DIE GRUNDSCHULE UND DIE GRUNDSCHULD
Als ich damals in Markt Schwaben vom Kindergarten auf die Grundschule wechselte, war der Wandel von einem biologisch zu einem kulturell begründeten Rassismus noch kein großes Thema für mich, auch wenn es später eins werden sollte. Damals wollte ich einfach nur schnellstmöglichst auf die Schule und endlich mehr lernen. Die Bildungseinrichtungen in Markt Schwaben liegen allesamt in einem großen Bildungskomplex, was für mich praktisch war, denn die Schule war gut zu erreichen. Von unserer Hochhaussiedlung lief man einen fast malerischen Weg entlang des Fernsehturms, vorbei am Henningsbach zum Bahnhof Markt Schwaben. Später, als ich zum Gymnasium ging, habe ich meinen Kumpel Bowdee hier immer abgeholt. Er trug Kopfhörer, und auf dem Weg zur Schule zeigten wir uns gegenseitig unsere Scratches, die wir in unseren Kinderzimmern aufgenommen hatten. Doch das kam alles später. Der Bahnhofvorplatz war jedenfalls morgens immer ein kleiner Knotenpunkt. »Fahrschüler« nannten wir die Kinder, die aus den nahe gelegenen Dörfern, also Kirchheim, Ottenhofen und Poing pendelten. Vom Bahnhof aus ging es dann den Kreppmeier Berg hoch, wo die Kinder im Winter Skifahren lernen. Am Ende des ersten Anstiegs befindet sich die Grundschule, ungefähr auf derselben Höhe liegt auch der Kindergarten und etwas weiter dann die Hauptschule, ein hässlicher Betonbau aus den 60ern, daneben Realschule und das Gymnasium. Wie bereits gesagt – alles ziemlich nah aneinandergebaut.
Diesen Weg kannte ich ja schon von meiner Zeit aus dem Kindergarten. Der Wechsel in die Grundschule war also ein wirklicher Katzensprung. Dort hielt ich es allerdings nur zwei Jahre aus, bevor meine Mutter mich runternahm. Das Unwohlsein fing hier schon an meinem allerersten Schultag an. Auf dem Foto sieht man exemplarisch eine Vorher-Nachher-Situation. Auf dem ersten Bild stehe ich überglücklich und voller freudiger Erwartungen vor dem Schulgebäude und auf dem zweiten … na ja. Das siehst du ja selbst. Ich hatte eigentlich schon ziemlich Lust auf die Schule. Meine Mutter war ja selbst Lehrerin, und ich hatte eine ungefähre und vor allem positive Vorstellung davon, wie das ist, wenn ein Lehrer mit Schülern arbeitet, weil sie mich als Kleinkind gelegentlich mit in die Schule genommen hatte und ich ihr bei der Arbeit hatte zusehen können. Meine Mutter war immer sehr emphatisch gewesen und voller Eifer dabei. Frau Janka, meine Klassenlehrerin, die mit einem biederen Zopf und einer unnachahmlichen Strenge und Bissigkeit in ihrem Blick auf sich aufmerksam machte, tat aber alles dafür, um mir diesen Eindruck zu vermiesen, und setzte mich an meinem ersten Schultag direkt weg von meinem Freund Rainer, der aus meiner Siedlung kam. Einfach so. Der Vibe, der von dieser Frau ausging, war einfach von Anfang an mies, und so schlug meine vorfreudige Erwartungshaltung schnell in die ernüchternde Feststellung um, dass diese alte Frau mich einfach nicht mochte.
In ausnahmslos jeder Pause musste ich mich vor ihr für irgendetwas verantworten. Ich will jetzt nichts beschönigen, ich war sicherlich ein wildes Kind, das auch ab und an mal über die Stränge schlug, und bestimmt kein Engel, aber an der Grundschule in Markt Schwaben war ich erst einmal an allem schuld. Das ging weit über diesen normalen Ärger, den ein Grundschulkind mit seinen Lehrern haben kann, hinaus, und es entstanden zum Teil bizarre Situationen. Eine Sache von damals ist mir bis heute noch sehr gut in Erinnerung. Martin, ein Grundschulfreund von mir, trug eine Brille, was damals Grund genug für ein anderes Kind war, ihm diese in der großen Pause runterzuhauen. Ich stand unbeteiligt mit auf dem Schulhof, auf dem alle Kinder herumwuselten, als Frau Janka und der Direktor einschritten und in die Runde von gaffenden Erst- und Zweitklässlern fragten, was sich hier denn zugetragen habe. Irgendein unbeteiligtes Kind rief wohl von der Seite, dass ich auch mit dabei gewesen sei, zumindest muss es so gewesen sein, denn auf einmal stand der Schuldige fest: ich. Und das war’s dann auch. Frau Janka beugte sich in ihrem straffen Kostüm über mich und brüllte mich mit ihrem wutverzerrten Gesicht an. Rechts neben ihr thronte der große, dicke Direktor mit seiner Hornbrille und brüllte auch. Ich blickte zu ihm hoch, von dem ich eigentlich bisher einen ganz guten Eindruck gehabt hatte, und dachte mir nur: O mann, du siehst aus wie mein Opa. Wieso bist du nicht so nett wie mein Opa? (Die Fotos von meinem Opa in Wehrmachtsuniform fand ich erst später.) Was sollte das? Beide Lehrkräfte standen jetzt vor mir und schrien mich an, obwohl ich nichts getan hatte. Außerdem gab es keinen richtigen Abschluss dieser ganzen Nummer. Kein klassisches Ärgerbekommen, »Es tut mir leid«-Wimmern, Strafaufgabe-Kassieren … Stattdessen hörte diese seltsame Tirade nicht auf. Mein Freund Martin stand derweil neben mir, hielt sich die Hände an den Kopf und plärrte die ganze Zeit, das ich nichts mit seiner Brille zu tun hätte. Ich habe die Szene noch genau vor Augen. Verdattert schaue ich in die weit aufgerissenen Augen meiner Lehrerin und meines Direktors, während Martin mit seiner kleinen Piepsstimme »Der David hat damit nichts zu tun! Der David kann da nichts für!« ruft. Doch das war zu diesem Zeitpunkt egal. Ich stand mal wieder im Mittelpunkt, und selbst das Geschrei des Opfers konnte die zuständigen Autoritätspersonen nicht davon abhalten, den einfachsten Weg zu wählen und den Auffälligen vom Schulhof, den Auffälligen von Markt Schwaben in die Verantwortung zu ziehen. Meine Hautfarbe war mein Unique Selling Point, wie man in der Betriebswirtschaft sagen würde. Die Aufmerksamkeit wurde der Einfachheit halber auf mich gelenkt.
Es folgten diverse Briefe der Grundschule an meine Mutter, was für ein schlimmes Kind ich doch sei. Meine Mutter konnte sich das schlecht vorstellen. Sie bekam die Briefe und las sie kopfschüttelnd in der Küche. Sie war ja selbst Lehrerin. Zu Hause tollte ich zwar mit meinen Jungs herum, wir bauten Holzlager am Henningbach und vertrieben uns die Zeit mit Ritterspielen, mehr aber auch nicht – so schlimm konnte ich in ihren Augen gar nicht sein, und ich war es auch nicht.
In der zweiten Klasse feierten wir in der Grundschule ein Schulfest, zu dem ich unter keinen Umständen hinwollte. Ich hatte keine Marken für Getränke und Essen bekommen, weil ich beim Werken etwas geschludert hatte, und rückte erst nach und nach vor meiner Mutter mit der Sprache heraus, als sie herausfinden wollte, warum ich denn nicht mit meinen Freunden aus der Siedlung zum Schulfest gehen wollte. Ich hatte einfach keine Lust, als Außenseiter dazustehen, der ich ja ohnehin schon war. Ohne Marken auf dem Schulfest, da wollte ich lieber dann ganz zu Hause bleiben. Als ich meiner Mutter unter Krokodilstränen beichtete, warum ich nicht zum Schulfest wollte (»Ich hab keine Marken gekriegt …«), reichte es meiner Mutter endgültig, und sie sprach den Direktor am darauffolgenden Tag von Pädagoge zu Pädagoge an, was denn der Humbug sollte, so könne man schließlich nicht mit einem Kind umgehen, das sowieso bereits Probleme in der Schule habe. Wenige Tage später meldete sie mich dann ab, und ich wechselte zum dritten Schuljahr in die Grundschule nach Altenerding.
In Altenerding änderten sich die Dinge. Ich war auf der Schule zwar immer noch der einzige Schwarze, denn wenn es in Markt Schwaben schon kein anderes schwarzes Kind gab, warum sollte es hier eins geben, aber daran hatte ich mich ja schließlich gewöhnt. Die Stimmung in Altenerding war allerdings eine andere. Ich weiß heute nicht mehr, woran es genau gelegen hatte, aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass meine Hautfarbe eine große Sache war. Ich war halt einfach der David. Vielleicht lag es auch daran, dass es in Altenerding nicht diesen großen Knotenpunkt am Bahnhof gab, von dem aus alle Schüler des Ortes zu den Schulen gingen und dieser öffentliche Laufsteg nicht mehr existierte, an dem ich hervorstach. In Altenerding spürte ich zum ersten Mal auch etwas anderes: Zusammenhalt von Kindern, die mich kaum kannten. Neben unserer Grundschule befand sich die Hauptschule. Ab und zu lungerten Schüler von dort auf unserem Pausenhof herum und rauchten Zigaretten. Als ich in die vierte Klasse ging, löste sich in einer Pause ein Junge von seinen drei Kumpels und ging auf mich zu. Er hob seinen Schuh, und forderte mich in tiefstem Bayerisch auf: »Neger, putz ma d’Schua!« Das war etwas, das ich öfter hörte, lustigerweise aber vermehrt von türkischstämmigen Kindern, die ja selbst oft Außenseiter waren, aber dieses »Neger putz ma d’Schua!« irgendwie für sich entdeckt hatten. Vielleicht weil sie merkten, dass sie selbst zwar auch nicht als die urdeutschen Kinder galten, ich mit meiner dunklen Haut aber ein noch größerer Außenseiter war und sie sich somit jemanden suchten, der noch weniger akzeptiert war als sie selbst. An diesem Tag in der Grundschule reichte es mir aber mit diesem blöden Spruch. Ich war sowieso schon energiegeladen, und das gab mir den Rest. Also ging ich auf den Jungen los. Ein Viertklässler gegen einen Siebtklässler, ein ziemlich ungleicher Kampf. Es war völlig egal, was ich machte, weil ich sowieso keine Chance und keine Kraft hatte, und auch die anderen drei bemerkten, was für ein leichtes Opfer ich war, als ich wie ein kleiner schwarzer Berserker auf diesen riesig wirkenden Siebtklässler einprügelte. Nach wenigen Sekunden, als ich die anderen auf mich zukamen sah, rannte ich quer über den Schulhof und versuchte, über eine Torwand zu klettern, doch es half nichts. Die Jungs zogen mich herunter, und die ersten Schläge prasselten auf mich nieder. Doch dann kamen wie aus dem Nichts drei Mädchen aus meiner Klasse und halfen mir genau in dem Moment, als die Hauptschüler auf mich einprügelten. Das war das erste Mal, dass jemand mir zur Seite sprang, der nicht meine Mutter war. Die Mädchen hätten mir nicht helfen müssen, ganz im Gegenteil. Dadurch, dass sie mir halfen, begaben sie sich wissentlich oder unwissentlich in eine Gefahrenzone, denn es wäre wahrscheinlich gewesen, dass sie jetzt im Fokus standen als diejenigen »die den Neger verteidigten«. Doch das war ihnen egal.
In dieser Phase, mit acht oder neun Jahren, wurde ich allerdings auch etwas aggressiver. Die frühe Scheidung meiner Eltern hatte mir doch mehr zugesetzt, als ich geglaubt hatte. Meine Mutter schickte mich zu einer Kinderärztin. Diese verschrieb mir allerdings kein Ritalin oder Ähnliches, sondern riet meiner Mutter, sie solle mit mir länger in den Urlaub fahren. Es wäre jetzt wichtig für mich, dass ich ein paar schöne Dinge und Momente erlebte. Mit einer befreundeten Familie verbrachten wir damals einen wunderbaren Urlaub in Niederbayern – in einem ehemaligen Bauernhof in Heißprechting –, und ich fühlte mich hier wie im Paradies. Tagsüber spielte ich mit den Tieren auf dem Grundstück, und ich durfte allein mit einem Moped durchs niederbayerische Hinterland fahren. Diese Urlaubszeit half mir auch, über das schwierige Verhältnis zu meinem Vater hinwegzukommen. Ich sah ihn zwar kaum, aber immer wenn er mich ab und zu wieder zu sich holte, nässte ich regelmäßig ein, sodass meine Mutter entschied, dass es besser wäre, den Kontakt zu unterbrechen, was für mich absolut in Ordnung war.
Am Ende der Grundschulzeit wollte meine Mutter natürlich, dass ich aufs Gymnasium kam. Für sie als Lehrerin war das absolut klar, denn Bildung war für sie immens wichtig und der Schlüssel zu einem guten Leben. Ich sah das Ganze etwas anders. Meine Freunde aus dem Dr.-Hartlaub-Ring gingen allesamt auf die Hauptschule. Die einzigen Kinder, die aufs Gymnasium gingen, lebten in den Reihenhäusern unweit der Siedlung. Zwar hatte ich mit den Reihenhaus-Kindern auch ein bisschen zu tun, meine besten Freunde lebten aber in meiner Siedlung. Das war so ein Gang-Ding. Irgendwie waren wir alle kleine Außenseiter. Bei uns in der Siedlung hatte jeder seine Story. Bei dem einen fehlte das Geld, bei anderen ein Elternteil, bei vielen beides. Es ist nicht so, dass wir in einer kaputten Getto-Welt aufwuchsen und uns nachts an brennenden Mülltonnen wärmen musste oder so. Ich mochte die Siedlung und den Zusammenhalt sehr, hier war alles einfach und unkompliziert. Oft aßen Freunde bei uns und ich bei ihnen. Der Vater von Bernhard aus dem fünften Stock schnitt mir die Haare, und ich ärgerte mich, dass er nie einen Flat-Top-Schnitt hinbekam, wie meine späteren schwarzen Vorbilder ihn hatten. Hier war ich zu Hause. Nachdem meine Mutter mir also eröffnete, sie wolle mich aufs Gymnasium schicken, war ich erst mal schockiert. Meine Noten waren zwar in Ordnung, das schon, aber ich wollte wie alle anderen aus meinem Umfeld auf die Hauptschule, den Sinn und Zweck, auf ein Gymnasium zu wechseln, sah ich einfach nicht. Einige Tage später traf ich mich mit meinem älteren Cousin, und wir zockten irgendein Computerspiel in meinem Kinderzimmer. Während wir so vor uns hin daddelten und Schokolade in uns reinschaufelten, erzählte er ganz beiläufig, dass es auf dem Gymnasium ja Würstl für die Schüler geben würde. Einfach so, schon morgens zu Schulbeginn. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Was hatte er gerade gesagt?
»Ja, kein Scheiß, David. Da gibt es Würstl jeden Morgen«, wiederholte er und griff zur Schokolade. Ich konnte es kaum glauben. Beim späteren gemeinsamen Abendessen mit meiner Mutter und meinem Cousin sagte ich ihr, wie ich mich entschieden hatte. Ich wollte aufs Gymnasium. Wegen der Würstl.
Später erfuhr ich dann, dass meine Mutter mich eh schon längst am Gymnasium angemeldet hatte, trotzdem war es schöner zu glauben, dass ich allein dafür verantwortlich gewesen war – die Würstl hatten mich tatsächlich überzeugt.
DIE MÄR VON DER CHANCENGLEICHHEIT
Rückblickend ist es ja schon etwas seltsam, dass ich der einzige Junge aus meiner Siedlung war, der aufs Gymnasium ging. Und die Tatsache, dass ich Lernen und Bildung als etwas Positives erlebt habe, liegt vor allem an meiner Mutter, die mir ihre Liebe zu Büchern schon im Kindesalter weitergegeben hatte. Zwar waren die ersten zwei Grundschuljahre ein harter Dämpfer, aber nach der zehnten Klasse war ich zum ersten Mal ein wirklich eifriger Schüler. Es wurde immer wichtiger, Transferleistungen zu erbringen, und immer weniger wichtig, Dinge stumpf und monoton auswendig zu lernen. Schlagartig verbesserten sich meine Noten, und mein Ehrgeiz zog an. Zwar war ich immer noch tendenziell faul, aber ich musste mich nicht mehr quälen, um zu lernen. In den letzten Jahren meiner Schulzeit hatte ich immer mehr die Lust am selbstständigen Lernen erfahren und deshalb auch im Hochschulstudium alle meine Interessen verfolgt, um zu sehen, wo es mich hinzog. Ich habe dies nie als verlorene Zeit gesehen. Ich habe Kunstgeschichte studiert, später dann Pädagogik, Psychologie und politische Wissenschaften. Schlussendlich ist ein Magister in Pädagogik mit den Nebenfächern Kunstgeschichte und Psychologie daraus geworden. Immerhin hab ich das zu Ende gebracht. Wie auch dieses Buch.
Rekless tut Dinge.
Ich hatte ziemliches Glück, dass meine Mutter alles tat, um mir eine gute Bildung zukommen zu lassen, aber sie war auch, wenn man es so sagen will, ein pädagogischer Sonderfall. Sie erkannte schnell, das andere Lehrer Vorurteile gegenüber der familiären Situation von Migrantenkindern hatten und diese Schüler benachteiligt wurden. Die vorherrschende Meinung im Lehrerzimmer war, dass die Eltern von Migrantenkindern sich nicht sonderlich für deren schulische Leistungen interessieren würden. Meine Mutter lud zu Gesprächen oft die älteren Brüder der Kinder ein, die dann vor den schlecht Deutsch sprechenden Eltern als Dolmetscher fungierten, und sie erklärten ihnen beispielsweise, dass es so etwas wie Nachhilfe geben würde. Sie schlug, wenn man es so sagen will, schon eine Brücke zwischen den Kulturen, was zum einen dazu führte, dass in diesen Jahren viele glückliche türkische Eltern durch Altenerding liefen und wir zum anderen eine ganze Menge Baklava zu Hause hatten. Ziemlich nice.
Meine Mutter war damals auch die Grundschullehrerin von Susi und Sali Nuru, den Schwestern von Sara Nuru, die im Jahr 2009 die Castingshow »Germanys Next Topmodel« gewann. Als ich später in München studierte und mit meiner Mutter spazieren ging, trafen wir Susi und auch Sara zufällig. Susi kam freudestrahlend auf meine Mutter zu, herzte sie und freute sich ganz offensichtlich, sie zu sehen. Das fand ich schon witzig, denn ich war eigentlich der Musiker, der »Rekless«, der ab und zu erkannt wurde. Meine Mutter hingegen war doch nur Grundschullehrerin. Aber vielleicht war sie eben mehr als das.
In Markt Schwaben kann man den Bildungsweg geografisch einordnen, keine zweihundert Meter von meiner damaligen Haustür beginnen die Reihenhaussiedlungen. In der Reihenhaussiedlung war die Gymnasiastenquote eine andere. Da würde ich retroperspektivisch sagen, dass eins von fünf Kindern auf die Hauptschule und der Rest in die Realschule oder auf das Gymnasium gingen. Auch Kinder, die nicht unbedingt die besten in der Schule waren. Ihre Eltern pushten sie. Reichten die schulischen Leistungen nicht, gab es eben Nachhilfeunterricht. Ich habe mir im Vorfeld viele Gedanken zum Thema Chancengleichheit gemacht. Wäre ich eines der Reihenhauskinder gewesen, hätte es so eine Diskussion mit meiner Mutter mit dem Totschlagargument »kostenlose Würstl« überhaupt gegeben?
Inwiefern beeinflusst das Umfeld den weiteren Bildungsweg eines Kindes? Und gibt es diese in Deutschland hoch angepriesene Chancengleichheit überhaupt? Da ich ein Freund von Begrifflichkeiten bin, würde ich direkt einmal bei der Grundfrage starten und mich damit auseinandersetzen: Wovon sprechen wir in Deutschland eigentlich, wenn wir über Chancengleichheit reden?
Zunächst einmal ist Chancengleichheit offensichtlich ein ziemlich wichtiges Thema, zu dem jede Partei etwas sagen kann. Quer durch das politische Spektrum hindurch wird sich der Einsatz für das Recht auf Chancengleichheit auf die parteipolitische Fahne geschrieben. Im Frühjahr 2017 war es laut einer Studie im Auftrag der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« 78 Prozent der Deutschen wichtig, dass jeder, unabhängig seiner sozialen Herkunft, seiner Abstammung oder seines Geschlechts, die gleichen Chancen bei Bildung und Beruf bekommt. Es lässt sich also feststellen, dass es durchaus ein Interesse der Politik wie auch der deutschen Allgemeinbevölkerung an Chancengleichheit gibt. Doch was ist damit gemeint?
Zuallererst besagt das Prinzip der Chancengleichheit, dass alle Bürgerinnern und Bürger die gleiche Chance bekommen sollten, um sich selbst zu verwirklichen. In Bereichen und Situationen, in denen begehrte Ressourcen, Positionen oder Lebensverhältnisse knapp sind und Menschen konkurrieren, sollte niemand wegen seiner sozialen Herkunft, seines Geschlechts, seiner Religion oder eben wegen seiner Hautfarbe im Vorteil oder Nachteil sein. Auch ich als Dunkelhäutiger sollte selbstredend die gleiche Chance wie alle anderen bekommen, in irgendeinem langweiligen Bürojob zu versauern und genervt Akten einzuscannen. Das ist die Kernidee des Ganzen (die gleichen Chancen, nicht der langweilige Bürojob). Eine ziemlich erstrebenswerte Sache, die auf einem ganz bestimmten Verständnis von sozialer Gerechtigkeit beruht. Nämlich der Idee, das eine leider existierende Ungleichheit zwischen Menschen nur dann als gerecht angesehen werden kann, wenn der Bessergestellte seinen Vorteil in einem fairen Wettbewerb erlangt hat, also in einem Wettbewerb, in dem alle anderen Teilnehmer ebenfalls eine reelle Chance haben. Eine auf diesem Wege erlangte Besserstellung ist dann nicht willkürlich, sondern eben verdient und legitim.
Zugegeben, meine Mutter hätte mich sicherlich auch ohne meine Zustimmung auf das Gymnasium geschickt. Sie war eben Lehrerin, und Bildung war ihr immens wichtig. Und das ist auch schon der erste Punkt. Ich hatte das Glück, dass meine Mutter in mich und in meine Zukunft investieren wollte. Sie wollte für mich die bestmögliche Ausbildung, weil sie aus ihrem eigenen beruflichen Alltag wusste, welche vielfältigen Möglichkeiten sich mit dem Abitur ergaben. Es war nicht so, dass die anderen Kinder aus meiner Siedlung so immens schlechtere Noten hatten als die Kinder aus der Reihenhaussiedlung – oder als ich. Mein Freund Bernhard zum Beispiel hatte sehr gute Noten in allen Bereichen, wurde aber trotzdem auf die Hauptschule geschickt, einfach weil es in der Lebensrealität seiner Eltern völlig normal war, ihren Sohn dorthin zu schicken. Alles andere schien undenkbar und irgendwie unpassend. »Zeig mir deine Eltern, und ich sage dir, was aus dir wird«, so fasst ein Artikel der ZEIT die Ergebnisse des Nationalen Bildungsberichts von 2016 zusammen. Hiernach gibt es kaum einen Indikator, der den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in Deutschland so sehr beeinflusst wie die soziale Herkunft. Dabei zeigen die Ergebnisse, dass zwei Gruppen von Heranwachsenden besonders benachteiligt werden: Arbeiterkinder und Kinder mit Migrationshintergrund. Die Kinder vom Dr.-Hartlaub-Ring in den späten 80er-Jahren verkörperten oftmals beide Gruppen. Ihre Eltern waren Migranten und Arbeiterkinder. Übrigens: Bernhard zog später zurück nach Markt Schwaben, machte seinen Abschluss auf dem zweiten Bildungsweg und studierte dann. Es dauerte zwar etwas länger bei ihm, aber im Endeffekt setzte er sich, obwohl seine Eltern beide keine Akademiker waren, gegen die Statistik durch.
Kinder von Migranten sind jetzt in Deutschland nichts wirklich »Neues« mehr und ebenso oft in Kitas und Schulen zu finden wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Allerdings bleiben diese weitaus häufiger in den unteren Bildungsgängen wie Mittel- und Förderschulen stecken. Das lässt sich statistisch belegen: Kinder mit ausländischen Wurzeln erreichen dreimal seltener die Hochschulreife und verlassen mehr als doppelt so häufig die Schule ohne Abschluss. Auch hier werden Migrantenkinder oft doppelt benachteiligt. Zum einen fehlen häufig die familiäre Unterstützung und eine individuelle Förderung in der Schule. Zum anderen haben sie durch mangelnde Sprachkenntnisse meist nur eingeschränkten Zugang zu Bildungsangeboten. Des Weiteren haben wir hier oft eine räumliche Trennung, ich kenne das ja so ein bisschen aus meiner Jugend.
Wir im Dr.-Hartlaub-Ring waren eine eingeschworene Clique von Jugendlichen, die einfach alle aufeinanderhingen, zusammen spielten und einfach eine gute Zeit miteinander verbringen wollten. Nebenan gab es die Reihenhaussiedlungen, mit denen wir erst einmal per se nicht so richtig viel zu tun hatten. Nicht, weil wir sie nicht mochten oder mit ihnen nichts anfangen konnten, wir waren ja alle Kinder, aber sie lebten einfach nicht in unserem ganz direkten Umfeld. Obwohl unsere Siedlung nur ungefähr 200 Meter von den Reihenhäusern entfernt war, spielte sich hier eine völlig andere Lebensrealität ab, und wir blieben lieber unter uns, was natürlich auch dazu führte, dass wir von der anderen Seite kaum etwas mitbekamen – und die Reihenhaus-Kids von uns auch nicht. Obwohl das ein großes Wort ist, aber bereits in meiner Jugend in Markt Schwaben fand eine Art Gettoisierung statt: Die zwei Hochhaussiedlungen für die ausländischen Kinder und Eltern aus schwachen sozialen Verhältnissen waren die eine Lebensrealität, die Reihenhaussiedlungen mit intakten Familien und einkommensstarken Eltern die andere. Als wir Kinder waren, war das noch nicht so ein großes Ding. Mir fiel auf: Wenn ich mal bei jemandem aus der Reihenhaussiedlung zum Essen blieb, wurde mir subversiv mitgeteilt, dass es schon gut wäre, wenn ich jetzt auch irgendwann wieder gehen würde.
Alles wirkte hier so steril, so ordentlich, und irgendwie passte ich nicht so recht rein. Bei uns war es viel kleiner, etwas zugestopfter, aber irgendwie auch gemütlicher. Hier raufte sich die Siedlung immer mal wieder zusammen, und ständig hingen irgendwelche Freunde in unserer Wohnung ab. Die Reihenhaussiedlungen waren etwas sortierter, ruhiger und … langweiliger. Nach der Grundschule, deren letzten beide Jahre ich ja aufgrund einiger unüberwindbarer Differenzen mit der Schulleitung nicht in Markt Schwaben verbracht hatte, gab es dann die Diskussion mit meiner Mutter über die Schulwahl. Es ist rückblickend gesehen schon erschreckend, wie für mich wie selbstverständlich feststand, dass ich auf die Hauptschule wechseln wollte. Meine Freunde waren alle da, und es war einfach eine Art Common Sense für mich. Ich assoziierte die Hauptschule auch mit überhaupt nichts Negativem, im Gegenteil, ich fühlte mich zugehörig. Aber vielleicht wurde dieses Zugehörigkeitsgefühl auch nur von außen an mich herangetragen.
Später, als ich als Pädagoge in der Offenen Jugendarbeit im Kreisjugendring München-Stadt arbeitete, erlebte ich eine Sache, die ich an dieser Stelle gern noch erzählen möchte. Ich betreute unter anderem ein junges Mädchen, deren Eltern beide aus dem Sudan kamen, die aber ein unglaublich gutes Deutsch sprach und für ihr Alter schon sehr weit war. Sie bekam selbstredend erst mal keine Empfehlung für das Gymnasium, wobei ich mir nur dachte: Warum denn nicht? Das machte überhaupt keinen Sinn. Die Message, die bei ihr und auch bei vielen anderen Kindern mit Migrationshintergrund verbreitet wurde, war: Das Gymnasium ist doch so schwer, und die Eltern haben ja auch keine Zeit für ihre Kinder. Die können ja selbst kaum Deutsch und müssen hier erst einmal ankommen. Genau die Message, gegen die meine Mutter immer angekämpft hat. Denn ein ausländischer Name bedeutet ja nicht gleich, dass zu Hause sechs Kinder und zwei überforderte Elternteile sitzen. Die betreuenden Lehrer treffen so oft eine Entscheidung für ein Kind, dessen Welt sie nicht kennen und auch nie verstehen werden. Da sitzt in der Klasse dann ein Migrantenkind, das noch nicht so lange in Deutschland ist und natürlich noch einige Probleme mit der Sprache und der Umgebung hat. Aber der nächste Schritt, das Kind einfach auf die Mittelschule schicken zu wollen, anstatt vielleicht auch das Potenzial zu erkennen und hierin zu investieren, wäre ein viel wichtigerer Schritt und Weichen stellend für die Zukunft. Ich bin kein großer Fan von Floskeln, aber dieses Mädchen mit all ihrer Neugier und Wissbegierde ist die Zukunft dieses pluralistischen Landes, das sich multikulturell wandelt. Was soll sie denn auf der Mittelschule anfangen? Diese Sache mit dem Mädchen aus dem Sudan hat mich wirklich beschäftigt, ihr Bruder besuchte einen Rap-Workshop bei mir, und ich traf das Mädchen fast täglich. Ich dachte mir nur die ganze Zeit, als sie auf ihren Bruder wartete und lesend in der Ecke saß: Mann, gebt ihr doch eine Chance. Mehr nicht. Sie wird auf der Mittelschule nie die Möglichkeit haben, sich zu beweisen, weil sie dann in einem Käfig ist, aus dem sie nicht mehr rauskommt.
Es ist für Grundschullehrer oftmals sehr einfach, ein ausländisches Kind zu sehen, das natürlich Probleme und vielleicht eine Familie im Background hat, die noch nicht so lange hier in Deutschland lebt – und daraus zu schlussfolgern, es wäre das Richtige, dieses Kind auf die Mittelschule zu schicken. Ich glaube, hier sind weiße Kids klar im Vorteil. Solange die Schulnoten einigermaßen stimmen, wird eine Gymnasialempfehlung ausgesprochen. Aber auch wenn die Noten vielleicht nicht ganz in Ordnung sind und auch das soziale Umfeld nicht das beste ist, wird eher mal ein Auge zugedrückt. Ich habe in meiner Umgebung Kinder mit ihren Eltern gesehen, bei denen ich nicht glauben konnte, dass sie das Gymnasium besuchten. Da trug eine Elfjährige die Bierdosen ihrer Mutter nach Hause, die hinter ihr ging und gerade damit beschäftigt war, eine Zigarette zu rollen. Aber klar, dieses Mädchen wurde aufs Gymnasium geschickt. Hier gibt es weniger Bedenken, ob sich die Eltern für die Leistungen ihrer Kinder interessieren. Sie ist hier geboren, ihre Eltern sind Muttersprachler, beide kennen sich in diesem Land bestens aus – für die Lehrer ist es somit relativ unbedenklich, hier eine Gymnasialempfehlung auszustellen, einfach weil es erst mal offensichtlich keine gesellschaftlichen Reibungsflächen gibt.
Betrachtet man meinen weiteren Werdegang – Abitur, Zivildienst, Kunst- und Pädagogik-Studium mit Magisterabschluss und eben meine Arbeit als Musiker, Rapper, Produzent und Moderator – wirkt meine frühere felsenfeste Überzeugung, auf die Hauptschule zu gehen, schon etwas seltsam. Und hätte meine Mutter hier nicht eingehakt und dafür gesorgt, dass ich aufs Gymnasium komme (und mein Cousin mich nicht mit den Würstl überzeugt), wäre mein Leben sicher anders verlaufen. Nicht weil ich die Sachen, die ich danach gemacht habe, nicht auch auf Umwegen hätte durchziehen können, sondern weil ich vielleicht das Gefühl entwickelt hätte, nur ein weiteres Rädchen im Getriebe zu sein und mein Leben und meine Umwelt nicht aktiv selbst mitgestalten zu können. Ohne den Besuch des Kunst-Leistungskurses am Gymnasium und die Schauspiel-AG, die ich seit der sechsten Klasse belegt hatte, hätte ich wahrscheinlich diese in mir schlummernden Talente für die Kunst, zum Sprechgesang und für die Bühne nie entdeckt, die ich heute mit zu meinem Beruf gemacht habe und von denen ich meine Miete und meine Einkäufe bezahlen. Ein bisschen weniger Einfluss von meiner Mutter (und meinem Cousin), ein bisschen weniger energisches »Mei, der Jung kommt aufs Gymnasium«, und ich wäre heute sicherlich nicht der, der ich bin.
Es gab in meiner Grundschule keine Andeutungen, dass ich unbedingt aufs Gymnasium gehen sollte. Aber woher sollte dieser Impuls auch gekommen sein? Durch meinen Schulwechsel nach Altenerding kannten mich die Lehrer dort für zwei ganze Schuljahre. Wie soll es in dieser kurzen Zeitspanne überhaupt möglich sein zu entscheiden, welche Schulform für mich, den Typen, der eh schon irgendwie anders aussah als die anderen Kinder, am passendsten wäre? Dabei stellt der Übergang nach der Grundschule in weiterführende Schulformen immer noch die entscheidende Weiche für daraus resultierende ungleiche Bildungsabschlüsse und den späteren Berufsweg dar. Im Sinne von Leistungsgerechtigkeit sollte dieser Übergang unabhängig von Merkmalen der sozialen Herkunft erfolgen. Jedes Kind aus einer der Hochhaussiedlungen in Markt Schwaben sollte also theoretisch und unbedingt dieselbe Chance bekommen, aufs Gymnasium zu wechseln. Ich war faktisch aber das einzige Kind.
Dass dies kaum verwunderlich ist, lässt sich aus Befunden der sogenannten IGLU-Untersuchung (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) aus dem Jahr 2016 herauslesen. Diese vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiierte Studie erfasst die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschule mithilfe von zwei Tests. Einem, der Aufschluss über allgemeine »kognitive Fähigkeiten« gibt, und einem weiteren, der die Lesekompetenz bestimmt. Der Test prüft anschließend, in welchem Maße die Übergangsempfehlung für die weiterführende Schule von der gemessen Leistungsfähigkeit der Viertklässler abhing. Es zeigte sich: Bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und Lesekompetenzen hatten Kinder aus der obersten Schicht (»obere Dienstklasse«) eine fast vier Mal höhere Chance als Kindern von Facharbeiten, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen. Vier Mal höhere Chancen auf eine längere, intensivere und abwechslungsreichere Schulzeit. Mit zahlreichen Arbeitsgruppen, Sportangeboten und Leistungskursen. Ich war kein schulisches Genie, aber gerade die Freiheit, dass ich Schauspielern konnte und im Kunst-Leistungskurs brillierte, erweiterte meinen Horizont und ließ mich Kompetenzen erlernen, die ich an der Hauptschule sicherlich nie gelernt hätte.
HERKUNFTSBEDINGTE UNGLEICHHEITEN
Ich glaube, bei uns potenzierten sich mehrere Faktoren, die dazu führten, dass niemand von uns aufs Gymnasium kam. Wir Siedlungskinder merkten sehr früh, dass die Kinder aus den Reihenhaussiedlungen ein größeres Zimmer, spannendere Spielzeuge und coolere Klamotten trugen. Für Kinder sind solche Dinge ja wichtig. Wir waren also schon von Anfang an, bevor wir überhaupt an schulische Leistungen denken konnten oder uns irgendwie messen mussten, ungleich. Bei mir war das natürlich noch mal extremer, weil ich das einzige schwarze Kind war und sowieso etwas außerhalb stand. Diese Außenseiterrolle, die nicht von außen an uns herangetragen wurde, führte dazu, dass wir bewusst nur miteinander abhingen. Klar, ab und zu spielten wir auch mal mit den Kindern aus der Reihenhaussiedlung, aber abgesehen davon, dass die sowieso einen eigenen (und sehr viel gepflegteren) Spielplatz hatten, waren wir uns schon von Anfang an fremd. Waren wir in der Grundschule schlecht oder erbrachten nicht die erforderlichen Leistungen, kümmerten sich die Grundschullehrer auch nicht unbedingt mehr um uns – die ausländischen oder armen Kinder aus dem Dr.-Hartlaub-Ring. Es war ja nichts Ungewöhnliches, dass unsere schulischen Leistungen schwächelten. Schwächelte aber der blonde Johan aus der Reihenhaussiedlung, wurden seine Eltern informiert, und die nahmen sich dann seiner an. Wir bekamen die schlechteren Noten, hatten uns aber, genau wie die Lehrer, damit abgefunden. Außerdem waren die Berufe der Eltern meiner Freunde aus den Siedlungen kaum akademischer Natur, Bernards Vater war zum Beispiel Bademeister. Diese Eltern hatten zudem genug Probleme, um die sie sich kümmern mussten, meistens finanzieller Natur. Eigentlich hätte hier die Schule eingreifen und sich den Kindern, dessen Eltern überlegten, von welchem Geld sie ihren nächsten Einkauf bezahlten, annehmen müssen. Aber da passierte nichts. Wirklich gar nichts. Wir waren, wenn man so will, auf uns allein gestellt. Soziologische Erkenntnisse zum diesem Thema, vor allem hinsichtlich des Übergangs in weiterführende Schulen bestärken meine persönlichen Erfahrungen: Es findet eine Verzerrung zugunsten von Kindern oberer und mittlerer Schichten statt, was deutlich macht, dass die Schulkarriere eines Kindes in erheblichem Maße auch von sozialen Faktoren bestimmt wird.
Durch mein Abitur eröffneten sich mir ziemlich viele Möglichkeiten. Später studierte ich in München und liebäugele heute immer noch mit einer möglichen Promotion. Der Erste aus der Hochhaussiedlung mit einem Dr. vor dem Namen, das wäre schon ziemlich cool, auch weil es eigentlich gegen die Statistik spricht.
In der Diskussion um Chancengleichheit ist es auch wichtig, den Bezug auf die herkunftsbedingten Ungleichheiten im Blick zu behalten. Zwar ist es richtig, dass die Chancen für einen besseren Bildungsabschluss über die Zeit immer besser geworden sind. Durch den Ausbau von weiterführenden Schulen und Hochschulen, ihre bessere regionale Erreichbarkeit, die höhere Durchlässigkeit zwischen den Schularten, die Etablierung alternativer Wege zur Hochschulreife und vieles mehr, hat sich die Chance, das Abitur zu erwerben, in diesem Zeitraum verzehnfacht, was ja schon mal eine extrem gute Entwicklung ist. In Markt Schwaben wird dies besonders deutlich, da durch die gute S-Bahn-Anbindung auch viele Kinder aus anderen weit entfernteren Dörfern die Möglichkeit hatten, hier das Gymnasium zu besuchen. Die sogenannten »Fahrschüler« kamen aus den umliegenden Dörfern zu uns und besuchten das Gymnasium, eine Entwicklung, die zehn Jahre vor meiner Geburt undenkbar gewesen wäre.
Allerdings, und das muss an dieser Stelle auch ergänzt werden, um aussagekräftige Informationen über die Verteilung der Bildungschancen in der Gesellschaft treffen zu können, braucht man Angaben zum Bildungserfolg der verschiedenen sozialen Gruppen, denen der Einzelne oder die Einzelne angehört. Hier zeigt sich ein anderes Bild. Einige der schon vor Jahrzehnten als benachteiligt erkannten Kinder und Jugendlichen sind es heute immer noch. Geht es um Chancengleichheit, wird Bildung zumeist als Mittel zum Zweck verstanden, eine gute Bildung ermöglicht einen guten Job und ein höheres Einkommen. Auf Grundlage von Noten und Prüfungen werden die Grundschulkinder auf die verschiedenen Bildungsgänge verteilt, von wo aus sie in die ungleichen Berufe kanalisiert werden. Diese Art von Verteilung war immer schon eine wichtige Aufgabe des staatlichen Bildungssystems. Ist ja auch ziemlich nachvollziehbar. Verantwortungsvolle Berufe sollen eben von leistungsfähigen Personen mit nachgewiesener Qualifikation ausgeübt werden. Und auch heute ist es kaum vorstellbar, dass wir ohne diese Verteilungsfunktion auskommen. Wie sonst ließe sich entscheiden, wer Abitur machen darf, um beispielsweise Medizin zu studieren, um somit später Arzt zu werden? Der große Irrglaube, der hierbei aber entsteht, ist der Gedanke, dass unser Bildungssystem einzig und allein nur auf dieser Verteilungsfunktion besteht und nicht mehr. Das soll jetzt nicht eingebildet klingen, aber als ich die Grundschule verließ, war ich zehn Jahre alt, und meine Lehrer aus Altenerding hatten genau zwei Jahre lang Zeit gehabt, mich kennenzulernen und mir eine Empfehlung für mein weiteres Leben auszustellen. Wie genau soll das machbar sein, wenn man sich lediglich auf Noten beschränkt?
Im nationalen Informationsdossier »Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland«, das von der Informationsstelle der Länder im Sekretariat der Kultusministerkonferenz erstellt wurde, heißt es bezogen auf die Grundschule: »Der Auftrag der Grundschule besteht den Empfehlungen zufolge darin, in einem für alle Kinder gemeinsamen Bildungsgang eine grundlegende schulische Bildung zu ermöglichen. Ziel ist der Erwerb und die Erweiterung grundlegender und anschlussfähiger Kompetenzen.«
Die Grund- und Sekundarschulausbildung hat also die Aufgabe, allen Schülern und Schülerinnen eine Grundbildung zu vermitteln. Heute spricht man häufig von »Basiskompetenzen«. Damit sind nach dem PISA-Konsortium Fähigkeiten gemeint, »die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind«. Bildung soll also nicht nur Berufswege öffnen, sondern auch einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dienen.
In meinen ersten beiden Grundschuljahren habe ich davon nicht viel gemerkt. Die Lehrer waren oft überfordert, und es war für sie immer am einfachsten, mich zur Verantwortung zu ziehen. Die Briefe, die nach Hause geschickt worden waren, waren vor allem anprangernd. Ich hatte Mist gebaut, ich war der Schuldige. Ein Gesprächsangebot erfolgte lediglich von meiner Mutter, die mich nach zwei Jahren resignierend von der ersten Schule nahm, weil sie hier keine Perspektive für mich sah. So what, Chancengleichheit? Zwischen den ersten Reihenhaussiedlungen und dem Dr.-Hartlaub-Ring liegen 200 Meter. 200 Meter, die einen Unterschied machen. Und selbst als meine Mutter mich aufs Gymnasium brachte, war ich immer noch der Außenseiter und fühlte mich in den ersten Jahren völlig fehl am Platz. Ich ließ meine Freunde aus der Siedlung hinter mir und ging in diese seltsame fremde Welt des Gymnasiums. Als einziger Schwarzer, ohne wirkliche Freunde und ein bisschen als derjenige, »der aus der Siedlung kommt«. Ein Außenseiter-Gefühl, das nicht statistisch messbar, aber gerade für Jugendliche umso belastender ist.
Und wie steht es heute mit der Chancengleichheit? Als ich zur Schule ging, gab es keine große Diskussion hierüber. In den letzten Jahren ist aber, zumindest den politischen Forderungen nach zu urteilen, einiges passiert. In der Diskussion um Chancengleichheit lassen sich vor allem zwei Lager erkennen. Zum einen wird auf der eher konservativen Seite des politischen Spektrums grundsätzlich daran gezweifelt, dass es eine wirkliche Gleichheit von Bildungschancen geben kann. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder von Natur aus verschiedenen Begabungen haben. Hier wird ein weniger striktes Ziel von Bildungsgerechtigkeit anvisiert. Jedes Kind soll eben die seiner jeweiligen Begabung entsprechenden Lernmöglichkeiten erhalten. Aber noch einmal nachgefragt: Wie soll sich in insgesamt vier Jahren Grundschulunterricht eine Begabung feststellen lassen können? Und wie sollen hier spezifische Lernmöglichkeiten angeboten werden, wenn die Lehrer sowieso schon in der Unterzahl und überfordert sind? Gehen wir weg vom deutschen Bildungssystem lässt sich feststellen, dass es bisher keinem Land der Welt gelungen ist, Bildungserfolg und soziale Herkunft vollständig losgelöst voneinander zu betrachten. Im politisch eher linken Spektrum hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, wirkliche Chancengleichheit sei angesichts der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse ein Ziel, das nur Illusionen über den Weg zum Abbau sozialer Ungleichheit wecken kann. Die empirischen Ergebnisse zum beständigen Fortwirken der Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft trotz gleicher Leistungsfähigkeiten würden zeigen, dass es falsch sei, von mehr »Leistungsgerechtigkeit« einen Abbau sozialer Ungleichheit zu erwarten. Mag diese Kritik auch überzogen sein, sie ist zumindest insofern berechtigt, als sie davor warnt, mit dem Ziel der Chancengleichheit in Bildung und Beruf Fragen der Vermögens- und Einkommensverteilung in der Gesellschaft aus dem Blick zu verlieren. Denn eine allzu einseitige Fokussierung auf den Abbau von sozialer Ungleichheit durch chancengleiche Bildung verkennt, dass die in unserer Gesellschaft vorherrschenden Ungleichheiten keineswegs allein über das Bildungssystem hergestellt und folglich auch nicht allein über das Bildungssystem aufgehoben werden können.
Bildung kann sicherlich ein Schlüssel zu Erfolg und zu einem erfüllten Leben sein, aber es ist eine Illusion, davon auszugehen, dass lediglich mit der Angleichung von Chancen alles getan ist. Ausgrenzung und Ablehnung erfuhr ich auch später auf dem Gymnasium, auf dem besten Bildungsweg quasi. Hier waren alle Schüler vielleicht etwas belesener als meine Freunde aus der Hochhaussiedlung, aber trotzdem wurde ich zum Teil nicht gut behandelt und bin rassistisch angegangen worden. Soziale Projekte für Jugendliche, Jugendzentren mit ausgebildeten Betreuern, die sich den Problemen der Kinder und Jugendlichen annehmen, Präventionsworkshops, all das sind Dinge, die neben dem großen Ziel »Chancengleichheit« wichtig sind. Und diese Sachen können im Kleinen angegangen werden. Als Jugendliche hätten wir uns in Markt Schwaben sehr über ein Jugendzentrum, über einen geschlossenen Ort für uns Kids, gefreut, aber der CSU-regierte Landkreis setzte dem Ganzen einen Riegel vor. Sei’s drum. Nach der Zeit an der Grundschule wechselte ich dank meiner Mutter schließlich eine Ecke weiter – und ein ganz neues Kapitel öffnete sich.
GASTBEITRAG VON SHAHAK SHAPIRA, KÜNSTLER UND COMEDIAN
Rassismus. Schon schlimm. Wisst ihr, was richtig abgefuckt ist? Ich kann mir mein Leben ohne Rassismus nicht vorstellen. Keiner von uns kann das. Dabei bin ich so weiß, mein Gesicht könnte als Symbolbild für White Privileg herhalten. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, aufgrund meines Aussehens diskriminiert zu werden, und trotzdem stimmen so viele meiner Erfahrungen in diesem Land mit denen von David überein. Die verkaufen dir das immer als Witz. »Entspann dich doch mal, du Bimbo. Du Judenschwein. Du Musel. Es ist nur Spaß.« Als wärst du der Humor-verdrossene, der einfach dieses Comedy Gold, was irgendein Gerhard nach dem dritten Hasseröder rausballert, nicht richtig wertzuschätzen weiß. Ich schäme mich für diese Leute. Ich schäme mich für eine Gesellschaft, die es lustig findet, wenn Schwarze mit Affen gleichgesetzt werden. Eine Gesellschaft, in der Bundestagsabgeordnete ihre Mitbürger als »Halbneger« auf Twitter beleidigen können, ohne sofort und in hohem Bogen aus ihrer Partei und aus dem Bundestag rausgeworfen zu werden. Eine Gesellschaft, die dir vorwirft, du würdest die ganze Hässlichkeit, die dir Menschen aufgrund deiner Herkunft gezeigt haben, irgendwie ausnutzen, damit kokettieren, um dich in den Mittelpunkt zu stellen. Als hätten wir alle damals in der fünften Klasse gerufen: »Hey, Fellow Kids, bitte schließt mich bis zum Abi gesellschaftlich aus, da wird später ein richtig geiles Buch draus!«
Ab und zu suchen die sich dann einen halbwegs präsentierbaren Kanaken aus der Minderheit raus, die gerade angesagt ist. Dann darfst du in ihren Talkshows antanzen und Deutschland »den Spiegel vorhalten«, damit die Steffis und Thorstens des Landes dich bemitleiden und sich gleichzeitig freuen können, nicht in deiner Haut zu stecken. Da ist meistens bisschen mehr Freude als Mitleid im Spiel, aber auch nur, wenn du sympathisch genug rüberkommst. Im besten Fall kannst du ein paar gute Jahre da rausholen, bevor du durch den nächsten Platzhalter für die Opferrolle von Ausländerfeindlichkeit ersetzt wirst. Was du sonst so machst und kannst, steht da nämlich immer an zweiter Stelle. Man interessiert sich nicht für deine Kunst oder Arbeit oder deine Meinung zu allen anderen Dingen als Rassismus.
Als Betroffener ist es plötzlich deine Lebensaufgabe, dich dem Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit hinzugeben. Selbst wenn du eigentlich etwas ganz anderes mit deiner Existenz vorhattest. Es ist alles gut gemeint, keine Frage, aber letztendlich werden Migranten in Deutschland oft ausgerechnet von denjenigen wieder ins Fremdsein zurückgedrängt, die sie um jeden Preis inkludieren möchten.
Andererseits: Wer soll über Rassismus sprechen, wenn nicht diejenigen, die ihn erfahren? Die anderen können ja nicht einfach was erfinden. Außer sie sind bei einer rechtspopulistischen Partei, dann haben sie keine Probleme damit, sich als die größten Opfer unserer Zeit zu präsentieren.
Siehst du langsam, was ich meine? Kannst du dir eine Welt ohne Rassismus vorstellen? Ich nicht. Ich kann mir keine Welt ohne Rassismus vorstellen, aber ich kann auch keine Welt mit Rassismus akzeptieren.