmerspiegel nachzuahmen. Irgendwann dachte ich, ich hätte es drauf, und hatte mir vor dem ersten Läuten die Augen geschminkt. Jetzt spielte ich »Teenager« und legte die ganze Tragik meines jungen Lebens in meinen Auftritt.
Den älteren Schüler, der sich mir da draußen näherte, hatte ich schon einmal gesehen, aber seinen Namen wusste ich nicht. Er sah gut aus, war groß, eine Art Proto-Hipster mit viel altem Jeansstoff am Körper und einem ausgebleichten Chambray-Shirt, das ihm die Ausstrahlung eines Urban Cowboy verlieh. Ich mochte die Engineerboots, die abgewetzt waren und trotzdem glänzten und seine Aufmachung vervollständigten. Seine braunen Augen waren groß und gefühlvoll und funkelten freundlich, als er mich anlächelte.
»Alles klar?«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er mit mir sprach, und einen weiteren, um zu erkennen, dass er meine tragische Aufmachung meinte. Ich richtete mich stolz auf, weil meine Darbietung funktioniert hatte. Er war süß, wenn auch nicht ganz mein Typ, und er war alt und erfahren und schenkte mir seine Aufmerksamkeit.
Er hieß Riley Turkle und war wirklich ein großartiger Zuhörer. Er stellte mir viele aufmerksame Fragen, die mich ganz und gar öffneten, und dann schlug er vor, wir sollten uns nach Schulschluss treffen, um »abzuhängen«. Er überredete mich, mit ihm zum Sutro Tower hochzulaufen und den Sonnenuntergang zu betrachten, stellte mir weitere Fragen, hörte zu, sog alles auf, hing an meinen Lippen. Seine Aufmerksamkeit war wie der Suchschweinwerfer auf Alcatraz und traf mich mit voller Wucht, wann immer ich ihn heimlich ansah. Er kaufte mir einen Burrito, brachte mich nach Hause und gab mir sogar die Hand, statt mich kalifornisch-lässig zu umarmen.
Ich schwebte die Treppe zu meinem Schlafzimmer hoch, schob eine CD von Leonard Cohen in den Player, holte meinen Zeichenblock hervor, kritzelte herum und träumte vor mich hin. Ich ging nicht so weit, meine Unterschrift als »Mrs. Masha Turkle« auszuprobieren, aber es ging mir durch den Kopf.
Falls Sie das dumm und übereilt finden, vergessen Sie nicht: Ich war vierzehn. Ich war eine Ansammlung tobender Hormone, hatte Pickel und Launen. Bis dahin war ich noch nie verknallt gewesen und wusste nicht, wie es sich anfühlen musste. Soweit ich es sagen konnte, war mir gerade etwas Kosmisches passiert, als hätte sich die Realität auf 32,56 Grad Nord-Nordwest eingependelt und kräftig gebebt. Die Welt war nicht mehr wie zuvor. Die Farben sahen anders aus. Meine Haut fühlte sich anders an. Es kribbelte und war auf eine Weise komisch, die ich jetzt als Geilheit identifizieren kann, für die ich damals aber keine Begriffe hatte.
Riley fing mich am nächsten Morgen vor dem Schultor ab und sagte etwas wie: »Ich hatte gehofft, dir zu begegnen.« Ich wäre beinahe auf der Stelle geschmolzen, als das Blut in Bereiche schoss, wo es nichts zu suchen hatte, in die Wangen und Ohren, in den Bauch und an eine Stelle ein Stückchen unter dem Bauch.
Er fand mich in meiner freien Stunde und in der Mittagspause, und ich schwebte durch die restlichen Stunden, bis er mich nach der Schule noch einmal fand und mir in einer Gasse seine liebsten Graffiti zeigte und dann einen Skatepark und einen Hotdog-Wagen auf der Market Street, dessen Krakauer »prachtvoll« waren. Ich musste ihm zustimmen, weil ich keine Vergleichsmöglichkeit hatte.
Am dritten Tag hielt er meine Hand.
Am vierten Tag küsste er mich, als wir in der BART die Rolltreppe hinauffuhren.
Am fünften Tag holte Tanisha mich an der Ecke ein, als ich auf den Geary Boulevard abbiegen wollte. Sie ging neben mir her.
Früher waren wir mal befreundet gewesen, doch nach der Mittelschule hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich hatte einige Kurse zusammen mit Tanisha besucht und war mit ihr in einer Arbeitsgruppe gewesen, aber in dieser Phase waren wir keine engen Freundinnen mehr. Trotzdem, ich kannte sie. Sie hatte vor einer geschlossenen Boutique auf der Treppe gestanden und offensichtlich auf mich gewartet, doch auch wenn ich sie kannte, ich war eher überrascht als erfreut.
»Äh, hallo?«
»Hallo, Masha. Ich muss mit dir reden.«
»Oh.«
»Können wir da entlang gehen?« Sie zeigte bergauf, ein Umweg, auf dem wir ebenfalls zur Schule gelangten, aber die Hauptstraßen mieden.
»Von mir aus.«
Sobald wir vom Geary Boulevard abgebogen waren, sah sie sich demonstrativ nach links, nach rechts und nach hinten um. Meine Gefühlslage wechselte von »überrascht« zu »befremdet«.
»Stimmt was nicht?«
Sie sagte nichts. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie dachte angestrengt nach, ernsthaft und mit gerunzelter Stirn. Tanisha war in der Schule immer sehr eifrig, eines der braven Mädchen, die hart arbeiteten, aber mit so einer Miene hatte ich sie noch nie gesehen. Sie seufzte. Dann noch einmal.
»Riley Turkle ist ein Vergewaltiger«, sagte sie schließlich.
Ich hatte einen Eiszapfen im Bauch, doch ich ging weiter und ließ mir nichts anmerken.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ich habe es gehört.« Das klang verzagter, als ich es beabsichtigt hatte. Meine Gedanken tauten auf und rasten, und mir fiel etwas Hässliches ein: Eifersüchtiges Miststück, wütende Ex-Freundin, du willst mich manipulieren. Doch während ich dies dachte, kam mir ein zweiter Gedanke: Es ist nicht von der Hand zu weisen. Irgendwie hatte ich die ganze Zeit gewusst, dass ein hübscher älterer Bursche wie Riley absolut keinen Grund hatte, einer jungen Außenseiterin wie mir auf die Pelle zu rücken. Jedenfalls keinen guten Grund. Es sei denn, er hatte seinen guten Ruf bei den Mädchen verscherzt, für die er sich hätte interessieren sollen. Ein Teil in mir war klug genug, sich die Sache anzusehen und zu denken: Sein Verhalten ist doch wirklich schwer zu erklären, oder?
Natürlich gab es in mir auch einen anderen Teil, der eine andere Geschichte hören wollte: die Geschichte, in der ein adretter Prinz hinter mein komisches Gesicht, meine schlechte Haltung, meine ungleich großen Titten und meine Pickel blicken konnte und seine Prinzessin sah. Bei seinem Kuss hatte ich das Gefühl gehabt, von einem Märchenprinzen umworben zu werden. Aber Märchen sind nicht wahr.
»Na gut, du hast es gehört.« Sie seufzte. Und noch einmal. »Pass auf, ich hatte im neunten Schuljahr eine gute Freundin, sie hieß Sruthi Reddy. Riley war hinter ihr her, als wäre sie das einzige Mädchen auf der ganzen Welt, er schrieb ihr Gedichte, sang Lieder für sie und trug ihr die Bücher. Er überredete sie, nachts hinauszuschleichen, weil ihre Eltern so streng waren. Er nahm sie mit, und sie sahen sich die Sterne an. Ich habe all das hautnah mitbekommen, weil sie meine beste Freundin war. Deshalb wusste ich, dass etwas passiert war, als sie mich nach einem dieser Abende nicht anrief. Am Vorabend hatte er sie gebeten, sich mit ihr am Sutro Tower zu treffen und den Vollmond anzusehen. Er wollte etwas Gras besorgen. Sruthi war aufgeregt, weil sie sich damit alt und erfahren fühlte.
Sie ging nicht ans Telefon und antwortete nicht auf meine SMS . Als ich sie über das Festnetz anrief, sprang der Anrufbeantworter an. Ich machte mir Sorgen, aber es war ein Schultag, und ich musste am Abend mit meiner Band proben. Deshalb schickte ich ihr noch eine SMS , ehe ich ins Bett ging. Auch darauf antwortete sie nicht.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und ging zu ihr. Ich wartete, dass sie herauskäme, ich wartete und wartete und würde zu spät in die Schule kommen. Schließlich schellte ich endlos lange und wollte schon wieder gehen, aber ich dachte, ich versuche es noch ein letztes Mal. Da ging endlich die Tür auf.
Sie war völlig verändert. Wie ihr eigenes Gespenst. Ein Auge war fast zugeschwollen, ihre Wange war aufgedunsen, und sie hielt einen Arm gebeugt und verkrampft vor sich, als könnte er gleich abfallen.
Als sie mich sah, machte sie ein komisches Geräusch und wollte die Tür wieder schließen. Es war der schrecklichste Laut, den ich je gehört hatte. Als wäre sie so verletzt, dass sie nicht einmal richtig weinen konnte. Ich streckte die Hand aus, sodass sie mich eingequetscht hätte, wenn sie die Tür weiter geschlossen hätte. Sie fuhr zurück, als hätte ich sie schlagen wollen, und wirkte so verängstigt und klein, dass es mir das Herz brach. ›Sruthi, bitte, rede mit mir.‹ Da begann sie zu weinen, zuerst leise, aber dann schluchzte sie, drehte sich um und rannte von der Tür weg. Ich ging rein und folgte ihr hoch in ihr Zimmer. Sie lag auf dem Bauch auf dem Bett, das Gesicht im Kissen vergraben. Ich setzte mich neben sie und streichelte ihr die Haare. Als das Weinen nachließ, erzählte sie es mir.
Riley Turkle ist ein Vergewaltiger. Sie haben geknutscht und etwas gefummelt, aber sie wollte noch keinen Sex haben und sagte es ihm auch. Also redeten sie darüber. Er hatte an diesem Abend ein Kondom dabei und meinte: ›Schatz, ich habe diesen besonderen Abend für uns geplant, also entspann dich, und alles wird gut.‹
Sruthi liebte Riley Turkle. Er war der erste Typ, der sich jemals für sie interessiert hatte. Sie hatte noch nie Nein zu ihm gesagt, aber an diesem Abend sagte sie Nein. Sie sagte es laut, und als er sie packen und sie ausziehen wollte, stieß sie ihn weg und wehrte sich. Sie hat geschrien und gekreischt. Er ist ein großer Kerl, dieser Riley Turkle. Ein großer, starker Vergewaltiger. Stärker als Sruthi. Als er fertig war, fragte er sie, ob es für sie gut war, sagte, dass er sie liebte und so glücklich sei, weil sie so einen großen Schritt gemeinsam getan hätten. Gemeinsam!«
Sie war stehen geblieben. Ich wollte nicht, aber auch ich blieb stehen. Ich wollte mich umdrehen und wegrennen. Ich wollte ihr sagen, dass sie log. Ich wollte zehn Minuten in der Zeit zurückspringen und mir die Finger in die Ohren stecken.
»Sie haben Sruthi auf ein Internat geschickt, eine strenge Schule, wo man kein Handy benutzen durfte und wo sie die Briefe, die man schicken wollte, vorher überprüften. Ihre Eltern waren überzeugt, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Sie wollten nicht mit mir über sie reden. Als ich das letzte Mal dort vorbeikam, stand das Haus zum Verkauf.«
Ich senkte den Blick. Ich suchte nach einem Kästchen, in das ich dies sperren konnte, aber es war zu groß für meine Kästchen und passte nirgends hinein. Ich musste mir später ein größeres Kästchen bauen.
Sie seufzte. Eine lange Pause. Noch ein Seufzen. »Sag doch was.«
Ich schüttelte den Kopf. »Was soll ich jetzt deiner Ansicht nach tun? Mich für deine Freundin rächen?«
Sie schwieg lange, bis ich sie endlich ansah. Sie hatte den Mund weit aufgerissen.
»Nein!«, stieß sie endlich hervor. »Ich wollte dich warnen, damit es nicht auch dir passiert.«
Oh. »Oh.« Ich zitterte. »Danke.«
Sie schnaufte schwer. »Ich will nicht, dass es irgendjemandem noch einmal passiert.«
»Danke.« Das hatte ich schon gesagt, aber mehr fiel mir nicht ein.
»Wie geht es dir?«
Fast hätte ich gesagt, es sei alles in Ordnung. Dann spähte ich in mein Kästchen. »Nicht so gut.« Zu meinem Entsetzen musste ich sogar weinen. Ich wusste nicht einmal, warum. Meinetwegen? Wegen Sruthi? Wegen uns beiden?
»Darf ich dich umarmen?« Tanisha war eine Vorreiterin der Einvernehmlichkeit. Ich nickte. Sie roch nach Zahnpasta. »Komm, wir gehen zur ersten Stunde. Wir haben jetzt zusammen Geschichte.«
Bei der Vorstellung, zur Schule zu gehen, musste ich mich fast übergeben. Das Frühstück brannte in meiner Kehle. Wenn ich Riley das nächste Mal sah, würde ich mit ihm Schluss machen, und dann würde er mich nach dem Grund fragen, und ich müsste entweder lügen oder die Wahrheit sagen. Ich wusste nicht, was schlimmer wäre.
»Ich gehe nach Hause«, erklärte ich. »Ich rufe an und sage, dass ich Krämpfe habe.«
Sie nickte. Ihr Kinn drückte leicht auf meine Schulter, dann ließ sie mich los und sah mir in die Augen. »Ich glaube, du solltest jetzt nicht allein sein. Ich weiß, dass ich nicht gern allein wäre. Ich habe gesehen, wie Riley Sruthi den Kopf verdreht hat. Er ist sehr gut darin, absolut grässlich zu sein.«
Ich sagte kein Wort. Ich ging schon seit Jahren auf dieselbe Schule wie Tanisha, wir standen uns aber nicht mehr so nahe wie früher. Wollte ich sie wirklich nach Hause mitnehmen, damit sie mir die Hand hielt, während ich einen Nervenzusammenbruch hatte?
Anscheinend schon.
Später an diesem Tag spielte ich zum ersten Mal im Leben Harajuku Fun Madness, nur die Heimversion, und löste mit Tanisha Online-Rätsel. Wir halfen uns gegenseitig, recherchierten für die teuflisch schwierigen Rätsel und konnten dabei auf unser gleichermaßen großes Wissen über Manga und Anime zurückgreifen. Wir spielten so weit, wie wir kamen, ohne uns in die Stadt hinauszuwagen und physische Hinweise zu suchen (das kam später).
Am nächsten Tag überwand ich mich und ging zur Schule. Wie verabredet, traf ich mich mit Tanisha an der Ecke, und als Riley Turkle uns am Tor entgegenkam, machte er ein komisches Gesicht, sobald er Tanisha bemerkte. Wir erwiderten ungerührt seinen Blick. Als er meinen Namen sagte, hielt ich inne, sah ihm direkt in die Augen und erklärte ihm, wenn er jemals wieder meinen Namen ausspräche, würde ich ihm das dreckige Maul mit der Faust verstopfen. Er schien wütend, und dann stellte sich Tanisha neben mich. Wir bauten uns vor ihm auf und starrten ihn an. Er zog den Kopf ein, schlich davon und sprach nie wieder mit uns. Von da an machten wir es uns zur Aufgabe, mit allen Mädchen zu reden, die Riley Turkle anquatschte. Am Ende des Jahres machte er sofort kehrt und lief weg, sobald er mich sah.
Am nächsten Tag stellte Tanisha mich ihrer besten Freundin Becky vor, und von da an waren wir das unbesiegbare Harajuku-Fun-Madness-Team.
Wieder einen Tag später hatte ich wegen Riley Turkle einen verspäteten Zusammenbruch und heulte mir auf der Toilette neben der Cafeteria die Augen aus dem Kopf. Ich stellte mir vor, was hätte geschehen können, wenn Tanisha nicht eingegriffen hätte. Ich will nicht sagen, dass ich gestorben wäre, wenn Riley Turkle eine Gelegenheit bekommen hätte, mich zu vergewaltigen, aber ich bin hundertprozentig sicher, dass Tanisha mir das Leben gerettet hat.
Carrie Johnstone sah nicht sehr gut aus. Sie trug noch dieselben Sachen wie am Vortag (war das wirklich erst einen Tag her?). Als ich den irren, fiebrigen Blick sah, hätte ich eine Menge Geld darauf verwettet, dass sie seit unserer letzten Begegnung keine Sekunde geschlafen hatte.
»Masha, bitte bestellen Sie den Zimmerservice ab. Ich will nicht gestört werden, während wir uns unterhalten.«
War sie bewaffnet? Es war schwierig, eine Pistole mitzuschleppen, wenn man so oft flog wie Carrie Johnstone, und wenn man über so viele Grenzen reiste wie sie, war es praktisch unmöglich. Die zehn Tage Wartezeit, die in Kalifornien galten, gaben mir die Sicherheit, dass sie nicht einfach auf dem Weg hierher an einem Waffenladen gehalten und eine Glock gekauft hatte. Vielleicht war sie aber auch gar nicht darauf angewiesen. Zyz unterhielt in vielen Städten, in denen sie arbeiteten, Rüstkammern. Besonders an nervigen Orten wie San Francisco. Also beschloss ich, vorsichtshalber lieber doch davon auszugehen, dass sie bewaffnet und halb von Sinnen war.
Mindestens.
Ich griff zum Hörer und bestellte den Zimmerservice ab.
Sie ging vorsichtig zum Stuhl, als balancierte sie auf einem Hochseil, und ließ sich langsam dort nieder.
»Masha …«, setzte sie an und unterbrach sich gleich wieder. Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
»Eine Flasche bitte. Aus der Minibar.« Denn der Wasserhahn war im Bad, und dort konnte sie mich nicht sehen, wenn ich ihr ein Glas holte. Das Wasser war das Einzige in der Minibar, was ich am vergangenen Abend nicht getrunken hatte. Ich gab ihr eine Flasche. Fidschi natürlich, weil nichts so sehr den Luxus zum Ausdruck brachte, wie das Trinkwasser in einem Krisengebiet einzukaufen.
Sie schraubte die Flasche auf und kippte drei Viertel davon in einem Zug hinunter. Den Rest goss sie sich über die Hände und die Handflächen und rieb sie kräftig gegeneinander, die übrige Feuchtigkeit verteilte sie auf Handgelenken und Unterarmen. Ihre schmutzige Haut wirkte danach ein wenig sauberer. Das graue Wasser tropfte auf den grauen Teppich. Sie wischte sich die Hände an der Tagesdecke ab und warf die leere Plastikflasche über die Schulter weg.
»Masha, es hätte so gut werden können. Begreifen Sie das?«
Die Desorientiertheit verschwand schlagartig. Ich wusste, wie ich mit einer depressiven Mutterfigur umgehen musste, die den Eindruck hatte, ihre besten Jahre lägen hinter ihr, und ich trüge irgendwie die Schuld daran. Ich hatte eine Menge Erfahrung darin, mit diesem Psychodrama klarzukommen.
»Lassen Sie sich nicht unterkriegen«, antwortete ich. Ich holte mir selbst ein Wasser und trank. Auf einmal war meine Kehle sehr trocken. »Bauschen Sie einen kleinen Rückschlag nicht zur Katastrophe auf.«
Wieder dieser fiebrige Blick, völlig ungehemmt. »Masha, das ist kein kleiner Rückschlag. Sie müssen begreifen, dass dies das Ende von Zyz ist. Das Ende von etwas, in das viele mächtige Menschen eine Menge Mühe und Geld gesteckt haben. Wenn wir Glück haben, kauft jemand die Firma auf und zerschlägt sie. Jemand wie Xoth.« Ihre starren Augen waren wild und blutunterlaufen. »Sie schnappen sich die profitablen Abteilungen und werfen alles weg, was eine Konkurrenz darstellen könnte.«
Sie packte die Tagesdecke mit beiden Händen und knetete sie rhythmisch.
Dann schloss sie die Augen, was sogar noch beängstigender war. »Masha, was sollen wir nur mit Ihnen tun?«
Wäre sie meine Mutter gewesen, dann hätte ich an dieser Stelle versucht, sie von der Dachkante zurückzuholen. Doch sie war nicht meine Mutter. Sie war meine übergriffige Ex-Chefin. »Sie könnten Ihren Arsch aus meinem Hotelzimmer befördern. Das wäre ein guter Anfang«, sagte ich. »Am Ende kommen Sie noch auf die Idee, mich zu fragen, ob ich einen Job für Sie habe. Im Augenblick machen Sie keinen besonders guten Eindruck.«
Darüber musste sie sogar lächeln, doch die Augen blieben geschlossen. »Masha, erinnern Sie sich an Costa Rica?«
Natürlich erinnerte ich mich an Costa Rica.
»Costa Rica war ein Spaziergang. Ich habe dafür gesorgt, dass es so glimpflich verlief. Ich habe die Leute zurückgehalten, die es für Sie viel schlimmer machen wollten. Viel, viel schlimmer. Es gibt erheblich unangenehmere Gegenden als Costa Rica.«
In ihrer Stimme lag etwas, das ich noch nie gehört hatte, als wäre sie in weiter Ferne und hätte Dinge gesehen und getan, über die ich nicht näher nachdenken wollte. Ich schauderte und war froh, dass sie die Augen noch nicht wieder geöffnet hatte.
Ich nahm meinen Mut zusammen. »Dann ist es doch ein Glück, dass Zyz untergeht, oder? Anscheinend hat die Firma viele schreckliche Leute in die Lage versetzt, viele schreckliche Dinge zu tun.«
»Wenn Sie das so sehen, dann vergessen Sie aber, was Sie selbst getan haben …« Jetzt schlug sie die Augen wieder auf. »Masha, Sie haben sich ein höllisches Bett gerichtet, und jetzt liegen wir darin.«
»Carrie, was wollen Sie von mir? Warum sind Sie hergekommen?«
»Ich wollte Ihnen eine Chance geben. Es ist noch nicht zu spät. Wir wissen von dem Treffen der Vertreter von Xoth mit der Stadt, das morgen stattfinden soll, und wir wissen, dass Sie dabei sein werden. Sie müssen nicht hingehen, und wenn Sie gehen, dann müssen Sie nicht das sagen, was Xoth von Ihnen erwartet.«
Ich sollte an einer Besprechung von Xoth und der Stadtverwaltung teilnehmen? Morgen? Wie schön, dass es mir jemand mitgeteilt hatte. Andererseits entsprach es Ilsas Stil, die Figuren nach Belieben und ohne Vorwarnung auf dem Schachbrett umherzuschieben, sofern sie die Betreffenden eingekauft hatte. Carrie Johnstones Führungsstil lief eher darauf hinaus, die Menschen zu manipulieren, sodass sie ihr helfen wollten, weil sie ein Kumpel war, und andererseits den Leuten Angst zu machen, weil sie so brutal sein konnte. Ilsas Vorgehensweise war viel einfacher. Sie war der Boss, und alle anderen taten, was sie verlangte. Streng hierarchisch. Sehr deutsch. Früher hatte ich das mal für erfrischend direkt gehalten, frei von der amerikanischen Illusion, wir spielten alle in demselben Team.
Ich fragte mich, wie Ilsa mich zu der Sitzung zurückgeholt hätte, falls ich nach der Demonstration in ein Flugzeug gestiegen wäre, um mich in einen karibischen Ferienort abzusetzen – wahrscheinlich hätte sie es erfahren, sobald ich das Ticket gekauft hätte. Xoth lieferte dem Bankensektor eine Menge Antibetrugssoftware, und es war ein offenes Geheimnis, dass sie auf die Transaktionsdaten zugreifen konnten, wenn sie wollten. Das galt natürlich auch für Zyz, denn so hatte Carrie Johnstone erfahren, in welchem Hotel ich wohnte.
Selbstverständlich war eine Besprechung mit der Stadtverwaltung angesetzt, und ich stand wieder auf der Gehaltsliste von Xoth. Ich hatte einen neuen Job und sollte das tun, was ich schon in Slovstakien getan hatte. Nebenbei konnte ich Tanisha und ihren Freunden helfen, genau wie ich es bei Kriztina getan hatte. Weil das so gut ausgegangen war.
Ich hatte mich längst für eine Seite entschieden.
»Carrie, ich glaube, Sie sollten jetzt gehen. Zyz ist erledigt. Sie haben letzte Nacht mit dem Auto-Trick Morde begangen. Das wird ans Licht kommen. Für Sie gibt es keine Zukunft. Auf keinen Fall. Verlassen Sie die Stadt. Verlassen Sie das Land. Ändern Sie Ihren Namen. Besorgen Sie sich in einem karibischen Steuerparadies einen neuen Pass und schicken Sie ihren Lebenslauf an gescheiterte Staaten. Ihr habt verloren, und zwar ziemlich übel, und ihr habt verloren, weil ihr es vermasselt habt, und nicht, weil Xoth oder ich irgendetwas getan haben. Nichts, was ich tun kann, könnte die Geschichte umschreiben. Forensische Untersuchungen bringen klare Ergebnisse. Irgendjemand wird Ihnen früher oder später die Angriffe der vergangenen Nacht nachweisen, und dann gehen Sie alle unter. Die einzige Frage ist, wann das geschieht, nicht, ob es geschieht. Verschwinden Sie hier, Sie traurige, gescheiterte, alte Frau, gehen Sie weit, weit weg und reden Sie nie wieder mit mir. Denken Sie nicht einmal an mich. Sprechen Sie meinen Namen nicht aus. Sie haben diese Situation geschaffen, und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, müssen Sie ganz allein tragen. Wenn Ihre Vorgesetzten, diese soziopathischen Arschlöcher, irgendjemandem Kugelfischgift spritzen wollen, weil er es vermasselt hat, dann wird es nicht mich treffen. Das wissen Sie. Sie wissen es ganz genau.«
Als das alles aus mir herausplatzte, waren wir beide aufgeregt und wütend. Sie biss die Zähne zusammen und konnte ihren Zorn kaum noch zügeln, und ich war aus der Haut gefahren, es war aus einem meiner vielen Kästchen hervorgebrochen, wo ich diese Dinge unter Verschluss hielt, bis ich sie taktisch geschickt einsetzen konnte.
Doch als ich sprach, veränderten wir uns beide. Ich wechselte von heißer zu kalter Wut, kalt und schneidend, und ich wusste, was meine Worte bei ihr anrichteten. Es war Berechnung, als ich mit dem Messer zustieß, ich wusste genau, auf welche verletzlichen Stellen ich zielte. »Traurig«, »gescheitert«, »alte Frau« – jedes Wort ein Stich, präzise wie ein chirurgischer Eingriff.
Ich hatte ihr Feuer gelöscht. Auch sie wechselte von heiß zu kalt, aber es war keine kalte Wut, sondern die taube Kälte der Niederlage. Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut, es war mir sehr vertraut. Dieses Gefühl, einen völligen, katastrophalen Rückschlag erlebt zu haben, war in so vielen langen Nächten mein schlimmster Feind gewesen, aber jetzt waren wir Verbündete. Ich hatte diesem Gefühl etwas geopfert, ich hatte Carrie Johnstone auf seinen Altar gelegt, und sie blutete in den Kelch.
Ich war fertig, und sie war erledigt. Sie stand auf, sah mich an, raffte aus den Lumpen einen Rest von Würde zusammen und bedeckte sich damit. Vorsichtig und langsam verließ sie das Zimmer, mit hochgerecktem Kinn, die Augen geradeaus gerichtet. Ich folgte ihr mit einem Schritt Abstand und atmete ihr in den Nacken, als sie ging, gab ihr so eine letzte Erinnerung mit auf den Weg für die langen schlaflosen Nächte, in denen sie auf Rache sann.
Ich war sehr in Versuchung, ihr noch einen Tritt in den Hintern zu versetzen, als sie auf den Flur trat, aber das wäre übertrieben gewesen. Ich war stolz auf mich, weil ich eine erwachsene Entscheidung getroffen und sie nicht in den Arsch getreten hatte.
Ich versetzte ihr einen Tritt in den Arsch. Ich pflanzte ihr den Fuß auf den flachen, breiten Arsch, der in dem schmutzigen Kostüm steckte, direkt über der sichtbaren Linie ihres Schlüpfers, mitten in eine schlaffe Arschbacke, und stieß zu, als wollte ich eine Tür auftreten. Dabei tat mir das Knie weh. Sie stolperte zwei Schritte und zog rechtzeitig die Hände hoch, um den Sturz abzufangen, bevor ihr Gesicht auf der anderen Seite gegen die Wand prallte. Dann ging sie zu Boden.
Ich schloss die Tür, verriegelte sie und legte die Kette vor. Ich wollte unbedingt durch den Türspion linsen, ob sie draußen davorstand, doch ich verkniff es mir.
Erst als ich mich wie betäubt auf das Bett setzte und abwesend die Wand über dem Schreibtisch anstarrte, fiel mir wieder meine Befürchtung ein, sie könnte eine Waffe haben. Anscheinend hatte sie keine mitgebracht, denn sonst hätte sie mir damit eine Kugel in den Kopf gejagt. Das hätte ich jedenfalls im umgekehrten Fall getan.
Ich spielte mit dem Gedanken, noch einmal den Zimmerservice zu rufen, doch mir war der Appetit vergangen, und in meinem Magen brodelte die Säure.
Bis zu diesem Augenblick hatte ein Teil von mir in irgendeinem Kästchen über einen doppelten Verrat nachgedacht: Ich konnte mich weigern, Xoth zu helfen, ich konnte mich weigern, für Zyz zu schweigen, und ganz vorne in Tanishas Parade dem Ruhm entgegen marschieren, während Marcus Yallow und sein Mädchen mich anstarrten, als sei ich eine rachsüchtige Walküre.
Doch nach dem, was gerade geschehen war, brauchte ich jemanden, der mich beschützte. Carrie Johnstone lebte in einer feudalen Welt, in der jeder den Schutz eines Herrschers brauchte – sogar Hofmagier wie ich. Ich musst eine Kreatur von Xoth werden, um mich vor Zyz zu schützen.
Irgendwo in einem Kästchen starb der kleine, alberne Traum, etwas Tapferes und Dummes zu tun.
Ich überlegte, ob ich Ilsa anrufen und sie nach den Einzelheiten des Treffens fragen sollte, beschloss aber dann, dass sie mich jederzeit finden und informieren konnte, falls sie mich dabei haben wollte. Es war würdelos, ihr hinterherzujagen.
Stattdessen packte ich meine Tasche, checkte aus und stieg in ein richtiges Taxi, das mich zu meiner Mutter brachte. Das Taxi benutzte ich aus Prinzip. Ich wusste genau, dass Uber durchlässig war wie ein Sieb und meine Bewegungsdaten an jeden verkaufen würde, der sie haben wollte. Das Taxi nahm Bargeld und störte sich nicht daran, wenn mein Handy während der Fahrt ausgeschaltet blieb.
Es war schwierig, das Handy ausgeschaltet zu lassen. Es gab eine Menge Kästchen mit der Aufschrift »MOM «, und ohne die beruhigende Ablenkung der sozialen Medien, ein niedliches Video oder wenigstens ein paar wütende Schlagzeilen über die Schlechtigkeit der Welt blieb ich in meiner eigenen Haut stecken und konnte nur noch durch das Fenster zu den vertrauten Straßen hinausstarren, die überhaupt nicht mehr vertraut waren. Ich hatte furchtbar viel Zeit damit verbracht, sie zu betrachten, als ich in langsamen MUNI -Bussen hin und her gefahren war, und mir ein allgegenwärtiges, halb bewusstes Wissen über die Umgebung angeeignet. San Francisco war die einzige Stadt auf der Welt, die ich auf diese Weise kannte. Kein anderer Ort hatte sich so tief meiner Psyche aufgeprägt.
Doch San Francisco hatte sich verändert. Sehr sogar, und unübersehbar. So viel Geld . Halb verfallene Gebäude, in denen früher Studenten gehaust hatten, oder baufällige Buden mit abblätternder Farbe, deren alte Bewohner sich nicht einmal einen neuen Anstrich leisten konnten, glänzten jetzt wie neu und waren wie aus dem Ei gepellt. Alles, was man niederreißen konnte, war zerstört und durch neue Hochhäuser ersetzt. Alte Kramläden, deren Schilder schon in den 1950er Jahren gemalt worden waren, hatten geschlossen und waren exklusiven Fahrradläden, Boutiquen, vornehmen Restaurants und den Cafés gewichen, die ich aus Shoreditch, Nolita, Yonghegong und Ruzinov kannte.
Natürlich kann man nie nach Hause zurückkehren. Aber nun war ich da und fuhr nach Hause, und San Francisco prügelte diese Tatsache förmlich in mich hinein. Lag es nur daran, dass ich jetzt älter war, oder hatten mir die Jahre, die ich in anderen Ländern verbracht hatte und in denen ich jemand anders geworden war, ganz und gar die Möglichkeit genommen, mich an irgendeinem Ort so heimisch zu fühlen wie Marcus Yallow und Tanisha? Sie kannten diese Verbundenheit und empfanden eine tiefe Vertrautheit mit der Stadt, ihren Vierteln und den Menschen, eine Million Gesichter, die sie eine Million Mal im Bus oder an der Kreuzung gesehen hatten, keine Freunde, nicht einmal Bekannte, und trotzdem keine Fremden.
Als wir uns Richmond und dem Haus meiner Mutter näherten, breitete sich eine Kälte in mir aus. Ich gewann den Eindruck, ich hätte mich selbst unwiderruflich zur Fremden erklärt.
Ich bezahlte das Taxi bar, nahm meinen Rucksack und die Einkaufstaschen, die im Augenblick mein einziges Gepäck darstellten – alles andere lagerte bei Tanisha, und ich hatte keine Ahnung, wo Tanisha war –, und sah dem Taxi nach.
Es war einer dieser kühlen, nebligen Abende in San Francisco, wenn die Luft nicht einmal besonders kalt war, doch die Feuchtigkeit kroch einem bis in die Knochen, und der Wind saugte einem die Wärme aus der Haut. Ich stand schaudernd auf dem Gehweg und betrachtete das Haus, in dem ich aufgewachsen war.
Es war kleiner als in meiner Erinnerung, die beiden Stockwerke waren bescheiden im Vergleich zu den Painted Ladies, an denen ich vorbeigefahren war, und in der Dämmerung wirkte die verblasste und abblätternde Fassade geradezu schäbig. Der Briefkasten war mit Werbung vollgestopft, und in der Zufahrt stand immer noch derselbe alte Corolla, inzwischen voller Rostflecken und mit durchhängender Federung. Hinter den Wohnzimmerjalousien brannte Licht. Ich sah genau hin und wartete darauf, dass sich drinnen ein Schatten bewegte. Es war kalt.
Endlich überwand ich mich und ging zur Tür. Meine neuen Laufschuhe, kein Markenfabrikat, schlurften über das Pflaster. Ich sah zu, wie sich mein Finger zur Schelle hob und darauf drückte. Ich hörte meinem Atem zu, der in die Lungen eindrang und wieder herauskam, während mein Herz raste.
Zuerst tat sich drinnen nichts. Vielleicht war Mom auf dem Sofa eingeschlafen, oder sie saß vor dem Fernseher und dachte, ich sei ein Axtmörder oder von den Zeugen Jehovas, und fragte sich, ob sie das Risiko eingehen sollte, die Tür zu öffnen. Ich hatte einen Schlüssel am Schlüsselring, doch der lag in New Jersey in einem Lagerschrank, in den Xoth alle meine Sachen gepackt hatte, nachdem ich den Auftrag in Slovstakien übernommen hatte.
Schließlich hörte ich ihre Schritte und das Knarren der dritten Treppenstufe von oben. Die Bugwelle der Luft, die sie verdrängte, wehte unter der Tür durch. Ich roch den unverkennbaren Geruch meines Heims und musste eine Hand gegen die Tür stemmen, um mich festzuhalten.
Dann zog sie die Tür auf. Ich sah sie an, und sie sah mich an. Mein Gott, war sie alt geworden. Klein und gebeugt, sodass sie noch schmächtiger wirkte als sowieso schon, so viele Falten um die Augen und um den Mund, im Ausschnitt und am Hals und …
»Masha?«
»Hi, Mom.« Mehr bekam ich nicht heraus. Ich hatte gerade fünfundzwanzig Minuten allein mit meinen Gedanken in einem Taxi verbracht, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was ich sagen wollte, wenn ich vor meiner alten, entfremdeten Mutter stand. So geht es einem Mädchen, das viele Kästchen hat.
»Masha?«, sagte sie noch einmal und hob eine Hand zum runzligen Dekolleté. Sie trug ein T-Shirt mit V-Ausschnitt und Laufhosen, sie war barfuß, die Zehennägel waren schartig. Ihre Fingernägel waren rissig, und einige waren abgekaut. Eine schreckliche Angewohnheit, von der ich dachte, sie hätte sie längst abgelegt.
»Hi, Mom«, sagte ich, weil es beim ersten Mal so gut funktioniert hatte. Dieses Mal versuchte ich es mit einem Grinsen. Das wirkte, denn sie umarmte mich. Und wie sie mich umarmte.
Und wissen Sie was? Es störte mich überhaupt nicht. Nein, es gefiel mir sogar.
Mom fragte mich, ob es mir gut ginge, ob ich Schwierigkeiten hätte, ob ich etwas gegessen hätte. In dieser Reihenfolge. Es war genau wie früher. Sie brachte mir Kekse, ein Glas Tee mit einem Zuckerwürfel und einen abgestoßenen Teller mit tödlich süßen Geleefrüchten, die ich seit Slovstakien nicht mehr gesehen und seit meiner Pubertät, als ich mich für meine Figur geschämt hatte, nicht mehr gegessen hatte. Sie schmeckten köstlich.
Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas, warf mir immer wieder rasche, ungläubige Blicke zu und runzelte wegen der Prellungen, die ich mir auf der Demonstration zugezogen hatte, missbilligend die Stirn.
Als ich den Tee halb getrunken hatte, hielt sie es nicht mehr aus. »Masha, was tust du hier?«
»Freust du dich denn nicht, dass ich dich besuche?«
Ein scharfer Blick sollte mir sagen, wie ernst es ihr war. »Masha …«
Als ich zu Hause auf diesem Sofa saß, den dunklen Tee trank und süße Zitronengeleebonbons aß, brachen viele Kästchen auf, die ich vor so langer Zeit versiegelt hatte, dass ich nicht einmal mehr wusste, was sich in ihnen befand.
Zu meinem großen Entsetzen stellte ich fest, dass ich den Tränen nahe war. »Bin gleich wieder da«, quetschte ich heraus, dann sprang ich auf und lief nach oben ins Bad, nahm immer zwei Stufen auf einmal, eilte an den vertrauten, fremden und verblassten Familienfotos vorbei, die neben mir an der Wand emporklommen. Ich schloss die Badezimmertür ab und barg mein Gesicht in einem Handtuch. Das Schluchzen tat weh, weil es von einem tiefen Ort in mir hochkam. Ein ferner Teil von mir, tausend Kilometer weit weg, beobachtete das Weinen und identifizierte es als Laute, die ein krankes oder sterbendes Tier von sich gab. Aus der Nähe betrachtet, zitterte und keuchte ich, und mein Zwerchfell verkrampfte sich, bis ich kaum noch atmen konnte.
Natürlich folgte mir meine Mutter, klopfte an und drosch die Faust gegen die Tür. »Masha!«, drängte sie. Es war der Tonfall, den sie angeschlagen hatte, als ich im fünften Schuljahr die Treppe hinuntergefallen war. Ich hatte wild mit den Armen gerudert, um mich abzubremsen, war aber immer schneller geworden und schließlich mit dem Kopf und dann mit dem Gesicht unten gegen die Fußleiste geprallt. Meine Lippe platzte auf, und von einem Zahn sprang ein Stück ab.
Ich schluckte und biss die Zähne zusammen, doch die Tränen wollten nicht versiegen. Ich wollte rufen: »Alles in Ordnung!«, doch ich konnte nicht. Nichts war in Ordnung. Jetzt war sogar die ferne Beobachterin besorgt. Es sah übel aus.
Ich hatte den Trick meiner Mutter vergessen. Sie schob eine Büroklammer in die Sperre der Badezimmertür und entriegelte sie.
Ihre Hand auf meiner Schulter öffnete ein Portal zu einem anderen Augenblick in meiner Vergangenheit, wieder ein Brecheisen, das alte, versiegelte Kästchen aufhebelte. Was auch in mir geschah, die vertraute Hand machte alles nur noch schlimmer.
In meiner Kehle brannte es, säuerlicher Tee und Geleefrüchte. Ich schluckte alles hinunter. Moms Hand strich mir über den Rücken, bewegte sich in Kreisen, die ich so gut kannte.
Ich schluckte, keuchte, schluckte. Bekam endlich das Zwerchfell unter Kontrolle. Dann die Lungen. Das Zittern ebbte ab.
»Es tut mir leid, Mom.«
»Es muss dir nicht leidtun.« Auch sie weinte jetzt. Sie hatte offenbar sogar Angst.
»Ehrlich.« Ich riss mich zusammen. Die Kästchen knallten zu. »Es ist dir gegenüber nicht fair, wenn ich nach so langer Zeit auftauche und dir das alles aufbürde. Bitte, ich komme schon zurecht. Du musst dir keine Sorgen machen.«
Sie schnitt eine Grimasse.
»Na gut, natürlich kannst du dir Sorgen machen. Ich habe eine schwere Woche hinter mir. Ich habe meinen Job verloren, bin hergeflogen, hatte ein Drama mit meinen Freunden und meinem ehemaligen Arbeitgeber – genauer gesagt, mit zwei ehemaligen Arbeitgebern –, und dann hat mich die Firma, die mich zuerst hinausgeworfen hat, wieder unter Vertrag genommen, und ich verdiene mehr als vorher. Wirklich, es geht mir gut.«
»Masha, dir geht es nicht gut.«
»Nein, ehrlich, das liegt nur am Jetlag und an dem Stress, und …«
»Hör mir bitte zu. Es geht dir nicht gut.« Sie streckte sich, stöhnte und hielt sich den Rücken. »Komm doch wieder ins Wohnzimmer, mein Körper ist zu alt für das hier.«
Auf dem Sofa nahm sie meine Hand mit einer Festigkeit, die keinen Widerspruch duldete.
»Ich will nicht mir dir darüber reden, wie lange du mich nicht besucht oder mir geschrieben oder keine E-Mail geschickt hast. Was ich dir sagen will, hat nichts damit zu tun. Ich sage es dir, weil ich deine Mutter bin und weil es dir niemand anders sagen kann.
Masha, du steckst in Schwierigkeiten. Das kann ich sehen. Ich weiß nicht, ob es wegen eines Jungen oder wegen des Jobs ist oder aus welchem Grund auch immer. Ich weiß es, weil ich selbst in Schwierigkeiten gesteckt habe. Der Tod deines Vaters, die Trennung von meiner Familie, als ich sie verlassen habe und hergekommen bin – es gab Zeiten, da war es …« Sie wedelte mit den Händen. »Es schien hoffnungslos.«
Sie schwieg lange und starrte in weite Fernen. Als ich etwas sagen wollte, wandte sie sich wieder an mich. Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Weißt du, dass ich d ich beinahe weggegeben hätte? Als du fünf oder sechs warst. Ich war hier ganz allein, hatte gar nichts, kein Geld und niemanden, der mir helfen konnte. Du brauchtest so viel Aufmerksamkeit, Kleidung, Essen und Unterricht, du wolltest zum Spielen zu Freundinnen gefahren werden, und ich wäre fast zusammengebrochen. Masha, mir sind die Haare ausgefallen. Ich konnte nicht schlafen, und einmal oder zweimal bin ich nachts aufgestanden, weil mir übel war. Ich dachte, ich hätte Krebs, und du würdest eine Waise. Ich war nicht versichert. Also konnte ich mich nicht mal untersuchen lassen.
Ich habe mit einer Sozialarbeiterin gesprochen und die Formulare ausgefüllt, um dich wegzugeben, in eine Pflegefamilie. Sie lagen wochenlang auf meinem Nachttisch, jeden Tag habe ich die Dokumente und den Stift in die Hand genommen und mich an den Küchentisch gesetzt, aber dann bin ich wieder aufgestanden und habe sie zurück neben das Bett gelegt.«
Sie wandte sich wieder ab und starrte das alte Poster vom Muir-Woods-Nationalpark an, das gerahmt über dem Kamin hing. »Dann habe ich es ausgefüllt.«
Das alles hatte ich nicht gewusst . Ich hatte verschwommene Erinnerungen daran, dass ich sechs war und Englisch lernte, dass ich im ersten Schuljahr nichts verstand und mich elend fühlte, kein Mädchen wollte meine Freundin sein, ich ging jeden Tag mit komischem Essen – es war nie genug – im Brotbeutel in die Schule, und ich fühlte mich die ganze Zeit absolut beschissen, weil ich mich ständig mit meiner Mutter stritt.
Aber ich erinnerte mich nur daran, wie ich mich fühlte. Ich glaube, mir entging damals völlig, wie sie sich fühlte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich wirklich in eine Pflegefamilie geben wollte. Was man auch sonst über meine Mutter sagen konnte, ihre ganze Identität beruhte auf dieser gefühlsduseligen, erdrückenden, überwältigenden Mamabär-Routine, der ich mein ganzes Leben lang entfliehen wollte. Es ging mir nicht in den Kopf, dass sie so etwas tun wollte. Eher hätte ich sie mir in einem Stripclub oder als Kongresskandidatin vorstellen können.
»Masha, ich war so nahe daran.« Wieder eine Pause, dieses Mal so lang, dass ich sie heimlich anschaute, um mich zu vergewissern, dass sie fertig war. Doch sie hielt mich mit erhobenen Händen auf, öffnete und schloss zweimal, dreimal den Mund und keuchte erstickt. »Ich wollte dich weggeben, nach Hause fahren, mich in die Badewanne legen und mir die Pulsadern aufschneiden. Ich habe dich auf dem Weg zum Sozialdienst zum Walgreens mitgenommen und Rasierklingen gekauft. Dann kaufte ich das BART -Ticket, und wir standen schon auf dem Bahnsteig, aber dann habe ich mich umgedreht und dich wirklich angesehen. Du warst so still, als hättest du gewusst, dass etwas Schreckliches passieren würde. Du warst niemals still, vor allem nicht in der Öffentlichkeit.« Sie lächelte abwesend. »Du hattest wohl herausgefunden, dass du manchmal einen Schokoriegel bekommst, wenn du auf der Straße weinst und bettelst.« Das Lächeln verschwand. »Aber nicht an diesem Tag. Du hast mich mit großen Augen angeschaut. So still warst du. Der Zug ist eingefahren, und du hast deine Hand in meine geschoben und gesagt: ›Komm, Mama.‹
Deine Hand hat mich von der Kante zurückgezogen. Ich wollte schon springen, aber du hast mich an der Klippe zurückgezogen. Du.« Wieder schwieg sie, noch länger als vorher.
»Masha, jetzt stehst du an der Klippe. Du musst mir nicht sagen, was dich dorthin gebracht hat, aber wenn du magst, kannst du es tun. Und wenn du nicht reden willst, dann hör mir wenigstens zu. Du hast ein Problem, dem du dich nicht entziehen kannst. Du musst dich ihm stellen. Ganz egal, wohin du gehst, dein Problem kommt immer mit, weil du selbst das Problem bist. Mein Problem damals war nicht dein verstorbener Vater. Es war auch nicht meine schöne, störrische Tochter. Du warst meine Lösung, nicht mein Problem. Andere Menschen sind nie das Problem. Manchmal sind sie aber die Lösung.«
Sie nahm meine beiden Hände. Die ihren waren so runzlig, so winzig, so zerbrechlich. Aber sie packten fest zu. »Ich hoffe, du hast Menschen, mit denen du deine Probleme lösen kannst, Masha. Und wenn nicht, oder selbst wenn, ich bin immer für dich da, solange ich lebe. Nicht weil ich deine Mutter bin, sondern weil ich es dir schuldig bin. Weil du mich zurückgeholt hast.«
Sie beschrieb es so lebhaft, dass ich fast glaubte, mich daran zu erinnern: die Überwachungskameras, der BART -Bahnsteig. Aber wir hatten natürlich Hunderte oder Tausende Male unter den Kameras gestanden und jahrelang jeden Tag auf dem BART -Bahnsteig gewartet. Wahrscheinlich baute ich mir die Erinnerungen spontan aus den Ersatzteilen zusammen, die gerade in meinen Kästchen herumklapperten.
Trotzdem, ich sah es vor mir, wie meine Mutter die Rasierklingen in die Tasche schob, die tiefen Falten um den Mund, die Grube zwischen den Augenbrauen, die sich immer bildete, wenn sie litt.
Meine Mutter und ich hatten nie über Selbstmord gesprochen. Es ist nicht so, dass ich nicht von Zeit zu Zeit daran gedacht hätte. Nicht daran, mich selbst zu töten, sondern … einfach nicht mehr dazu sein. Manchmal auf langen Flügen, auf absurden Verbindungen mit Aufenthalten in Dubai oder Singapur zwischen zwei oder drei Zehnstundenflügen, wollte ich bis zum Ende des Fluges springen und einfach ausgelöscht werden. Ich wollte, dass meine Gedanken verstummten und einfach aufhörten. Wenn ich mir vorstellte, tot zu sein, war es ganz ähnlich, nur dass es nicht die Langeweile war, die mich dazu trieb, aus meinem eigenen Kopf zu fliehen. Es war die unausweichliche Logik meiner schrecklichen Fehler in der Vergangenheit, die mich zwangen, noch schrecklichere Fehler zu machen, immer mehr und immer weiter. Meine Zukunft spulte auf einem Gleis ab, das ich dummerweise selbst gelegt hatte. Es erstreckte sich bis in die Ewigkeit – oder bis zu meinem Tod.
Vielleicht waren es Suizidgedanken, aber ich hielt es für viel weniger dramatisch. Ich wollte keine Rasierklingen kaufen und in eine warme Badewanne steigen. Ich wollte einfach nur ins Bett gehen und nicht mehr aufwachen, oder blitzschnell und ohne Schmerzen an einem schlimmen Schlaganfall oder einem Herzinfarkt sterben. Ich wollte nur, dass es zu Ende ging, wollte es aber nicht unbedingt selbst beenden.
»Ich glaube, ich muss schlafen.« Meine Stimme klang so zaghaft, ich erkannte sie kaum selbst.
Sie sah mich wieder ungemütlich lange an. »Das ist eine gute Idee, kiska .« Kätzchen. So hatte sie mich seit der Mittelschule nicht mehr genannt.
Sobald ich unter der Decke steckte, kam sie herein und setzte sich wortlos auf die Bettkante. Sie streckte die Hand aus und streichelte mir über die Haare. Zuerst zuckte ich zusammen, dann entspannte ich mich so tief wie seit einer Ewigkeit nicht mehr. Sie blieb auf dem Bett sitzen und streichelte mir die Haare, bis ich einschlief. Vielleicht hörte sie nicht einmal dann auf.
Als ich aufwachte, strahlte die Sonne durch die Schlitze in den Jalousien. Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu erinnern, wo ich war. Erster Gedanke: »Dieses Hotel ist eine Müllkippe.« Ich rieb mir die Augen und das verletzte Knie und griff dann automatisch nach meinem Handy. Elf verpasste Anrufe von einer Nummer in Deutschland, keine Nachrichten.
Mein Bauch verkrampfte sich. Als ich aus dem Bad zurückgekehrt war, verriegelte ich die Tür und rief Ilsa an.
»Haben Sie geschlafen?«
»Jetlag.«
»Nun ja, dann sind Sie wenigstens gut ausgeruht. Sie haben noch vier Stunden. Ich glaube, Sie sind bei Ihrer Mutter? In zwei Stunden holt Sie ein Wagen mit Ihren neuen Kollegen ab. Sind Sie vorzeigbar? Wir können Ihnen Kleidung besorgen.«
»Ich bin eine Hackerin. Wir sind in San Francisco. Die wollen mich mit Kapuzenpulli und Jeans sehen, sonst glauben sie nicht, dass ich gut bin.«
Sie schnaubte leise. »Trotzdem, Masha, wir wollen Professionalität ausstrahlen. Ich schicke Ihnen etwas mit. Sie können sich im Auto umziehen.«
Mom war im Wohnzimmer, als ich nach einer schnellen Dusche hinunterging. Sie lächelte mich kummervoll an, und ich antwortete mit einer Umarmung, in die ich so viel Aufrichtigkeit legte, wie ich nur konnte. »Es wird alles gut«, behauptete ich und wusste doch, dass es vermutlich nicht der Wahrheit entsprach und dass ich es nicht nur sagte, damit sie sich besser fühlte – ich sagte es, damit sie nicht mehr darauf beharrte, mit mir über diese Dinge zu reden, sobald sie sich besser fühlte. »Danke. Ehrlich, Mom.« Wahrscheinlich stimmte das sogar.
Sie versuchte, mich zu füttern, doch ich erfand eine Verabredung zum Brunch mit einer angeblichen alten Schulfreundin in einem Café um die Ecke, das ich früher gemocht hatte. Ich hoffte, es sei noch da, und Mom würde mir wegen einer dummen Lüge keine Vorwürfe machen. Sie tat es nicht, ich umarmte sie ein letztes Mal und floh.
Das Café war noch da, aber die Speisekarte hatte sich verändert, und die Gerichte waren dreimal so teuer wie beim letzten Besuch. Ich bestellte Farm-to-Table mit allem, dazu einen Superfood-Smoothie aus püriertem Sonnenschein mit Nachhaltigkeitssaft, und holte mein Telefon heraus.
Es gab nicht viele Menschen, die meine Nummer kannten, aber alle hatten angerufen. Marcus Yallow natürlich. Dann Ange, mehrmals sogar. Und Tanisha.
Demnach hatte man sie wohl entlassen. Die Anwältin wollte bezahlt werden.
Ich hatte auch eine Unmenge Nachrichten bekommen. Einige von Tanisha, in unterschiedlichem Maße erbost, besorgt und erschöpft. Dann eine, in der sie mir sagte, sie hätte Marcus’ Handy übernommen, was gute Operationssicherheit war, weil sich ihr eigenes längere Zeit in Polizeigewahrsam befunden hatte. Außerdem war es natürlich ungeheuer großzügig von Marcus, nachdem ich ihm das Gerät geschenkt hatte.
Mir blieben weniger als zwei Stunden, bis mich der Wagen abholen und ich wieder innerhalb von Xoth verschwinden würde. Wahrscheinlich würden sie mir eine Firmenwohnung zuweisen – ich erinnerte mich, dass sie immer ein paar möblierte Apartments in der Nähe des Kabuki-Springs-Bads reserviert hatten, und morgens und abends stünde mir ein Auto zur Verfügung, das mich ins Büro und nach Hause brachte. Das hielt mich von Konkurrenten und anderen Feinden fern, die mich womöglich verwanzen, ausrauben oder bestechen wollten.
Tanisha war also frei, doch meine gemütliche, gut bezahlte Haft sollte erst beginnen. Nach dem heutigen Tag würde es ausgesprochen schwierig, meine alte Freundin anzurufen. Schwierig bedeutete hier so viel wie: Schwierigkeiten für uns beide. Also jetzt oder nie.
»Hallo?«
»Hi, Neesh. Alles klar?«
»Oh, verdammt. Warte mal, ich suche mir ein ruhiges Plätzchen.«
Ich hörte, wie sie einen bevölkerten Raum verließ und auf eine belebte Straße trat, dann wurde es ruhiger, als hätte sie sich in eine Gasse verzogen. Ich sah mich im Café um. Keiner der zahlreichen Gäste achtete auf mich. Ich legte zwei Zwanziger auf den Tisch, ging auch selbst hinaus und stellte mich in den Eingang einer geschlossenen Schuhmacherei. Das Geschäft war schon vor so langer Zeit geschlossen worden, dass das braune Papier, das man von innen vor das Fenster geklebt hatte, längst abgeblättert war und den Blick auf die traurigen Überreste eines ehemaligen Familiengeschäfts freigab – verschiedene Mittel für die Schuhpflege und ein vergessener Stapel Spielzeug.
»Alles klar bei dir?« Es klang müde.
»Ich habe zuerst gefragt.«
Sie seufzte. Und noch einmal. »Eigentlich nicht.«
»Ja, genau wie bei mir.«
»Aber diese Anwältin, danke dafür.«
»Das war doch das Mindeste.«
»Du hättest weniger tun können.«
Ich hätte mehr tun können. »Ich …« Ich will mich nur verabschieden. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Es war nicht schön. Aber ich habe gehört, dass es bei dir draußen noch schlimmer war.«
»Wenigstens ist niemand gestorben.«
»Ein Typ ist gestorben«, erwiderte sie.
»Oh.«
»Wo bist du?«
»Bei meiner Mom um die Ecke.«
»Willst du herkommen und deine Sachen bei mir abholen?«
Das war nett von ihr. »Kann ich sie noch eine Weile dort lassen? Ich habe heute ein Meeting, und erst dann weiß ich, wohin ich als Nächstes muss.«
»Ein Meeting.« Das war keine Frage, verlangte aber trotzdem eine Antwort.
»Ich, äh, ich habe einen neuen Job.«
Es gab eine Pause. »Will ich das wissen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Willst du es mir erzählen?« Deshalb war sie meine Freundin.
»Ja.« Wieder war meine Stimme zaghaft. Wohin verschwand sie nur immer?
»Mist, heute habe ich viel zu tun, aber morgen?«
»Das ist wahrscheinlich zu spät. Sie holen mich bald ab.«
»Verdammt.«
»Schon gut.«
»Nein. Ist es nicht. Also bist du in der Nähe deiner Mom? Zum Glück für dich bin ich auf dieser Seite der Brücke. Zwanzig Minuten.«
Ich hatte den Atem angehalten. Jetzt schnaufte ich. »Das wäre wirklich schön. Danke.«
»Mountain Lake Park?«
»Ja.« In dem Park waren wir die ganze Nacht aufgeblieben, hatten Trips eingeworfen oder Pilze gegessen, abwechselnd geschaudert und getanzt und die ganze Zeit wie Hyänen gelacht.
»Zwanzig Minuten.« Sie war schon lautstark dabei, sich von einigen Leuten zu verabschieden.
Neesh sah schrecklich aus, was ich aber verständlich fand, weil sie im Gefängnis gesessen hatte, traumatisierende Neuigkeiten gehört hatte und mit einem geborgten Fahrrad durch die halbe Stadt gefahren war (»das ging am schnellsten«, sagte sie, als sie sich den Schweiß von der glänzenden Stirn wischte.)
Wir fanden eine Bank, setzten uns und sahen den Millionären und den zukünftigen Millionären zu, die im Park Fußball spielten – junge Tech-Bros auf dem Höhepunkt der körperlichen Fitness, nicht die milchweißen fetten Typen und die Skelette, die ich in der Anfangszeit in meiner Branche kennengelernt hatte. Diese Bros waren rund um die Uhr voll da, und das bedeutete, dass sie nichts außer ketogener Pampe aßen und jedes Wochenende bei todernsten Wettkämpfen stundenlang in Shorts in einem Park ackerten, wo früher lachende Latinx-Kinder herumgekaspert hatten. Diese Kinder fanden nicht heraus, wie man die Buchungs-App des Parks dazu brachte, die Slots anzuzeigen, sobald sie frei wurden, aber die Bros hatten Sniper-Bots, die hundertmal pro Minute nachschauten und jeden Slot besetzten, sobald er zur Verfügung stand.
»Erzähl schon«, begann sie, als die Umarmung beendet war.
»Es gibt gute und schlechte Neuigkeiten.«
»Oje.«
»Die guten werden dir gefallen. Zyz, die Firma, die dein Handy infiziert hat, dich verhaften ließ und alle autonomen Fahrzeuge in der East Bay gekapert hat, um die Straßen zu terrorisieren – die werden ihren Vertrag verlieren und saftige Strafen bezahlen. Vielleicht, aber nur vielleicht müssen sogar einige von ihnen ins Gefängnis.«
Sie klatschte langsam in die Hände. »Masha, das sind großartige Neuigkeiten. Aber jetzt frage ich mich, wie die schlechten aussehen.«
»Warte, ich habe noch mehr gute Neuigkeiten.« Ich spürte selbst, wie schief mein Lächeln war. Tanisha und ich sprachen nie über meinen Broterwerb. »Ich bin diejenige, die in dieser Hinsicht für Gerechtigkeit sorgen wird. Meine Aussage wird sie um den Abschluss bringen und die Sache in Gang setzen, sodass man Ermittlungen aufnehmen wird. Ich werde auch ihre Pläne torpedieren, das Gleiche noch einmal in San Francisco zu versuchen.«
»Ja, das sind auch gute Nachrichten. Ich sterbe gleich vor Neugierde, was die schlechten angeht.«
Ich holte tief Luft. »Sie gehen unter, weil ich wieder für meine alten Chefs bei Xoth arbeiten werde, und ich helfe denen, diesen Abschluss zu bekommen.«
»Oh.«
Einige Bros schossen ein Tor gegen einige andere Bros und lärmten glücklich.
»Neesh?«
»Warte mal, ja?« Das Spiel ging weiter, und der Jubel wich kämpferischer Stille. »Masha, du hast gesagt, du willst mit mir reden, also rede ich jetzt.« Mir war, als müsste ich mich gleich übergeben. »Mein erster Impuls ist, dir zu sagen: ›Ich liebe dich, du bist meine Schwester, und ich stehe zu dir, ganz egal, was passiert.‹ Aber.«
Sie seufzte. Und gleich noch einmal. »Aber, Masha.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Masha, wenn du das machst, arbeitest du für genau die Kriegsverbrecher, für die du schon einmal gearbeitet hast. Diejenigen, die den Leuten in Russland, oder wo du auch warst, so übel mitgespielt haben. Du hilfst ihnen, das Gleiche hier mit uns zu machen, mit mir und meinen Freunden, mit deinen Freunden, und …«
Noch zwei Seufzer.
Ich kratzte ein wenig selbstgerechte Empörung zusammen. »Tanisha, hältst du das für fair? Soll ich mich zwischen unserer Freundschaft und meinem Beruf entscheiden?«
Sie sah mir ruhig und kalt direkt in die Augen. »Genau das verlange ich. Ich sage es mal so: Ist es fair, mich zu bitten, deine Freundin zu sein, obwohl du Leuten hilft, die mich und meine Freunde und alles zerstören wollen, was mir in dieser Welt wichtig ist?«
Ich wollte protestieren und sagen, sie sei melodramatisch, aber verdammt, das war sie nicht. Deshalb redete ich ja mit ihr, oder? Weil ich jemanden brauchte, der mir ausreden konnte, was ich vorhatte?
»Hör mal, Tanisha, wenn ich Xoth nicht helfe, indem ich Zyz den Angriff zuschreibe, dann wird Zyz vermutlich den Vertrag mit Oakland behalten und möglicherweise den Auftrag aus San Francisco bekommen. Du hast vielleicht das Gefühl, ich wollte dich hintergehen, aber ich helfe, damit es besser wird.« Ich wand mich innerlich, weil meine Stimme so weinerlich klang. »Glaubst du, die Dinge stünden jetzt schlecht? Wie viel schlimmer wird es noch, wenn die einzigen Leute, die bereit sind, an solchen Projekten zu arbeiten, überhaupt keine Moral mehr haben?«
Ohne zu zögern, antwortete sie: »Wie viel besser wird es, wenn alle, die noch eine Moral haben, sich von diesen bösen Ärschen distanzieren, und alle, die sich entscheiden zu bleiben, dafür den Preis zahlen müssen, in der zivilisierten Gesellschaft nicht willkommen zu sein?«
Gut gegeben.
»Verdammt, Neesh, das ist nicht fair.« Ich dachte an Carrie Johnstone, die im Hotelflur auf dem Bauch gelandet war. Wenn Zyz das hier überlebte, dann würde sie wahrscheinlich alles in ihrer Macht Stehende tun, damit ich es nicht überlebte. Ich war nicht ganz sicher, ob Carrie Johnstone jemals persönlich einen Menschen getötet hatte, aber sie hatte eindeutig keinerlei Hemmungen, jemand anders die Schmutzarbeit erledigen zu lassen. Sie würde den Rest ihres Lebens glücklich und zufrieden verbringen, wenn mein Blut an ihren Händen klebte.
»Was ist nicht fair?«
»Warum ist es ausgerechnet mein Job, das hier für alle anderen aufzulösen? Ich tu ja schon, was ich kann, damit die Welt besser wird. Ich weiß, ich könnte noch mehr tun, aber das gilt auch für alle anderen. Jedes Mal, wenn du zu Hause mit einem albernen Film abhängst, organisierst du keinen Protest und rettest anderen nicht das Leben. Warum dürfen alle anderen Kompromisse schließen, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können, aber wenn ich eine Entscheidung treffe, darf sich jeder einmischen?«
Sie verdrehte die Augen. »Masha, ich werde deshalb nicht einmal wütend, weil es so dumm ist. Du kannst das besser. Mach schon.«
Ja, verdammt, ich wusste es ja selbst.
Sie fasste meine Hände und suchte mit ihren rot geränderten Augen meinen Blick. »Komm schon, Masha. Du weißt, was richtig und was falsch ist. Ich soll es dir ausreden. Du hast Jahre damit verbracht, jemanden zu finden, der es dir ausredet. Das ist in Ordnung. Wir brauchen alle die Hilfe unserer Freunde und der Menschen, die uns lieben. Ich liebe dich, Masha. Du bist meine Schwester, ich werde dich immer lieben.
Und gerade weil ich dich liebe, lasse ich dich damit nicht durchkommen. Ich liebe dich, ich kenne dich, und ich weiß, wie sehr du eines Tages bereuen wirst, was du jetzt tun willst. Ich tu dir lieber jetzt etwas weh, indem ich es dir ausrede, als dir sehr wehzutun, indem ich bei deinem eigenen Untergang zur Komplizin werde.
Masha, ich sage das zu dir als Schwester, die dich liebt. Du willst das nicht tun.«
Mir lagen viele wütende Erwiderungen auf der Zunge, ich wollte Gift und Galle spucken, weil sie mir mit ihrem herablassenden Vortrag und ihrer unverschämt selbstsicheren Überheblichkeit zu verstehen gegeben hatte, dass ich, obwohl ich doch in meiner eigenen Haut steckte, nicht wusste, was für diese Haut das Beste war.
»Tanisha, das klingt, als hättest du es vorher geprobt.«
»Weißt du was? Das stimmt sogar. Ich habe es jedes Mal geprobt, wenn ich über das nachgedacht habe, was du gerade getrieben hast. Ist dir schon mal eingefallen, dass die Dinge, die du aufbaust, eines Tages gegen dich eingesetzt werden könnten? Nicht nur gegen Menschen mit brauner Hautfarbe oder gegen Arme und Fremde, sondern gegen dich, deine Mutter und die Menschen, die du liebst? Dass du dir am Ende lieber selbst einredest, du würdest niemanden lieben, als zuzugeben, dass du etwas Falsches tust? Willst du am Ende ganz allein leben, ein elender alter Drache auf dem gehorteten Blutgeld? Und ewig nach etwas suchen, egal was, das dich von den Erinnerungen an das ablenkt, was du getan hast, und an die Leute, denen du es angetan hast?«
»Tanisha …«
»Halt den Mund. Du hast verdammt recht damit, dass ich es geprobt habe, Masha. Denn du hast mich zu deinem Gewissen ernannt, und ich habe diese Aufgabe bisher sträflich vernachlässigt. Wenn es eines gibt, was ich in all den Jahren mit dir gelernt habe, dann ist es die Tatsache, dass du etwas Besonderes bist. Was du getan hast, können nicht viele Menschen tun. Vielleicht haben wir in zwanzig Jahren eine ganze Generation kleiner Genies, die die gleichen Fähigkeiten besitzen wie du, aber im Augenblick ist es so: Wenn du etwas nicht tust, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie niemanden anheuern können, der es stattdessen tut. Das bedeutet, dass deine Entscheidungen eine Bedeutung haben.
Und jetzt schaue ich dich an, wie dein Rücken steif wird, und ich weiß genau, was du denkst: ›Warum, zur Hölle, muss ausgerechnet ich diese Bürde tragen? Soll doch jemand anders die Welt retten. Ich will einfach nur meine Rechnungen bezahlen.‹
Aber du musst dein Skript verändern. Es ist keine Bürde, sondern ein Los, mit dem du die Lotterie gewinnst. Die meisten von uns sind nur Passagiere der Geschichte, aber ab und zu, wenn du großes Glück hast, bekommst du eine einmalige Gelegenheit und darfst steuern. Du hast im Augenblick das Ruder in der Hand. Das ist eine ungeheure Verantwortung, aber es ist einfach der Wahnsinn.«
Ich musste lächeln. »Du sagst das richtig gut auf.«
»Und ob.« Sie erwiderte mein Lächeln nicht. »Übung macht den Meister. Masha, ich bin eine Organisatorin. Reden können gehört dazu. So bekommen die Leute, die nicht in der Lotterie gewinnen, eine Gelegenheit, ein oder zwei Sekunden lang zu steuern.«
»Du bist sehr überzeugend.« Wahrscheinlich muss ich sterben, wenn ich deinen Rat annehme. Und es ist gut möglich, dass es kein schöner Tod wird.
»Ja. Das gehört ebenfalls dazu.« Sie machte ein Gesicht wie eine fliegende Furie. Ich war ungeheuer stolz auf sie, zugleich aber auch schrecklich traurig, weil ich wusste, dass ich sie enttäuschen musste.
»Du verschweigst mir etwas.«
So viel zu meiner Pokermiene. »Das ist wahr.«
Sie entspannte sich, ihr Blick wurde weicher. »Komm schon, du kannst es mir sagen. Wenn es eines gibt, was wir voneinander wissen, dann ist es die Tatsache, dass wir unsere Geheimnisse hüten.«
In einer anderen Welt hätte ich mich ihr anvertraut. Es gab absolut keinen Grund, es nicht zu tun. Sie kam einer echten Schwester so nahe, wie man es sich in dieser Welt nur wünschen konnte. Sie kannte Anteile von mir, die niemand sonst je gesehen hatte. Falls es überhaupt jemanden gab, mit dem ich darüber sprechen konnte …
»Neesh, ich habe gehört, was du sagst. Danke für den Rat. Es ist ein guter Rat. Ich werde darüber nachdenken. Ernsthaft. Danke.«
Die fliegende Furie war wieder da. »Masha …«
Ich hob eine Hand. »Es ist gut«, sagte ich. »Wirklich.«
Ich konnte nicht nach Hause, aber ich wollte auch nicht wieder ins Café gehen. Am Ende wanderte ich durch die Straßen und humpelte, bis mein Knie geschmeidig wurde. Ich spürte Tanishas Blicke im Rücken, als ich um die Ecke bog. Erst als ich zwei weitere Ecken hinter mir gelassen und mich noch einmal über die Schulter umgesehen hatte, fühlte ich mich wirklich unbeobachtet. Ich schaltete das Handy in den Flugmodus. Ich wollte weder mit ihr noch mit sonst jemandem reden.
In meiner Jugend hatte es in unserem alten Wohnviertel viele Kinder, junge Familien und Rentner gegeben. Das hatte sich geändert. Ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben, dass San Francisco unter allen amerikanischen Großstädten das schlechteste Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen hatte. Die Familien wurden aus der Stadt in die Vororte und noch weiter hinaus verdrängt – wie ich gesehen hatte, gab es sogar in Oakland vergleichsweise wenig Kinder.
Ich hatte als vaterloses Flüchtlingskind begonnen und es irgendwie geschafft, eine erstklassige Ausbildung und danach eine Reihe gemütlicher Jobs zu bekommen. Ich hatte Platinkarten in der Tasche und unversteuerte Bankguthaben in vier Ländern. Zugegebenermaßen war es mir besser ergangen als den meisten meiner Altersgenossen, aber dagegen Tanisha: Collegeabschluss, ein Job, ein Apartment und genug Zeit und Sicherheit, um einer zweiten, äußerst anstrengenden Berufung als Aktivistin nachzugehen. Oder dieser verdammte Marcus Yallow: verheiratet, eine Anzahlung auf ein eigenes Haus dank der Eltern, die während der Immobilienblase ihren Besitz verkauft und die Bay Area mit einem Vermögen in der Tasche verlassen hatten (ja, ich las seinen Blog, und ich war nicht stolz darauf), ein halber Collegeabschluss, eine Reihe gut bezahlter Jobs in der Hightechbranche und jetzt so viele Beraterjobs, wie er übernehmen wollte.
Niemand, der heute auf die Welt kam, würde das alles genießen können. San Francisco war eine Reise nach Jerusalem, bei der die Musik immer schneller und die Stühle immer weniger wurden. Früher war es ein leichtes Spiel gewesen, es hatte so viele Stühle gegeben, dass immer einer frei war, sofern man nicht allzu wählerisch war – einfach nur einen Stuhl zu haben , bewies bereits, dass man zu dem einen Prozent gehörte.
San Francisco war – wie immer – dem Rest des Landes voraus. Die Anzeichen hatte ich auch in London und Berlin, in Dubai und Hongkong gesehen. Die Welt trat in eine neue Phase ein, und was früher eine sanfte Abstufung zwischen Arm und Reich mit einem großen Mittelfeld gewesen war, verwandelte sich in eine Klippe.
Die Arbeit für Xoth würde mich reich machen. Stinkreich, um es genau zu sagen. Natürlich würde ich dort reich, indem ich noch viel reicheren Leuten half, ihr Geld zu behalten und herauszufinden, wen sie verhaften mussten, ehe vor ihren eingefriedeten Anwesen die Guillotinen errichtet wurden.
Ich hatte diese Situation nicht erschaffen. Trotz allem, was ich getan hatte, war ich nur eine Schachfigur auf einem riesigen Brett, und das Spiel hatte schon lange vor meiner Geburt begonnen. Gewaltige historische Kräfte hatten diese Welt entstehen lassen, und ich musste genau wie alle anderen in ihr leben. Wenn ich ein Armutsgelübde ablegte oder mich der Revolution verschrieb, würde das nicht die Gesellschaftsordnung verändern. In einer Welt der Gewinner und Verlierer half es niemandem, wenn ich mich für die Seite der Verlierer entschied, am allerwenigsten mir selbst. Wenigstens bot mir mein bequemes Sofa in den Vorhallen der Macht genügend Freiraum, um hin und wieder einzelnen Menschen in kleinem Maßstab zu helfen. Immerhin, einer nach dem anderen, so entstand im Laufe der Zeit eine Menschenmenge. Wir wurden als Individuen geboren und starben allein, und sogar die am strengsten geführte und am besten koordinierte Gruppe bestand letzten Endes nur aus ein paar Individuen, die sich entschlossen hatten, eine Weile zusammenzuarbeiten.
Sicher, aus alledem sprach der reine Eigennutz – es war nicht nur ein ethisches Deckmäntelchen, um möglichst bequem und mit heiler Haut davonzukommen, sondern ich erhielt obendrein auch noch Salbungen mit den teuersten Lotionen der Welt aus luxuriösen Duty-Free-Shops. Doch wenn es mir selbst nützte, hieß das nicht automatisch, dass es falsch war.
Mir blieb noch eine Stunde, bis mich der Wagen von Xoth vor dem Haus meiner Mutter abholen würde. Es war ein Fußweg von höchstens dreißig Minuten. Deshalb ging ich bergauf – in San Francisco ging es immer irgendwie bergauf – und lief weiter, bis ich eine Hundewiese mit trockenem braunem Gras erreichte. Jogger in Hightech-Anzügen, getrocknete Hundehaufen in Beuteln, breit getretene Hundehaufen mit langen Streifen, ein prächtiger Blick auf die Stadt.
Die Leute, die mit ihren schnüffelnden Hunden vorbeiliefen, waren jung, durchtrainiert und schön. Zehn Jahre jünger als ich und gebräunt, hinterließen sie Duftwolken von sauberem Schweiß und vorzüglichen Haarpflegeprodukten. Sie waren Welten von den Demonstranten vor dem Gefängnis von Oakland entfernt, und sie führten ein viel besseres Leben. Wenn dieses System – was es auch bedeutete – diesen Menschen so ein Leben gewährleisten konnte, dann sollten sich vielleicht all die Leute, mit denen sich Tanisha herumtrieb, überlegen, wie sie ihnen ähnlicher werden konnten.
So funktionierten die Kästchen, und das wusste ich natürlich ganz genau. Ich war eine geistige Schreinerin und baute mir selbst die Kästchen, in die ich meine Gefühle sperrte. Die Arbeit mit Kästchen war nützlich. Was war falsch daran, wenn man die Gefühle von der Realität, in der man lebte, zu trennen wusste?
Aus der Höhe betrachtet, war San Francisco schön. All die niedrigen weißen Häuser, die Wolkenkratzer und die Brücken, die grünen Flecken dazwischen, der blaue Himmel. Jede Stadt war schön, wenn man den richtigen Standort hatte. Ich wollte einen davon für mich beanspruchen.