RASSISMUS – WAS IST DAS ÜBERHAUPT?
Diese erste »Ein Neger darf nicht neben mir sitzen«-Begegnung war, wenn man so will, der Stein des Anstoßes für etwas, das mich bis heute begleitet: den Umgang mit Rassismus. Blicke ich auf mein bisheriges Leben zurück, waren rassistische Anfeindungen oder zumindest Erlebnisse immer etwas, was sich stringent durchzog. Irgendetwas war immer. Sei es durch dieses klar ausgesprochene Wort »Neger« oder dass ich mit meiner Jugendfreundin am Bahnhof in Markt Schwaben saß, frisch verliebt, pubertierend, Händchen haltend und eine alte Dame den Kopf schüttelte, uns ansah und dann sagte: »Na, was da wohl für Kinder bei rauskommen.« Oder dass ich in einer Bäckerei gefragt wurde: »Was du wollen?!«
Aber es gab eben auch diese kleinen, subversiven Momente. Die Frage nach meiner Herkunft. Die Frauen, die ihre Handtaschen festhielten, wenn ich mich im Bus neben sie setzte. Die Blicke, wenn ich mit meiner weißen Mutter über die Wiesn ging. Das alles habe ich mir so nicht ausgesucht, das kam durch die Verhaltensweisen anderer Menschen, ausgelöst durch meine Hautfarbe. Ich habe lange versucht zu verstehen, ob es hierfür einen Grund gibt. Warum werde ich anders behandelt? Kann ich etwas an meinem Verhalten ändern? Darüber habe ich im Lauf meines Lebens wirklich viel nachgedacht, und wollte irgendwann einfach nur nett sein, damit andere Menschen mich sahen, ein gutes Gespräch hatten und später ihren Freunden erzählen konnten: »Hey, ich habe da einen Schwarzen getroffen, und mei, der war echt nett.«
Kein Witz, so habe ich eine Zeit lang getickt. Ich verstand, dass ich für andere etwas repräsentierte. Etwas, das nichts mit mir persönlich zu tun hatte, sondern mit dem, was andere in mir sahen. Ich wollte ein »guter« Schwarzer sein und verstand lange nicht, dass ich mich hierbei ja selbst beschnitt. Irgendwann sah ich ein, dass ich eine gewisse Grundablehnung einfach hinnehmen musste und sie nicht persönlich nehmen durfte. Ich musste meinen eigenen Weg finden, damit umzugehen, wie das jeder Mensch finden muss, der Ablehnung ohne Grund erfährt. Aber da jeder Rassismus individuell erlebt wird, muss zwangsläufig eben auch der Umgang damit individuell sein, es geht nicht anders. Und das sei hier auch noch kurz gesagt: Es ist nicht so, dass es mir viel Spaß macht, mich damit auseinanderzusetzen, es ist nur eben notwendig. Es ist ja auch nicht so, dass viele Frauen Spaß daran haben, sich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft und in den Medien zu beschäftigen und sich für eine gleiche Bezahlung am Arbeitsmarkt stark zu machen. Ich glaube, dass die wenigsten Feministinnen morgens aufstehen und sich vorstellen, dass es heute gut wäre, gegen was auch immer zu sein. Ja, gegen was denn heute? Ach, heute mal zur Abwechslung gegen strukturelle Benachteiligung. So ein Einsatz entsteht immer durch eine Kraft, die von außen herangetragen wird und so hart einwirkt, dass man keine Lust mehr hat, in diesem Zustand zu verharren und ihn einfach auszuhalten. Gäbe es keinen akuten Missstand, der so direkt in das eigene Leben und den Umgang miteinander wirkt, gäbe es keinen Anlass, sich zu positionieren und die Stimme zu erheben.
Glaub mir, ich bin dunkelhäutig, und das ist ein Problem. Nicht für mich, aber für andere. Und somit wieder ein Problem für mich. Offensichtlich gibt es also in unserem Kulturkreis genug Menschen, die sich aufgrund meiner Hautfarbe dazu genötigt fühlen, mich anders zu behandeln, mich zu benachteiligen und mir, ob gewollt oder ungewollt, das Gefühl zu geben, nicht so ganz dazuzugehören. Ich kann jetzt schlecht für diesen Pilzkopfjungen sprechen, weil er drei Jahre alt war. Ziemlich sicher haben seine Eltern beim Abendessen über mich gesprochen, und er hat dieses »Neger«-Wort einfach übernommen. Und das ist ja das Gefährliche, weil es für diesen kleinen Pilzkopfjungen in dem Moment und in den folgenden Jahren die einzige Realität war, die er kannte und die er erst einmal durch den Kindergarten und durch die Grundschule spazieren trug wie einen Turnbeutel.
Doch was ist Rassismus eigentlich? Woher kommt er? Und wie äußert er sich? Im Folgenden möchte ich mich mit dir auf eine Spurensuche begeben und hierfür gern bei null anfangen. Das hat einen guten Grund. Ich habe in den vergangenen Jahren meines Lebens viel über Rassismus diskutiert. Reden und mich auszudrücken ist seit jeher mein Job – als Musiker, als Pädagoge und als Moderator für Funk und Fernsehen. Und eine Sache, die mich schon immer gestört hat und heute noch ziemlich stört, ist der inflationäre Gebrauch von Begriffen, die nicht klar umrissen und erklärt sind.
»Der linke Sumpf muss ausgerottet werden« war eine von vielen Zeilen, die mich nach meinem Besuch des AfD-Kreisverbandes in München ratlos zurückließen. Ich saß dort, lauschte der Gift und Galle spuckenden Frau und verstand die Welt – und vor allem sie – nicht mehr, obwohl genau das eigentlich mein Plan war. Mich hinzusetzen und zu verstehen. Aber was sollte ein »linker Sumpf« überhaupt sein? Diese Begriffsunschärfe führt dazu, dass jeder einfach Wörter in einen Raum wirft, die undefiniert sind und aus denen sich jeder Zuhörende das zieht, was er darunter versteht. Dabei ist doch ein großer Vorteil der deutschen Sprache, dass sie so exakt ist und wir uns in ihr so genau ausdrücken können. Miteinander reden ist wichtig, davon bin ich überzeugt. Ich mache eigentlich nichts lieber, als zu reden. Wenn man bei Diskussionen einen komplett anderen Standpunkt hat, ist das sicherlich spannend, und ein progressiver Austausch ist ein Gewinn für beide Fraktionen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass beide Parteien wissen, wovon und worüber eigentlich gerade gesprochen wird. Eine unlösbare Aufgabe, wenn mit Begriffen hantiert wird, die undefiniert durch einen Raum wabern.
Gern hätte ich mit der Frau vom AfD-Stammtisch über den »linken Sumpf« diskutiert. Aber was ist ein »linker Sumpf?« Gehört für sie eine Partei, die links neben der CSU steht, direkt zum »linken Sumpf«? Und hat sie nicht auch das Gefühl wie ich, dass diese Aussage außerdem ziemlich wertend ist und weniger neutral? Diskutieren ist wichtig, Begrifflichkeiten zu klären, bevor man über etwas diskutiert, aber auch.
Wenn du an den Begriff »Rassismus« denkst, was kommt dir in den Sinn? Der Film »12 Years a Slave«, in dem ein schwarzer Sklave zwölf Jahre lang auf einer Farm drangsaliert wird? Martin Luther King mit seiner berühmten »I have a Dream«-Rede? Oder vielleicht an den Ku-Klux-Klan aus den USA? Wir alle haben andere Bilder im Kopf, wenn wir an Rassismus denken, und auch eine andere Vorstellung davon. Vielleicht ist Rassismus für dich etwas Historisches. Etwas, das in verstaubten Büchern steht. Oder du hast dich bisher damit nicht auseinandergesetzt, einfach weil es dafür schlichtweg keinen Grund gab.
Bei mir ist das ein bisschen anders. Rassismus ist etwas, das mich umgibt und mit dem ich mich beschäftige, nicht aus purer Freude, sondern weil es notwendig ist. Meine persönliche Erfahrung mit Rassismus ist Teil dieses Buches, aber ich will auch informieren. In den Sachteilen habe ich Studien und Definitionen gesammelt, weil ich zum einen keine Lust habe, nur ein Buch zu machen, in dem es um einen »armen schwarzen Jungen« geht, sondern eben auch etwas beisteuern will, das Fakten aufzeigt. Unsere Gesellschaft wird komplexer und vielfältiger, damit müssen wir umgehen lernen. Auch diejenigen, denen es nicht gefällt, dass sich die gesellschaftliche Zusammensetzung ändert, müssen eine neue Sensibilität entwickeln, um darin bestehen zu können. Unsere Informationsquellen werden mannigfaltiger. Mehr Informationen, die abgewägt werden müssen, strömen auf uns ein. Daher wird die Quellenkritik immer wichtig. Es macht also Sinn, sich auf gleicher Basis austauschen zu können. Damit dies gegeben ist, möchte ich an dieser Stelle eine Begriffsklärung vorschieben.
VERSUCH EINER DEFINITION
In einer ersten Definition wird Rassismus als eine Gesinnung, Ideologie oder Wahrnehmung bezeichnet. Hiernach werden Menschen aufgrund äußerlicher Merkmale zugehörig zu einer vermeintlichen »Rasse« eingeteilt und beurteilt. Hautfarbe, Körpergröße oder Sprache, aber auch kulturelle Merkmale wie Kleidung oder Bräuche werden als bestimmender Faktor menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften gedeutet und nach Wertigkeit eingeteilt. Rassisten betrachten Menschen, die ihren eigenen Merkmalen möglichst ähnlich sind, als höherwertig, andere, die nicht ihrer Norm entsprechen, werden als geringerwertig diskriminiert. Mit Rassentheorien, die angeblich wissenschaftlich untermauert sind, wurden und werden Handlungen gerechtfertigt, die den heute angewandten allgemeinen Menschenrechten widersprechen.
Eine recht »moderne« Begriffsdefinition für Rassismus liefert die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz. Sie beschreibt Rassismus als »die Überzeugung, dass ein Beweggrund wie Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, Staatsangehörigkeit oder nationale oder ethnische Herkunft die Missachtung einer Person oder Personengruppe oder das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Person oder Personengruppe rechtfertigt«.
Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, das im Jahr 1978 von der UN-Volksversammlung in New York verabschiedet wurde, unterscheidet hierbei nicht zwischen rassischer und ethnischer Diskriminierung. Beides wird gleichgesetzt, die Diskriminierung aufgrund der »Rasse« und die Diskriminierung aufgrund der Ethnie. Es ist egal, ob ein Mensch diskriminiert wird, weil er aus einem asiatischen oder aus einem arabischen Land kommt, beides ist nach der UN Rassismus. Das ist wichtig für das Grundverständnis der ganzen Sache, denn es zeigt, wie grundlegend falsch Rassismus ist und dass es hier nicht unbedingt einer riesig großen Ausdifferenzierung bedarf. Menschen mit rassistischen Vorurteilen diskriminieren andere aufgrund von deren Zugehörigkeit, der institutionelle Rassismus verweigert bestimmten Gruppen Vorteile und Leistungen oder privilegiert andere. Die Folgen von Rassismus sind kein Spaß und reichen von Vorurteilen und Diskriminierung über Rassentrennung, Sklaverei und Pogrome bis zu sogenannten »ethnischen Säuberungen« und Völkermord. Rassismus ist gefährlich. Punkt. Deshalb sind rassistische Tendenzen es auch. Vielleicht würde nicht jeder Mensch, der einen anderen rassistisch beleidigt oder aufgrund seiner Andersartigkeit ausgrenzt, ihn auch direkt verletzen, aber jemanden wegen seines Anders-Seins auszuschließen ist eine Tendenz, für dessen Gedanken es in einer modernen Gesellschaft von Beginn an keinen Platz geben darf – in keinster Weise. Außerdem kann das eine früher oder später zum Nächsten führen, die Geschichte bietet hierzu viele Beispiele, auf die später noch eingegangen wird. Zunächst blättern wir einmal zurück.
DER URSPRUNG VON RASSISMUS
Woher kommt diese Idee, andere aufgrund äußerer Merkmale oder ihrer Zugehörigkeit auszuschließen? Diese Frage ist so grundlegend, dass wir sie uns eigentlich nicht mehr stellen. Grund genug, sie in diesem Buch einmal aufzuwerfen und etwas ausführlicher zu beantworten. Rassismus gibt es nicht erst seit gestern und auch nicht erst seit der Zeit des Nationalsozialismus, als die Hakenkreuz-Flaggen durch deutsche Städte wehten, so viel steht fest. Rassismus ist fast so alt wie die Geschichte moderner Zivilisationen. Der deutsche Historiker Imanuel Geiss (1931–2012) beschrieb in seinem 1988 erschienenen Werk »Geschichte des Rassismus« das indische Kastenwesen als die älteste Form quasi-rassistischer Strukturen. Diese nahmen mit der Eroberung Nordindiens durch die Arier, die Bewohner der iranischen Hochebene, um 1500 vor Christus ihren Anfang. Hellhäutige Eroberer pressten unterworfene Dunkelhäutige als Sklaven in die Apartheid einer Rassen-Kasten-Gesellschaft ein. Diese ließ sich auf Dauer nicht halten, führte aber zu einer extremen Fragmentierung und Abschottung der Kasten untereinander, in allen möglichen Lebensbereichen. Hellhäutige Menschen waren höhergestellt als Menschen mit dunklerer Hautfarbe, und es war nicht möglich, eine Kaste zu verlassen, um gesellschaftlich aufzusteigen – das indische Kastensystem existiert übrigens immer noch.
Und auch im frühen antiken Griechenland sprechen einige Historiker von einem prototypischem Rassismus, der hier vorherrschte. Zwar wurden Barbaren nicht als rassisch minderwertig beschrieben, aber als kulturell und zivilisatorisch zurückgeblieben betrachtet, es fand somit eine Ausgrenzung statt.
Der »moderne« Rassismus entstand im 14. und 15. Jahrhundert und war in erster Linie religiös begründet. Hierfür müssen wir die Zeit noch etwas zurückdrehen. Ab 1492, dem Ende der Reconquista, also der Rückeroberung Andalusiens durch die Spanier, wurden Juden und Muslime als »marranos« (zu Deutsch: Schweine) verfolgt und aus Spanien vertrieben. Zwar gab es die Möglichkeit einer Taufe, um zu konvertieren und so Tod und Vertreibung zu entrinnen, es wurde jedoch angenommen, dass die Konvertierten weiterhin heimlich ihren Glauben ausübten. Ihnen wurde somit die Möglichkeit genommen, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden, selbst wenn sie alles dafür taten. Das »Jüdische« oder das »Islamische« an ihnen wurde viel wichtiger als der gezeigte Wille zu konvertieren. Die Religionszugehörigkeit war zu einem unüberwindbaren Zustand geworden, den man im Nachhinein nicht mehr ändern konnte. Vielen Historikern gilt die Vorstellung, dass eine Taufe oder Konversion nicht mehr ausreichte, um sich einer Gesellschaft anzupassen, somit als erstes Lebenszeichen des modernen Rassismus. Es ist ein zutiefst rassistischer Gedanke, wenn davon ausgegangen wird, dass ein Jude oder ein Moslem seine jüdischen oder muslimische Eigenschaften, wie auch immer diese jetzt konkret aussehen, nicht einfach ablegen kann, wenn er seine Religion ändert. Denn das muss man sich einmal vorstellen: Die Menschen wollten ihre Religion, die damals noch einen sehr viel höheren gesellschaftlichen und identitären Stellenwert besaß als in unserer heutigen Zeit – in der zumindest in Deutschland immerhin 36 Prozent der Menschen konfessionslos sind – ändern, um gesellschaftlich anerkannt zu werden, doch es änderte nichts. Es war einfach egal. Aber bleiben wir zunächst in Spanien. Während der Reconquista entstanden 1449 die »Estatutos de limpieza de sangre« (»Statuten von der Reinheit des Blutes«) die durch den Rat der Stadt Toledo in Auftrag gegeben waren und die, wenn man so will, eine Art Vorgänger der Nürnberger Rassegesetze wurden, die Hunderte Jahre später in Deutschland folgen sollten. Die spanischen Altchristen wollten sich mit ihnen von den Neuchristen, die muslimische oder jüdische Vorfahren hatten, abgrenzen.
Wollte man damals in einer Ordensgemeinschaft aufgenommen werden, ein staatliches Amt erhalten oder in einer Universität immatrikuliert werden, musste der Kandidat drei Qualitäten oder Eigenschaften nachweisen. Einer dieser Eigenschaften war eine altchristliche Abstammung. Keine Juden, Muslime oder Ketzer durften unter den Vorfahren zu finden sein. Willkommen im Frührassismus!
In seinem sehr lesenswerten Buch »Rassismus, ein historischer Abriss« setzt sich der emeritierte Stanford-Professor George M. Fredrickson (1934–2008) intensiv mit dieser frühen Form von Rassismus auseinander. Er beschreibt, dass die Überzeugung, dass Kinder dasselbe Blut wie ihre Eltern haben, zwar eher ein Mythos als ein empirischer wissenschaftlicher Befund war, gleichzeitig aber einen auch »genealogischen Determinismus« beschreibt, der ziemlich schnell in Rassismus umschlagen kann, wenn er auf ganze ethnische Gruppen angewendet wird, wie es eben schon im alten Spanien durchgesetzt wurde. Du siehst also: Dass in Nazi-Deutschland irgendwann Juden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und ihres Glaubens ausgegrenzt wurden, ist keine Erfindung der Nazis. Ausgrenzung und Ablehnung aufgrund einer Zugehörigkeit, die nicht einmal selbst bestimmt ist, sondern von einer »Blutlinie« ausgeht, gibt es bereits seit dem 15. Jahrhundert. Für Fredrickson ist die spanische Doktrin von der Reinheit des Blutes zweifellos eine rassistische Lehre und diente der Stigmatisierung ganzer ethnischen Gruppe. Dieser frühzeitliche Rassismus blieb allerdings zunächst eingebunden in den Zusammenhang mythischer und religiöser Vorstellungen. Es fehlte der Bezug zu einer naturwissenschaftlich begründeten Biologie, der erst später kam und, wenn man so will, das Ganze noch verschlimmerte. Ich meine, sicher ist es schlimm, wenn man aufgrund seiner Abstammung kein vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft sein kann, aber vielleicht noch einigermaßen ertragbar.
Stell dir vor, du kommst nicht in einen Klub oder in ein Theater rein, weil auf dem Personalausweis steht, dass deine Großeltern Moslems sind. Du wirst abgewiesen, deine Freunde, deren Großeltern Christen sind, würden aber reinkommen. Du stehst vor der Tür und gehst achselzuckend mit deinen Freunden in eine andere Kneipe. Du ärgerst dich über diese miese Türpolitik, ihr habt aber untereinander jetzt nicht unbedingt ein Problem damit. Deine Freunde gehen nicht davon aus, dass du aufgrund der Herkunft oder Religionszugehörigkeit deiner Eltern ein schlechterer Mensch bist oder irgendwelche körperlichen Defizite hast. Ein biologisch begründeter Rassismus kam erst später hinzu und erweiterte diesen frühzeitlichen Rassismus durch eine ziemlich heftige Komponente.
RASSENSYSTEMATIKEN
Ausgehend von den Ereignissen rund um das Zeitalter der Aufklärung erhielt der Rassismus ein weiteres wichtiges säkuläres Fundament mitgeliert. Die von Europa ausgehenden kolonialen Projekte, die weite Teile der Welt und die dort lebenden Bevölkerungen unterwarfen, nährten den noch etwas mageren Rassismus und machten ihn zu einer sehr großen und gefährlichen Sache. Zeitgleich mit der Kolonialisierung nahm in Europa zudem das Wissen über andere Weltteile ziemlich schnell zu. Auf einmal, als man anfing, andere Länder und Menschen zu bevölkern, zu unterdrücken, zu versklaven und zu missionieren, brach ein regelrechter Debatten-Hype bei den europäischen Gelehrten los. Wie war eigentlich das Verhältnis von Menschen zueinander, die sich äußerlich unterschieden? Gehörten Menschen von anderen Kontinenten, die anders aussahen, eigentlich mit zur Menschheit?
Liest man heute solche Fragen, kann man natürlich nur den Kopf schütteln und sich sagen: Ist das euer fucking Ernst? Darüber macht ihr euch Gedanken? Aber genau über solche Themen wurde sich, vor allem in Europa, der Kopf zerbrochen, ziemlich genau dann, als man in großen Kolonalisierungsprojekten loszog, um andere Länder zu erobern. Damalige Gelehrte begannen damit, Rassensytematiken aufzustellen, um das Beobachtungsmaterial europäischer Forschungsreisender zu dokumentieren. Die Forschungsreisenden kamen zurück, berichteten von ihren Reisen nach Indien oder Afrika, und die Gelehrten begannen damit, eine Art Kategoriesystem für die Weltbevölkerung zu erdenken.
Eine Gänsehaut bleibt bei solchen Gedanken nicht aus, aber das ist alles historisch belegt, es war eben nicht immer alles aufgeklärt und tolerant, sondern die Eroberer waren der Ansicht, andere »Rassen« hätten andere Eigenschaften, und wollten dies kategorisieren und ausreichend belegen.
Eine der prominentesten Rassensystematiken wurde 1684 von dem Franzosen François Bernier (1625– 1688) entworfen, der die Menschheit in vier bis fünf ungleich entwickelte Rassen einordnete. Diese Einteilung nahm er aufgrund von Merkmalen an Nase, Lippen, Haaren und Zähnen vor. Er sah diese Einteilung der Menschen als Möglichkeit einer neuen Welteinteilung, die seiner Meinung nach nicht nur auf Länder und Regionen, sondern auch auf Menschengruppen basieren sollte, und etablierte als Erster den Begriff »espèces« für Rasse. Das klingt etwas surreal, ist aber Teil der Geschichte von Rassismus und unbedingt erzählenswert, um zu verstehen, dass die Geschichte des Rassismus auch Teil unserer europäischen Geschichte ist. Nach Bernier verschriftlichten auch Carl von Linné (1707–1778) und Georges-Louis Leclerc, Compte de Buffon, (1707–1788) sowie Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) und Immanuel Kant (1724–1804) ihre Gedanken hierzu in langen Abhandlungen und unterteilten die Menschheit in verschiedene Rassen.
In Kants Werk »Physische Geographie« von 1801 heißt es auf Seite 301: »In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.« Schon ziemlich radikal, oder? Ein regelrechter Hype um diesen neuen »Forschungsbereich« entstand. In der Regel konstruierten die damaligen Gelehrten, die sich mit »Rasse« auseinandersetzen, vier bis fünf menschliche »Rassen«, zu deren Bezeichnung sich bald die Farbbezeichnungen »Weiß«, »Gelb«, »Rot«, »Braun« und »Schwarz« einbürgerten und denen spezifische physische, intellektuelle, charakterliche und ästhetische Kollektiveigenschaften zugeschrieben wurde. Es wäre an dieser Stelle etwas zu langatmig und zu ermüdend, jeden einzelnen Menschen, der mit an einer Rassentheorie schrieb, vorzustellen und genau zu beleuchten und, um ehrlich zu sein, will ich ihnen auch nicht zu viel Platz in diesem Buch lassen.
Carl von Linné möchte ich dennoch kurz vorstellen, da er sich fast sein gesamtes Leben lang diesen Rassentheorien widmete. Er unterteilte in der ersten Auflage seines 1735 erschienenen Werks »Systema Naturae« die Menschen nach ihrer geografischen Herkunft in die Varietäten Amerikaner, Europäer, Asiaten und Afrikaner. Ab der 1758 erschienenen zehnten Auflage ordnete er außerdem jeder der vier Varietäten ein Temperament und eine Körperhaltung zu: Den Amerikaner bezeichnete er als rot, cholerisch, aufrecht; Europäer als weiß, sanguinisch, muskulös; Asiaten als melancholisch und steif und Afrikaner als schwarz, phlegmatisch und schlaff. Ziemlich heftig, oder?
Bereits zu diesem Zeitpunkt leiteten verschiedene Autoren unterschiedliche Vorstellungen von einer hierarchischen Ordnung der menschlichen »Rassen« ab. In den folgenden Jahren wurde diese Unterteilungen dann in den Diskursen des europäisch-nordamerikanischen Imperialismus allgegenwärtig und gaben eine ideelle Marschrichtung vor. George Fredrickson schrieb später in seinem Standardwerk über die Geschichte des Rassismus: »Was immer von Linné, Blumenbach und andere Ethnologen des 18. Jahrhunderts beabsichtigt hatten – sie waren jedenfalls die Wegbereiter für einen säkularen beziehungsweise ›wissenschaftlichen‹ Rassismus.« Denn diejenigen, die diese rassistischen Klassifikationen vornahmen, nahmen sich im selben Atemzug das Recht heraus, Hierarchien aufzustellen. Unabhängig davon, ob von Linné, Blumenbach und andere Ethnologen des 18. Jahrhunderts ahnten, was sie mit ihrer Forschung über Rassen auslösen würden, ist es unbestreitbar, dass sie Wegbereiter für einen »wissenschaftlichen« Rassismus wurden. Es wäre schon einmal interessant, heute in die Vergangenheit zurückzureisen und sich mit diesen Herren zu unterhalten, die in ihrer Schreibhöhle saßen und Menschen aufgrund der Forschungsberichte von Kolonialisten nach Rassen kategorisierten. Glaub mir, ich hätte wirklich Lust, obwohl mein Schwedisch eher bescheiden ist, mich einmal mit Carl von Linné zu unterhalten und ihm zu sagen, dass es eine blöde Idee war, Menschen in Kategorien zu untergliedern – und dass kommende Ideologen und Rassisten auf ihn und seine »Forschungen«, die nicht wissenschaftlich begründet waren, zurückgreifen werden. Danke dafür, Carl. Leider wird es mir verwehrt bleiben, mich mit ihm zu unterhalten und das Rad der Zeit zurückzudrehen.
Und so nahm die Geschichte unweigerlich ihren Lauf. Die populäre Rassenforschung und die daraus resultierende Verknüpfung mit geistigen, charakterlichen und kulturellen Fähigkeiten von äußeren Merkmalen bereite somit den Nährboden für den Rassismus, der im 19. und 20. Jahrhundert folgte. Das Rassenkonzept fand, nachdem die Forschung über Rassismus so populär wurde, ziemlich schnell in der historisch-politischen Publizistik Verwendung. Die Frage nach dem Menschen beherrschte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie kein anderes Thema die Wissenschaft. Fast die gesamte gelehrte Elite bemühte sich um eine Klassifizierung der Menschheit. Es wurde, wenn man das so sagen will, ein Modethema. Im 19. Jahrhundert folgten dann auch der französische Schriftsteller Joseph Arthur de Gobineau (1816– 1882) mit seinem »Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen« und der britisch-deutsche Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), dessen Werk »Grundlagen des 19. Jahrhunderts« zu einem Standardwerk rassistischen und ideologischen Antisemitismus wurde. Vor allem Arthur de Gobineau erlangte mit seinem 1852 bis 1854 in vier Bänden erschienenen »Essai sur l‘inégalité des races humaines« (Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen) großen Einfluss. Er ergänzte hierin das bereits etablierte Motiv eines Rassenkampfes durch das Thema Rassenvermischung und versuchte, die Geschichte der Völker und Nationen auf diese beiden Faktoren rückzuführen. Er stellte die These auf, dass es für die kulturelle Entwicklung entscheidend sei, dass sich fortschreitende Völker in ihren Rasseeigenschaften von anderen unterscheiden müssten. Die Vermischung von Rassen führe zum Niedergang. Diese These, die ein wenig nach einem weiteren Redebeitrag beim Infoabend der AfD München-Süd klingt, ist in rechten Kreisen immer noch en vogue. Du siehst also, die Angst davor, dass eine kulturelle Vermischung erfolgt und wir alle in einem großen Multikulti-Sumpf untergehen werden, wurde bereits vor über 150 Jahren verschriftlicht. Aber die Menschheit existiert seltsamerweise immer noch. Vielleicht ist solch eine kulturelle Vermischung ja doch nicht unser Niedergang, aber das ist nur eine kleine steile These von mir, die ich an dieser Stelle mal kurz einschieben möchte.
Diese Idee wurde allerdings von zahlreichen anderen Autoren aufgegriffen und bildete die theoretische Grundlage für vielfältige rassistische Praktiken, die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichten. Gobineau und seine Kollegen waren, das muss man leider so formulieren, echte rassistische Vorreiter.
RASSISMUS AB DEM 19. JAHRHUNDERT
Der Rassismus näherte sich zunehmend einer Ideologie an, die in Europa immer populärer wurde: dem Nationalismus. Begrifflichkeiten wie »Rasse«, »Nation« und »Volk« wurden miteinander vermischt. Eine »Nation« wurde nicht mehr, wie noch in der Französischen Revolution, durch den Zugehörigkeitswillen zu einem gebildeten politischen Verband definiert, sondern vermehrt als eine Abstammungsgemeinschaft angesehen – wie damals bei den alten Spaniern. Die Herkunft wurde wieder wichtig. Und auch heute ist Herkunft in unserer Gesellschaft immer noch ein gar nicht so unwichtiger Faktor, weil wir einem Herkunftsland, und sei es auch nur innerdeutsch, immer gewisse Charaktereigenschaften zusprechen. Vorurteile eben. Der Schwabe spart. Der Bayer trinkt Weißbier. Der Norddeutsche schweigt. Aber ich schweife etwas ab.
Die Verbreitung des Rassekonzepts hatte schon sehr bald konkrete Auswirkungen in West- und Mitteleuropa und auch in den kolonisierten Gebieten. Bis hierhin war die »Forschung« an solchen Rassen aus heutiger Sicht, nun ja, schwierig, aber, um ehrlich zu sein, wenn es bei dieser Art von »Forschung« bleibt, ist das ja nicht weiter tragisch, oder? Es wäre nur zu schön gewesen, hätte man diese ganzen seltsamen Kategoriensysteme einfach niedergeschrieben und die Idee dahinter, dass es nämlich Wertigkeiten im Menschsein gibt, in irgendwelchen Bibliotheken verstauben lassen. Dem war aber nicht so. Rassismus wurde eine Waffe und als ein Rechtfertigungsmittel eingesetzt. Unterwerfung, Ausbeutung und Versklavung gingen in den Kolonialstaaten eben leichter von der Hand, wenn man den Menschen, die dort lebten, nicht dieselbe Wertigkeit zusprach. Wenn ich einen anderen Menschen nicht als gleichwertig anerkenne, einfach aufgrund seiner Herkunft, ist es sehr viel leichter, ihn zu versklaven. Der menschliche Bezug, die Empathie fehlt. Durch den »wissenschaftlichen« Rassismus wurden Rechtfertigungen für Unterwerfung, Ausbeutung, Abwertung und Versklavung gesucht und gefunden.
DIE WIRKUNGSMACHT VON RASSISMUS
Einer Sache muss man sich wirklich bewusst werden. Rassismus beziehungsweise das Rassekonzept waren nicht einfach wilde Theorien von irgendwelchen Hinterwäldlern. Diejenigen, die Rassekonzepte und Rassentheorien aufstellten, waren Bildungsbürger. Gelehrte und Forscher. Die Idee, dass Menschen unterschiedlich viel wert sind, weil sie unterschiedliche angeborene Eigenschaften haben, die sich durch ihre Herkunft begründen, entstand nicht in einer Kneipe. Sie entwickelten sich aus der Bildungsschicht und wurden prominent und weit verbreitet. Philosophen wie Immanuel Kant, deren Schriftwerk heute immer noch wichtig und einflussreich ist, beteiligten sich an solchen Debatten. Das mag heute unvorstellbar erscheinen, aber genau deshalb müssen wir kritisch mit dem Vermächtnis so mancher Denker umgehen und deren rassistische Ideen nicht verschweigen, sondern offenlegen. Die Aussage »der Zeitgeist war damals einfach ein anderer« ist hierbei schlichtweg eine Ausrede, die weder als Entschuldigung noch als Verharmlosung gelten darf. Die prominente Präsenz des Rassekonzepts, die eben nicht auf das Konto normaler Bürger, sondern der adligen europäischen Elite ging, hatte verschiedene Konsequenzen, auf die ich im Folgendem eingehen möchte.
Zunächst entstand eine rassistische Pseudowissenschaft, die die Existenz menschlicher »Rassen« und deren Ungleichheit empirisch nachzuweisen versuchte. Die bevorzugte Methode dazu war die anatomische Vermessung und Klassifizierung von Menschen, insbesondere von Schädelform und -volumen. Testresultate, die nicht den Erwartungen entsprachen, wurden dabei in aller Regel nicht zum Anlass genommen, das Rassenkonzept infrage zu stellen, sondern führten dazu, noch ausgeklügeltere Messmethoden zu fordern. Eng damit verknüpft war die Eugenik oder, wie sie in Deutschland genannt wurde, die »Rassenhygiene«, die auf denselben biologistischen Annahmen wie das Rassenkonzept basierte und ab dem späten 19. Jahrhundert ebenfalls einen Aufschwung erfuhr. Auch eine Vielzahl gesellschaftlicher Probleme wie Kriminalität, Alkoholismus oder Prostitution wurde im Wandel der Zeit auf eine Veranlagung zurückgeführt und sollte durch Maßnahmen wie Eheverbote und Zwangssterilisationen bekämpft werden. Das waren die ersten Konsequenzen, nachdem der »wissenschaftliche« Rassismus gesellschaftsfähig wurde.
Die Vorstellung von »rassischen« Hierarchien, die zeitgleich Hand in Hand mit der Vorstellung von ethnischen Nationalstaaten gingen, führte, wie hätte es anders sein können, zu einer Vielzahl von Gewaltaktionen. Ein Pulverfass war geschaffen worden. Die nationalistischen Vorstellungen von ethnisch »reinen« Nationalstaaten führten zu Gewaltaktionen, die von Vertreibungen bis hin zum Völkermord reichten. Schauplätze waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem die kolonisierten Gebiete außerhalb von Europa und der südosteuropäische Raum. Siedlerkolonien, die sich in Nordamerika und Ozeanien ausbreiteten, rotteten die indigenen Bevölkerungen fast vollständig aus.
Eine weitere Form »säubernder« Gewalt entfaltete sich in den weltweiten Besatzungen der Kolonialmächte um 1900. Seien es die Spanier auf Kuba, die Amerikaner auf den Philippinen oder die Deutschen in afrikanischen Kolonien, große Teile der Bevölkerungen wurden deportiert, in Konzentrationslagern gefangen gehalten und ermordet. Ja, auch die Deutschen waren schon vor den Weltkriegen an solchen Völkermorden beteiligt. Die Vernichtungskriege gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika bezeichnete die deutsche Seite als »Rassenkampf«. Von 1904 bis 1908 wurden durch Kriege und Zwangsarbeit rund 100.000 Menschen getötet. Eine Tatsache, die viel zu lange verharmlost wurde, kaum in Schulbüchern zu finden ist und nicht zwangsläufig als Teil deutscher Geschichte gesehen wird. Dabei sind es gerade die dunklen Episoden der eigenen nationalen Historie, aus der man für die Zukunft lernen kann. Auch andere Nationen vernichteten einheimische Völker. Die Auswirkungen von Rassismus erreichten im Ersten Weltkrieg einen traurigen Höhepunkt.
Es kam im Osmanischen Reich zu Verfolgungen der armenischen, griechischen, jüdischen, aramäischen und assyrischen Minderheiten, die im Fall der Armenier bis zum Völkermord reichten. Wir müssen uns anhand solcher historischer Tatsachen darüber im Klaren sein, dass diese Völkermorde, egal, auf welchem Erdteil sie gerade stattfanden, immer einen gemeinsamen Ursprung hatten: rassistisches Gedankengut. Das sind die historischen, aufgezeichneten und erlebten Auswirkungen von Rassismus: Völkermord und Vertreibung. Das liest man sehr ungern, aber es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, vor allem in unserer heutigen Zeit, wo so ein »kleines bisschen Rassismus« manchmal ja in Ordnung erscheint. Vielleicht denkst du an das erste Kapitel und an den Mann, der während der AfD-Infoveranstaltung meinte, das Folgende sei ein »kleines bisschen rassistisch«. Es gibt aber kein »kleines bisschen rassistisch«. Es gibt nur rassistisch oder nicht rassistisch.
Meinst du, die Armenier hätten es in Ordnung gefunden, wenn man ihnen gesagt hätte, dass die Osmanen halt »ein bisschen rassistisch« unterwegs gewesen wären? Lässt man sich von Menschen, die nicht ganz rassistisch, sondern eben nur ein »bisschen« rassistisch sind, lieber umbringen als von Vollzeitrassisten? Hier liegt ein Denkfehler bei Menschen, die der AfD angehören. Rassismus, egal in welcher Form, ist immer indiskutabel und nie etwas, was unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit formuliert oder gar gerechtfertigt werden sollte. Es ist praktizierter Rassismus, der dazu geführt hat, das ganze Volksgruppen vor gar nicht allzu langer Zeit von unseren Vorfahren gejagt und vertrieben wurden. Mitten in Europa. Wenn du also mal in einer Runde sitzt und jemand etwas »bisschen Rassistisches« sagt, kannst du gern kurz an die Seite dieses Buches und an die zahlreichen Völkermorde denken, die alle mit einem »kleinen bisschen Rassismus« angefangen haben. Rassismus kennt keine Toleranz, also sollten wir gegenüber Rassismus auch keine Toleranz zeigen.
Es mag sein, dass dich dieses Kapitel vielleicht etwas anödet und du dachtest, es gibt jetzt mehr Storys übers Kiffen und Rappen (gibt es später auch, versprochen), aber ich möchte, und das ist mir wirklich ein Anliegen, gern erklären, warum diese Sache so wichtig ist. Mir im Speziellen, aber auch für jeden anderen Menschen. In einer Welt, in der wir zusammenleben müssen – wir haben nun mal nur diesen einen Planeten, den wir uns alle teilen –, ist es unabdingbar, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen, um so eine gemeinsame Zukunft bestreiten zu können.
Puh, kurz durchschnaufen und weiter im Text!
RASSISMUS UND DER NATIONALSOZIALISMUS
Kommen wir nun zu einer wirklichen, man kann es nicht anders sagen, »Hochzeit« des Rassismus und der damit verbundenen Gewaltpraktiken: dem Nationalsozialismus. Mich hat diese Zeit immer auf irgendeine Weise fasziniert. Während die anderen Jugendlichen im Geschichtsunterricht mit den Augen rollten, wenn es »schon wieder« um Nazi-Deutschland ging, war ich immer hellwach und aufnahmefähig. Ich fand es wahnsinnig interessant, wie es möglich war, dass sich der größte Teil der Bevölkerung in Deutschland hatte mitreißen lassen von diesem Gedankengut und der andere Teil die Augen davor verschlossen oder die Gräuel zumindest sehenden Auges hingenommen hatte. Ich war fasziniert von der Vorstellung, dass eine Gesellschaft ihre moralischen Zweifel dem Vertrauen gegenüber einem politischen Führer untergeordnet hatte.
Außerdem hatte ich auch einen persönlichen Bezug zu dieser Thematik. Von meinem Opa mütterlicherseits wusste ich alles vom Krieg. Er erzählte und berichtete von seinen Erfahrungen. Für mich waren das damals mündliche Actionfilme, und ich konnte das als Kind nicht so recht einordnen. Irgendwann, nachdem er gestorben war, fand ich als junger Erwachsener ein Foto von seiner Hochzeit, auf dem er eine Wehrmachtsuniform trägt. Mit Hakenkreuzen drauf. Das schockierte mich natürlich ziemlich. Ich schaute das Bild und ihn in dieser Uniform an, und dann an mir herunter. Wie passte das alles zusammen? Wie konnte jemand seinem Enkel einen Wanderstock basteln und ihm zeigen, wie man schnitzt, und gleichzeitig in der Wehrmacht dienen und Menschen töten? Ich hatte als Kind nichts hinterfragt, keine Ahnung von Politik gehabt, sondern war nur ein Kind gewesen, das seinem Opa und dessen Geschichten vom Krieg gelauscht hatte: explodierende Granaten, Kameraden, denen die Eingeweide heraushingen. Einmal war mein Opa auf einem Pferd reitend beschossen worden, und nur der Manschettenknopf seines Wehrmachtsmantels hatte das Schrapnell abprallen lassen, sonst wäre sein Handgelenk zerschmettert worden.
Wenn meine Oma mitbekam, dass er vom Krieg erzählte, schimpfte sie ihn, als würde er ein Geheimnis preisgeben. Meiner Mutter erzählte er im Übrigen, er wäre im Krieg Laster gefahren.
Irgendwann, nachdem er gestorben war, verstand ich, dass die Actionfilme keine Geschichten gewesen waren. All seine Erzählungen waren wahr.
Wenn wir uns fragen, wie Rassismus wirkt, müssen wir uns zwangsläufig mit den Nazis befassen, denn die nationalsozialistische Ideologie beruhte in erster Linie auf einem rassistisch begründeten Antisemitismus. Juden waren das Feindbild. Hinzu kam ein Ariermythos und ein über die Maßen eingebranntes nationalistisches Selbstverständnis, das dem verlorenen Ersten Weltkrieg und den daraus resultierenden Reparationszahlungen zuzuschreiben war. Millionen von Menschen fielen diesem ideologischen Gemisch zum Opfer.
Sechs Millionen Jüdinnen und Juden sowie zahlreiche weitere Opfergruppen, darunter zwischen 220.000 und 500.000 ermordete Sinti und Roma und über 100.000 Todesopfer der Euthanasie-Programme sprechen eine deutliche, blutige Sprache. Das alles hat mit »ein bisschen Rassismus« begonnen. Das sollten wir nicht vergessen.
DIE NEUEN RECHTEN
Ich habe ein wenig das Gefühl, immer wenn es um Nazi-Deutschland geht, schalten viele Menschen ab, einfach weil man das Ganze ja schon »so oft« gehört hat. Ich glaube aber, wir brauchen ein klares geschichtliches Verständnis darüber, was in der Vergangenheit in Deutschland passiert ist, eben, um daraus zu lernen und unsere Konsequenzen zu ziehen.
Der praktizierte Rassismus erlebte im NS-Regime eine Hochphase. Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Ethnie oder Hautfarbe zu jagen war gesellschaftlich akzeptiert und wurde quasi zu einer Bürgerpflicht. Der Nationalsozialismus ist ein ziemlich dunkles Kapitel in unserer Geschichte, und es macht natürlich wenig Spaß, darüber zu reden. Für viele Menschen ist diese Zeit in Deutschland aber auch immer etwas »outstanding« und passt nicht ganz in die sonstige deutsche Geschichte, ist quasi ein historischer Sonderfall. Für mich ist das nicht so. Ich sehe hier eine klare sich abzeichnende Linie historischer Ereignisse und Geisteshaltungen, die zum Dritten Reich geführt haben. Ich glaube, es ist extrem wichtig, eine gesamthistorische Entwicklung zu betrachten, um zu verstehen, dass hier einiges zusammenhängt und dass diese wichtige Episode kein – wie es Alexander Gauland von der AfD einmal formuliert hat – »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte ist. Vielmehr zeigte diese Zeit doch auch exemplarisch auf, das Menschen in der Lage sind, ihre christlich moralischen Grundsätze komplett abzulegen und sich in einer Masse aus Gleichgesinnten zu einem rassistischen Mob zu entwickeln, der die Bücher der Andersdenkenden verbrennt und auf den Straßen die brutalen Schläger und Meucheltrupps gewähren lässt, die im November 1938 durch Deutschland ziehen. Nur um sich danach das Mäntelchen des »Ich selbst hab ja nicht wirklich etwas Schlimmes getan« anzuziehen. Das kann nur funktionieren, wenn Rassismus und Entmenschlichung in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Genau dies hat das System des Dritten Reiches mit dem offen propagierten Rassismus geschafft.
Schau mich an. Was hätte ich für ein Leben in Nazi-Deutschland geführt? Ich denke an die Geschichte von Hans-Jürgen Massaquoi, einem in Nazi-Deutschland aufgewachsenem Diplomatensohn mit der gleichen Komplexion wie ich. »Neger, Neger, Schornsteinfeger« heißt seine Biografie, und ich habe sie genau aus dem Grund verschlungen: Ich wollte wissen, wie es gewesen wäre, wenn ich in der Welt meines Opas großgeworden wäre. Massaquoi war fasziniert von den Nazis und wollte unbedingt einer von ihnen sein. Auf dem Cover des Buches trägt er einen Hakenkreuz-Anhänger auf seinem Pullover, sein Blick ist ernst und entschlossen. Ich glaube, wäre ich in diese Zeit hineingeboren, hätte ich auch mit dieser Entschlossenheit versucht, mich den Nazis anzupassen.
Es ist schon seltsam, dass ich, ein farbiges Mischlingskind, damals auf dem Schoß meines Opas einschlief und er mich streichelte, wohingegen er 30 Jahre zuvor einem Regime diente, das systematisch Juden ermordete und alles Andersartige verabscheute.
Aber wie steht es eigentlich um den Rassismus nach der NS-Zeit, nachdem der Peak gewissermaßen erreicht war?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach der Erfahrung der NS-Verbrechen der Rassismus politisch und wissenschaftlich erst einmal diskreditiert war. Allerdings hatten in den Südstaaten der USA und in Südafrika Systeme der Rassentrennung noch bis in die 1960er-beziehungsweise bis in die 1990er-Jahre Bestand. Rosa Parks, die ihren Sitzplatz Mitte der 50er nicht für einen weißen Fahrgast räumen wollte, Martin Luther King oder auch Malcolm X – all diese Personen kämpften Zeit ihres Lebens für die Rechte von Schwarzen mitten in Amerika. Nicht aus purem Vergnügen oder Geltungsdrang, sondern weil sie in ihrem alltäglichen Leben als Schwarze diskriminiert und nicht als vollwertiges Mitglied der US-amerikanischen Bevölkerung angesehen wurden.
Die UN-Sonderorganisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, die UNESCO, initiierte kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine internationale Kampagne gegen Rassenvorurteile, um hier ein deutliches Zeichen zu setzen, dass diese Zeit vorbei sei. Bis in die 1960er-Jahre erlangten zudem die meisten europäischen Kolonien ihre Unabhängigkeit, und die Kolonialmächte mussten sich zurückziehen. Ein rassistisches Überlegenheitsgefühl, das einst Versklavung gerechtfertigt hatte, trat erstmalig in den Hintergrund. Das in der Vergangenheit durchaus anerkannte biologische Rassenkonzept als politische Ideologie und Rechtfertigung für Unterdrückung und Gewalt blieb nur noch rechtsextremen Kreisen vorbehalten. Im politischen und gesellschaftlichen Mainstream, wie er eben vor allem während der Kolonialisierung vorgeherrscht hatte, fand die Idee, man sei eine »bessere« Rasse, weil man eben weiß und privilegiert war, nicht mehr statt.
Das heißt nicht, dass man sich nach 1945 und der Auflösung der Kolonialmächte auf einmal auf ein friedliches Miteinander geeinigt hätte und die rassistische Ideologie einfach so – quasi über Nacht – verschwunden gewesen wäre. Noch immer wurde versucht, verschiedene Menschengruppen zu kategorisieren, und ich glaube, das ganze Rassendenken verschob sich im Lauf der Zeit einfach. Weg von den Parlamenten und den Kaffeehäusern, in denen Weiße über die Vorteile von Negern als Arbeitssklaven geredet hatten, hin zu Facebook-Gruppen und AfD-Treffen hinter verschlossenen Türen. Unterschiede zwischen Menschen wurden allerdings nun nicht mehr genetisch begründet. Der biologische Rassismus war im Lauf der Jahre ein wenig aus der Mode gekommen, stattdessen wurden kulturelle Faktoren verstärkt in die unterschiedliche Betrachtung von Menschengruppen eingebunden. Es ging nun nicht mehr um die Wertigkeit oder um die Vorherrschaft einzelner Rassen, sondern um die Verschiedenartigkeit von Völkern und Kulturen und um das vermeintliche Recht jeden Volkes auf die Bewahrung seiner Identität, was auch immer das jetzt sein sollte.
Im Lauf der Jahre entstand so eine Denkweise, die von der Forschung mit den Schlagwörtern »kultureller Rassismus«, »Neo-Rassismus« oder »Rassismus ohne Rassen« gekennzeichnet wird. Ein neuzeitlicher Rassismus, der nicht immer offensichtlich zu tragen kommt, aber nicht weniger gefährlich ist. Hast du schon mal mitbekommen, wie jemand über »Moslems« schimpft?
»Die bauen hier eine Moschee hin und unterwandern unsere Kultur« ist eine durchaus gängige These, wenn du zur falschen Zeit in die falschen Wirtshäuser einkehrst und dich dort umhörst. Dieses kulturrassistische Denken unterscheidet sich von einem biologisch begründeten, bleibt aber natürlich rassistisch. Wenn der eben bereits zitierte Alexander Gauland die SPD-Politikerin Aydan Özoğuz in einem Redebeitrag angeht und sagt, er wolle sie »in Anatolien entsorgen«, ist das ein deutlich rassistisches Statement, da er ihr aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes abspricht, zu Deutschland zu gehören. Von der rassistisch gefärbten Wortwahl seiner Aussage einmal ganz abgesehen. Dessen müssen wir uns bewusst werden: Rassismus ist immer noch Teil unserer Lebensrealität.
Die theoretische Konzipierung dieses neuen kulturell begründeten Rassismus wurde von den »Neuen Rechten« rund um den französischen Philosophen Alain de Benoist mitbegründet, der in Frankreich einige rechte Zeitschriften publizierte und sich auch als Autor in rechten Publikationen wie der »Jungen Freiheit« und »Europa vorn« etablierte. Der deutsche Rechtsintellektuelle Henning Eichberg prägte den Begriff des »Ethnopluralismus«, welcher sich zum Kernstück einer neurechten Ideologie mauserte. Hiernach kann die Identität einer »Ethnie« nur im Kontext eines Territoriums und einer spezifisch kulturellen Prägung entwickelt werden. Die Idee entstand, das unterschiedliche Ethnien räumlich voneinander getrennt werden müssten, um kulturelle Eigenarten zu bewahren. Multikulturalität ist demnach also ein Novum, die Angst vor dem Fremden eine natürliche Reaktion. Für Eichberg und die neuen Rechten wird Kultur als eine feststehende Größe definiert, die sich entweder sehr langsam oder gar nicht wandelt. Das ist schon eine ziemlich einseitige und hängen gebliebene Vorstellung, wie ich finde. Die Vorstellung von einem kulturellen Wandel in der modernen Welt wird von den neuen Rechten geflissentlich ignoriert. Auch Phänomene der individuellen und kollektiven Vermischung kultureller Praktiken und Werte werden ausgeblendet. Man stelle sich nur eine Hip-Hop-Kultur ohne Remixes und Samples vor, also ohne die Neuaufbereitung von bereits Dagewesenem. Das wäre nicht möglich. So ziemlich alles, was unsere heutige multipluralistische, kulturelle Gesellschaft ausmacht, wäre nicht vorhanden, denk beispielsweise nur kurz an deinen Lieblings-Falafel-Laden um die Ecke. Oder an alles andere. Ich glaube, man könnte hier Tausende Beispiele einfügen, warum es ziemlich rückschrittig ist zu glauben, dass Kultur ein fester Wert ist. Und ich rede jetzt nicht von Traditionen, die gepflegt werden sollten.
Ich komme ja aus Bayern und liebe es, Bayerisch zu reden. Ich finde die bayerische Kultur super, die Wirtshäuser, den Dorfklatsch, die Wiesn, die Kramperljagd, die Goaßnschnoizer, das Gstanzl singen, sogar den Trachtenverein. Ich will da niemandem etwas wegnehmen, aber ich will auch Hip-Hop machen. Ich will auch mit Leuten herumhängen, die nicht alle aus demselben Dorf kommen, ich will Kultur mitgestalten und etwas Neues schaffen. Menschen inspirieren und zusammenbringen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass beides funktioniert, also das Bewahren von alten Traditionen wie auch das Hereinnehmen anderer Kulturkreise in den eigenen, und ich glaube, dass vor allem Letzteres uns kulturanthropologisch weiterbringt, weil wir so von etwas Unbekanntem, von einer Kultur oder von Menschen, die wir nicht kennen, etwas mitnehmen können.
Im Lauf der Jahre wurde kulturrassistisches Gedankengut von diversen Anti-Immigrationsbewegungen immer wieder propagiert, die seit den späten 1960er-Jahren in verschiedenen europäischen Ländern auch vermehrt Wahlerfolge erzielen konnten. Hierzulande waren das beispielsweise die NPD, der dann später, zunächst ja erst mal als eurokritische Partei, die AfD folgte. In Frankreich war die Front Nationale (RN) rechtspopulistischer Vorreiter, in Österreich etablierte sich am rechten Rand die Freiheitliche Partei (FPÖ). Die Idee, das wir »unsere« Kultur innerhalb unserer Grenzen bewahren müssen, verbreitete sich allerdings nicht nur in Parteiprogrammen und auf irgendwelchen politischen Sitzungen, sondern hielt auch Einzug in den gesellschaftlichen Mainstream.
Populäre Bücher wie das 1996 erschienene »The Clash of Civilizations« (Kampf der Kulturen) sorgten für Aufsehen und verkauften sich millionenfach. In seinem Werk definierte Samuel Huntington zwar nicht genau, was er jetzt unter »Kulturen« verstehen würde, beschrieb aber »eine signifikante Entsprechung zwischen der an kulturellen Merkmalen orientierten Einteilung der Menschen in Kulturkreise und ihrer an physischen Merkmalen orientierten Einteilung in Rassen«. Andere Veröffentlichungen versuchten die Zusammenhänge zwischen Kultur, Ethnie und Intelligenz nachzuweisen. Solche Vorstellungen waren ja bereits Kernidee des frühen pseudowissenschaftlichen Rassismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewesen, also nicht wirklich neu. Ab den späten 1960er-Jahren wurden derartige Vorstellungen in breiteren konservativen Kreisen Nordamerikas wieder hervorgehoben und führten zu einer Reihe von Forschungsprojekten. Die beiden Harvard-Professoren Charles Murray und Richard J. Herrnstein (1930–1994) erläuterten 1994 in ihrem Buch »The Bell Curve«, dass der Intelligenzquotient von Afroamerikanern niedriger sei als derjenige von Weißen. Die sinkende Intelligenz der amerikanischen Bevölkerung sei für eine steigende Kriminalität, Verarmung und Arbeitslosigkeit verantwortlich. Staatliche Sozialprogramme seien nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv, da sie zur weiteren Ausbreitung von intellektuell unterlegenen Unterschichten beitragen würden.
Und dabei dachten wir doch, wir hätten den Rassismus schon längst hinter uns gelassen. Weit gefehlt. Nur ist die Wortwahl eben eine andere. In diesem kulturellen Rassismus wird kein Schwarzer mehr durch ein Dorf getrieben, der Rassismus verlagerte sich, wie oben bereits beschrieben, in den letzten Jahren vor allem auf Ethnien und auf die kulturelle Herkunft.
Thilo Sarrazin sah 2010 in seinem Buch »Deutschland schafft sich ab«, einen Zusammenhang zwischen der Zuwanderung aus muslimischen Ländern und dem angeblich sinkenden Intelligenzdurchschnitt der Bevölkerung in Deutschland. Das Buch wurde ein Bestseller. Von Fachleuten wurde das Werk Sarrazins zwar aufgrund des unsauberen und selektiven Umgangs mit statistischen Daten kritisiert, verkaufte sich aber trotzdem 1,5 Millionen Mal und hielt sich insgesamt 68 Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Der Nachfolgetitel »Feindliche Übernahme«, der im August 2018 erschien, ist bei Drucklegung des Buches (aktueller Stand 2019) bereits 25 Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Angst davor, dass wir unsere kulturelle Identität verlieren, woran und an wen auch immer, scheint also wirklich ein Thema zu sein, was die Menschen interessiert und bewegt (oder zumindest ihre Kaufkraft anregt). Im Übrigen, und das nur am Rande: Mittlerweile ist das erste Sarrazin-Buch neun Jahre alt, und ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber Deutschland hat sich immer noch nicht abgeschafft. Sicher, dass Vorrundenaus bei der letzten Fußball-WM war tragisch, und die Preise für die Maß auf der Wiesn sind wieder einmal gestiegen, aber damit müssen wir eben versuchen klarzukommen.
Abschließend lässt sich nach diesem historischen Abriss feststellen: Die Geschichte des Rassismus hat nach 1945 einen sehr bedeutenden Einschnitt erfahren. Offener, direkter Rassismus findet seltener statt, auch wenn uns Videos und Bilder von Protestmärschen in Chemnitz, bei denen zu sehen ist, wie ausländisch aussehende Jugendliche von Rechten gejagt werden, zu denken geben sollten – auch die NSU-Morde.
Die Geschichte des Rassismus ist mit dem Zerfall von Nazi-Deutschland keinesfalls beendet, sondern im späten 20. Jahrhundert einfach in eine neue Phase eingetreten. Heute sind es kulturelle Gruppen, die Ablehnung und Diskriminierung erfahren und Feindbilder sind. An den Kern eindeutig rassistischer Ideen und Taten Rechtsextremer schließt sich heute eine Grauzone an, die bis in die gesellschaftliche Mitte reicht und der wir überall und jederzeit begegnen können. Wir müssen uns im gesellschaftlichen Miteinander also auch darüber im Klaren sein, dass rassistische Tendenzen vielleicht nicht mehr ganz so offensiv in Erscheinung treten, aber eben immer noch vorhanden sind und auch formuliert werden. Nur weil Rassismus heute galant verpackt wird und sich nicht mehr durch Kolonialisten, die die Sklaverei propagieren, ausdrückt, ist die Idee, das eine bestimmte Gruppe Menschen privilegierter als eine andere Gruppe ist, nicht aus der Welt geschafft. Das hat mir vor allem die Begegnung beim AfD-Infotreffen gezeigt, als ich spürte, dass mir Ablehnung entgegenkam, einfach weil ich eine andere Hautfarbe habe. Weil ich ein »Neger« bin, wie die Wirtin mir zu verstehen gegeben hatte, bevor sie mir mein unbestelltes Cola-Weizen hinstellte und selbst davon getrunken hat.
Der Rassismus ist nicht aus der Welt. Er tritt nur in einer anderen Form auf. Dessen müssen wir uns bewusst sein, überall und jederzeit. Prost!