EIN SCHWARZER AUF DEM GYMNASIUM
Nachdem ich mich also für das Gymnasium entschieden hatte, beziehungsweise meine Mutter es für mich entschieden hatte, freute ich mich richtig drauf. Ich hatte auch ein ehrliches Interesse an Büchern und verschlang alles, was bei uns zu Hause herumstand. Vor meinem ersten Schultag gab es noch einen Besuchstag, so eine Art Tag der offenen Tür, und ich lief mit meiner Mutter den Weg aus unserer Siedlung zu dem Schulkomplex hinauf. Wir passierten meine ehemalige Grundschule, an der ich es nur zwei Jahre ausgehalten hatte, und ließen die marode Hauptschule hinter uns. Wir nahmen die ersten Treppen hoch zur Realschule und gingen schließlich weiter hinauf nach oben zum Gymnasium.
Der Schulkomplex in Markt Schwaben ist, wenn man es zynisch sagen will, »von unten nach oben« aufgebaut. Ganz unten beginnt die Hauptschule, also die heutige Mittelschule, und ganz oben, einer Himmelspforte gleich, öffnet sich die heile wunderbare Welt des Gymnasiums. Das ist schon irgendwie verrückt. Fast so ein bisschen wie bei einem Computerspiel, wo die Schwierigkeit bei jedem Level ansteigt, und das Gymnasium ist eben der Endgegner. Am Besuchstag ging ich Hand in Hand mit meiner Mutter die Treppe hinauf und staunte nicht schlecht über den Tumult, der sich hier abspielte. Der Pausenhof war gefüllt mit herumtollenden Kindern mit Eltern. Ein Oberstufenjahrgang sammelte Geld für den Abiball und verkaufte duftende Waffeln. Ich schlenderte mit meiner Mutter den Schulhof entlang, ließ all die Eindrücke auf mich wirken und sog sie auf wie ein kleiner Staubsauger. Wir schritten auf die Haupteingangspforte zu und nahmen die letzten Treppenstufen hoch. Insgeheim dachte ich bereits darüber nach, ob es vielleicht schon heute Würstl für mich geben könnte, immerhin war ja Besuchstag, und genug andere Kinder waren auch schon da. Aus dem zweiten Stock öffnete sich ein Fenster, und ein Junge, den ich aus der Reihenaussiedlung kannte – er war damals vielleicht in der sechsten und siebten Klasse – rief von oben quer über das gesamte Gelände »Hey, Neger dürfen hier nicht hinein«, dann schloss er das Fenster, und mir sank das Herz in die Hose. Meine Mutter war außer sich und schrie irgendwas hoch, aber der Junge war verschwunden. Und da stand ich nun. Hand in Hand mit meiner Mutter an der Türschwelle zu meiner neuen Schule, und der Tag war für mich gelaufen. Ich hatte ja eigentlich nicht wirklich aufs Gymnasium gehen wollen. Wozu auch? Keiner meiner Freunde war hier, ich musste an allen anderen Schulen vorbeilaufen, mir im schlimmsten Fall noch irgendwelche Kommentare oder zumindest strenge Blicke antun, und jetzt am Besuchstag wurde mir schon wieder gesagt, dass ich unerwünscht sei. Ich hatte es satt. Es war schon wieder diese Ablehnung nur aufgrund meiner Hautfarbe, nicht, weil der Typ mich kannte. Mich beschlich eine existenzielle Angst. Kam ich aus diesem Zustand, aus diesem »Neger-Sein« jemals wieder raus? Oder war das jetzt einfach mein ganzes Leben lang so?
Wir gingen in das Gebäude, und meine Mutter unterhielt sich mit den Lehrern. Wir schauten uns eine Unterrichtsstunde Biologie an, und irgendwelche aufgedrehten Helikoptereltern stellten den Lehrern unnötige Fragen nach dem Lehrplan. Mir war das alles vollkommen gleichgültig, ich war für den Rest des Tages bedient.
Als ich abends in meinem Zimmer war, schloss ich kurz die Augen und sah vor mir wieder diesen Jungen, der aus dem Fenster von oben auf mich herabsah und mir sagte, ich dürfe hier nicht rein. Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen.
Nach meinen positiven Erlebnissen in Altenerding hatte ich eigentlich schon wirklich Lust gehabt, aufs Gymnasium zu gehen. Ich war neugierig gewesen auf mehr. Ich hatte mich nicht nur damit abgefunden, dass ich der Einzige aus meiner Siedlung war, der das Gymnasium besuchte, sondern ich sah es mittlerweile auch irgendwie als meine Mission an, als eine Aufgabe, der ich mich stellen wollte. Aber der Besuchstag hatte mir diese großen Vorsätze ordentlich verdorben. Es ging mir nicht darum, dass ich jetzt einmal beleidigt worden wäre. Im Gegenteil, zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben hatte ich etwas Übergewicht und hätte mir zur Abwechslung mal gewünscht, aufgrund meines Gewichts beleidigt zu werden. So was wie »Ey, David, du fette Sau!!« von irgendeinem Kind auf dem Pausenhof. Das wäre zwar nicht nett gewesen, aber zumindest hätte ich mir denken können: »Na gut, ich kann auch abnehmen, und dann ist deine ätzende Beleidigung nichts mehr wert.« Doch stattdessen war ich wieder einmal auf meine Hautfarbe reduziert worden, etwas, wofür ich nichts konnte und wofür ich mich niemals rechtfertigen wollte. Das merkte ich vor allem während der kommenden Jahre in der Schule. Es ging selten um mich und um meine Persönlichkeit, sondern vor allem um meine Hautfarbe und mein Aussehen. Ständig wurde ich für einen Afrikaner gehalten, wobei ich einfach keine Vorstellung von Afrika und der wunderbaren kulturellen Vielfalt dort hatte. Bilder von aufgeblasenen Kinderbäuchen, die kannte ich aus dem Fernsehen. Was hatte ich damit zu tun? Es war ein bisschen so wie damals, als ich im Kindergarten »Neger« genannt wurde und mich erst mal umsehen musste, weil ich nicht wusste, wer damit eigentlich gemeint war. Das Ganze wurde mir aufgedrückt wie ein Stempel, ich musste – und konnte – da gar nichts tun. Meine Hautfarbe wurde zu einer Art Namensschild, zu einer Marke, die ich mit mir herumtrug und von der aus auf mich und meine Persönlichkeit geschlossen wurde.
Marke: Afrika
Name: David Mayonga
Mich überforderten die Frage nach meiner Herkunft. Zu meinem Vater hatte ich kaum Kontakt, und er hatte mir auch keine Informationen zu seiner Herkunft da gelassen, aus denen ich rezitieren oder mit denen ich die Mäuler all derer, die mich auf dem Pausenhof nach Informationen ausfragten, endlich stopfen konnte. Alles, was ich wusste, war, dass mein Vater aus dem Kongo kam, mehr nicht. Es kam mir vor, als läge ein Fluch über mir. Zu meiner Hautfarbe konnte ich keinen Bezug aufbauen, da ich nie jemanden traf, der so aussah wie ich selbst und der nichts von der kulturellen Identität seines Vaters wusste. War er überhaupt Afrikaner? Fühlte er sich so? Ich wusste es nicht. Irgendwann später, als sich die Fragen nach Afrika häuften, behauptete ich einfach, ich wäre Amerikaner. Wenn Jugendliche mich neu kennenlernten, bei Hip-Hop-Jams oder Partys und mich dann fragten: »Du bist doch bestimmt Ami, oder?«, nickte ich einfach nur, weil ich immer wollte, dass sich dieses leidige Thema meiner kulturellen Identität zumindest für heute erledigt hatte.
Die Würstl auf dem Gymnasium entpuppten sich im Übrigen auch ziemlich schnell als eine riesige Enttäuschung. Es gab zwar Würstl, allerdings kosteten sie Geld, und es gab sie erst in der großen Pause beim Kiosk, verkauft von dem lustlos und mürrisch dreinblickenden Hausmeister. Trotz der Tatsache, dass ich mal wieder auf meine Hautfarbe reduziert wurde, gefiel mir das Gymnasium. Hier hatte ich das erste Mal Englischunterricht und konnte die Platten, die meine Mutter von befreundeten DJs aus München mitbrachte, übersetzen. Ich hatte das Gefühl, gefordert und gefördert zu werden, klar hatte ich mit manchen Lehrern mehr zu tun als mit anderen, aber das ist ja ganz normal. Außerdem engagierte ich mich ab der sechsten Klasse in der Schauspielgruppe und spielte Basketball, lotete also meine künstlerischen und sportlichen Grenzen ziemlich aus. Vor allem das Schauspiel hatte es mir angetan. Hier waren viele ältere Jugendliche, bei denen ich mich sehr wohlfühlte, auch weil sie meinen identitären Struggle und die Sprüche, die ich gedrückt bekam, ernst nahmen und nicht einfach so taten, als sei dies eine Sache, die nun mal eben passierte, wenn man schwarz war. Ich hatte das Gefühl, die Schauspielgruppe war ein geschützter Raum, in dem ich mich kreativ entfalten und wir gemeinsam Stücke erarbeiten konnten. Das fing einfach an. Ich spielte kleine Rollen, Tabaluga oder auch mal einen Hund, aber ich merkte ziemlich schnell, dass die Bühne mein Ding war. Zum einen mochte ich es aufzutreten, einfach weil die Bühne geil war. Ich spürte aber auch, dass sich durch das Schauspiel meine Identität um eine Dimension oder mehrere erweiterte. Hier auf der Bühne war ich nicht einfach der schwarze Typ aus Markt Schwaben, der aufs Gymnasium ging und nebenbei auch noch schauspielerte. Ich konnte sein, wer ich sein wollte. Und auch als ich die Bühne verließ und nach Schulaufführungen mit Leuten von der Schule quatschte, spürte ich im Gespräch den Respekt vor meiner schauspielerischen Leistung, ich fühlte, dass ich ein Schauspieler war und auch so behandelt wurde. Im Basketball war ich stattdessen wirklich schlecht. Sehr schlecht.
Hier kam mir interessanterweise meine Hautfarbe das erste Mal zugute. Fuhren wir aber zu Auswärtsspielen, wurde ich immer direkt von drei Leuten geblockt. Die gegnerischen Teams sahen mich und dachten: Fuck, die Markt Schwabener haben da einen Schwarzen im Team, der MUSS gut sein! Wobei die anderen Spieler nach wenigen Spielzügen in der Regel Bescheid wussten, dass ich nicht viel draufhatte.
Sicher gab es in meinem schulischen Alltag auch ein paar unschöne Geschichten, beispielsweise diese »Neger putz mein Schuh«-Sprüche, die von irgendwelchen Leuten ziemlich regelmäßig kamen. Das Gute hierbei war allerdings, dass fast alle Schulkollegen denselben Weg nach Hause hatten, also vorbei an der Real- und Hauptschule bis zum Bahnhof, dem Knotenpunkt der Fahrschüler. Neben der Hauptschule in Markt Schwaben gibt es eine kleine Kapelle und daneben eine Bank. Ich ließ das Mobbing in der Pause über mich ergehen, lächelte und ging dann mit dem Typen, dessen Schuhe ich putzen sollte oder der mir irgendeinen anderen Spruch gedrückt hatte, denselben Weg zurück. An besagter Bank bei der Hauptschule saßen immer meine Freunde aus der Siedlung und wir klatschten uns mit einem ziemlich umständlichen Handshake ab. Lässig drehte ich mich dann um, zeigte auf den oder die Übeltäter und wartete, dass meine Jungs das für mich klärten. Never forget, where you come from!
DIE SACHE MIT MEINEN HAAREN
Eine Sache, die mich übrigens von der Grundschule bis zum Ende meiner Gymnasialzeit wirklich nervte, war, wie mit meinen Haaren umgegangen wurde. Wirklich. Das klingt banal, war es aber nicht. Ständig wurde mir in die Haare gefasst, weil ich bereits sehr früh ziemlich voluminöse krause Haare hatte. Das war, glaube ich, nie wirklich negativ gemeint, aber es nervte mich natürlich, weil meine Haare somit nicht nur mir, sondern auch gleichzeitig allen anderen gehörten. Ich habe gegen den ungefragten Griff in meine Haare selten etwas gesagt, aber das war auch nicht so einfach. Diejenigen die meine Haare, egal ob gefragt oder ungefragt, anfassten und mich wie ein Haustier streichelten, waren mir gegenüber nie verbal ausfallend. Meine Haare waren immer »voll toll«. Und das wurde mir immer wieder zum Verhängnis. Wenn mir jemand in die Haare fasste, fühlte ich mich immer unwohl, mir passierte also etwas Negatives, aber ich merkte, dass dieses Anfassen für mein Gegenüber etwas Positives war. Ich befand mich hier regelmäßig in einem Konflikt. Sollte ich mich jetzt anfassen lassen oder vielleicht auch einmal laut und deutlich sagen: »Alter, Bro …, kannst du vielleicht mal meine Haare in Ruhe lassen?« Ich habe mich in der Regel für Ersteres entschieden und meinen Unmut einfach hinuntergeschluckt. Ich wollte ein positives Bild von einem dunkelhäutigen Menschen abgeben, was ziemlich idiotisch klingt, aber ich hatte keinen Bedarf, in einen Konflikt mit jemanden zu gehen, der mir ja »eigentlich« wohlgesonnen war. Ich hatte auch selbst keinen Bezug zu meinen krausen Haaren. Glattes Haar war für mich immer mit »Weiß-Sein« verbunden, und da ich früher gern selbst weiß sein wollte, nervten mich meine eigenen krausen Haare. Ich hatte kein kulturelles Selbstverständnis. Dass mein Umfeld also etwas, das ich an mir selbst gar nicht so sehr mochte, so »toll« fand, machte die Sache natürlich noch komplizierter.
Erst durch die spätere Berührung mit Hip-Hop und Rap sah ich meine Haare in einem anderen Licht: Auf einmal war mein Afrostyle cool. Ein absoluter Filmtipp an dieser Stelle: »Good Hair« von 2009. Der Comedian Chris Rock macht sich auf die Suche nach einer Antwort, als seine Tochter ihn fragt, was »Good Hair« ist, und findet heraus, dass es bei dieser Frage eben wirklich um mehr als um »Haare« geht, nämlich dass damit auch immer eine kulturelle Identifikation einhergeht. Kein Wunder also, dass ich hin- und hergerissen war, wie ich meinen Mitmenschen mitteilen sollte, dass meine Haare nicht angefasst werden wollten. Später habe ich dann andere Dunkelhäutige kennengelernt, die ganz klar gesagt haben, dass ihr Kopf und ihre Haare tabu sind. Die waren schon einen Schritt weiter als ich und wussten, wie sie damit umgehen sollen. Ich hatte durch meine fehlende Vaterfigur niemanden, der mir dieses »Schwarz-Sein« vorleben konnte. Und ich glaube, genau das ist der Druck, den viele Menschen verspüren, die eben anders aussehen oder aus einem anderen Kulturkreis stammen. Man muss irgendwie versuchen, mit seiner Umwelt, die eben anders als man selbst aussieht und einem auch das Gefühl gibt, das man anders ist, klarzukommen. Gibt es direkte Vorbilder oder Identifikationsfiguren, die sich in der Vergangenheit bereits einer großen heterogenen Masse stellen mussten und an denen man sich orientieren kann, hat man eine grobe Vorstellung, wie man mit seinem »Anders-Sein« umgehen kann. Ich hatte das leider überhaupt nicht. Zwar war meine Mutter immer darauf bedacht, meine Hautfarbe und mein Anders-Sein als etwas Positives darzustellen, gleichzeitig konnte sie aber natürlich nicht verstehen, welche Dynamik in mir ablief, wenn ich anders behandelt wurde, und das konnte ich in diesem frühen Alter auch nicht so richtig ausdrücken. Vielmehr war es eben nur ein Gefühl, das durch das Außen in mir hochkam. Erst als ich erwachsen wurde, sprach ich mit meiner Mutter über meine vergangenen identitären Probleme. Sie hatte Angst, dass sie etwas falsch gemacht hatte, aber das hatte sie natürlich nicht. Im Gegenteil, sie war Vater und Mutter in einem und in beidem so viel besser, als ich mir je hätte ausmalen können. Nur diesen Struggle um meine Identität, den konnte sie mir nicht abnehmen, das musste ich schon selbst mit mir ausmachen, wie das eben jedes dunkelhäutige Kind, das in einem hellhäutigen Umfeld aufwächst, mit sich ausmachen muss.
Noch so eine Sache, die ich in meiner späteren Arbeit als Pädagoge gelernt habe. Die Identitätsfindung bei Jugendlichen, die aus einem migrantischen Umfeld war immer Thema. Zwanghaft suchten sie an sich etwas, das ihr Anders-Sein definierte und ihm einen Namen gab. Oftmals nahmen die Kids dann einfach das Herkunftsland eines ihrer Elternteile als sinnstiftenden identitären Faktor. Sie kamen im Türkei-Trikot und beleidigten andere Kinder beispielsweise als »Scheiß-Araber«. Sie suchten eine kulturelle Identität und übernahmen, als sie keine fanden, einfach das Herkunftsland ihrer Eltern, um sich zu schmücken – einfach damit sie irgendetwas auf dem Schulhof repräsentieren konnten, denn deutsch konnten sie ja nicht sein, so wurde es zumindest von außen an sie herangetragen.
Als Heranwachsender und Jugendlicher kamen immer mehr Dinge hinzu, die ich im Nachhinein als rassistisch oder zumindest alltagsrassistisch beurteilen würde. Zwar gab es in meinem erweiterten Freundeskreis jetzt keine Nazis oder so etwas, und gerade die Leute aus meiner Schauspielgruppe machten sich sehr stark für mich, wenn ich mal wieder erzählte, dass ich »Neger« genannt worden war. Das war nicht selbstverständlich, denn manchmal reagierten die Leute auch anders: »Ach komm, das gibt’s doch gar nicht mehr.« Oder: »Ach, was hast du denn dem gesagt?«
Für viele aus meinem damaligen Umfeld war es einfach unvorstellbar, dass jemand wie ich nur deshalb angefeindet wurde, weil ich eine andere Hautfarbe hatte. Für die Menschen, die mich damals erlebten, machte das überhaupt keinen Sinn und für mich natürlich auch nicht, schließlich war ich immer mehr als lediglich schwarz. Meine Freunde sahen mich nicht als »den Schwarzen« an, sondern erlebten mich natürlich auch mit all meinen Charaktereigenschaften, Stärken und Schwächen. Aber oft war es einfach die fehlende Empathie, die dem Ganzen noch die Krone aufsetzte und die dazu führte, dass ich mich nicht einmal von meinen eigenen Leuten für vollgenommen fühlte. Bildete ich mir dann etwa alles nur ein? Lag der Fehler vielleicht doch bei mir? Hatte ich wirklich niemanden provoziert? Die Antwort war stets ein energisches Nein. Es gab einfach immer schon Menschen, denen mein Aussehen ein Dorn im Auge war und, um ehrlich zu sein: Die tun mir leid. Denn sie verpassen es, mir als vollständigem Menschen zu begegnen, einfach weil sie nur etwas sehen, das sie sehen wollen. Den Dunkelhäutigen. Den »Neger«.
GASTBEITRAG VON IMOAN KINSHASA, EIN ALIEN IN BAYERN
Die 25-jährige Imoan Kinshasa postete ihre rassistischen Erlebnisse als Dunkelhäutige im Dirndl auf einem Weinfest in Niederösterreich auf Facebook. Das Posting der Bayerin bekam viel Aufmerksamkeit, wurde aber aufgrund des N-Worts von der Plattform gelöscht. Das hier ist ihr Gastbeitrag:
Würden Sie mich jetzt in ein Flugzeug nach Kinshasa, in die Heimatstadt meines Vaters im Kongo, setzen, dann wäre ich dort genauso verloren wie Sie.
Wenn man mich fragt, wie und wo ich aufgewachsen bin, dann erwartet mein Gegenüber meist eine Geschichte über Dschungel, Wüsten und Lehmhütten. Ich kann nicht davon berichten, dass ich die Schule nicht besuchen durfte oder dass ich zwölf Kilometer zum nächsten Brunnen laufen musste, um Wasser zu holen.
Aufgewachsen bin ich in Bayern bei meiner Oma und meinem Opa. In einem kleinem Dorf auf dem Land. Abgesehen davon kann ich von meinen Jahren im Trachtenverein berichten oder davon, dass ich eifrige Ministrantin war, wie meine Mama, als sie so alt war wie ich. Polizistin wollte ich immer werden – wie mein Onkel. Am liebsten bei der berittenen Polizei. Geliebt habe ich es, wenn ich das Schild unseres Trachtenvereins auf Festumzügen tragen durfte. Jedem, der fragt, wo ich herkomme, erzähle ich stolz: I bin a Bayer!
Ich würde bis heute nicht merken, dass ich anders bin, wenn man es mir nicht so oft unter die Nase reiben würde. Angefangen hat das schon, als ich noch nicht mal da war. Vergast hätte man die N***rschlampe damals, hat jemand zu meiner Mutter gesagt, als sie schwanger mit meinem Vater spazieren war.
Später im Kindergarten wurde es dann »Du darfst nicht mitspielen!«. In der Volksschule durfte ich das Schneewittchen nicht spielen. Wegen der Hautfarbe würd’s nicht passen, meinte meine damalige Lehrerin. In der Hauptschule riss ich dann mit den coolen Kids N***rwitze in den Pausen. Wir spielten »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann« und sangen »10 kleine N***rlein«, als wär’s wurscht. Verdammt, ich konnte sehr lange nicht mal erklären, warum ich so aussehe und wo ich herkomme. Wie sollte ich also den fragenden Kindern klarmachen, dass ich kein Alien bin? Ich wusste bei Gott nicht, wo schwarze Menschen herkommen. Hat man mich gefragt, wo ich oder mein Vater herkommen, ich habe vermutlich Amerika gesagt. Weil da, das weiß man ja aus dem Fernsehen, da gibt’s schwarze Menschen. Für mein fünfjähriges Ich war das die plausibelste Erklärung, die ich finden konnte.
Bei meinem ersten Praktikum im örtlichen Gasthaus und überall sonst auch war ich anscheinend für den »exotischen« Flair zuständig gewesen – das hat zumindest der Stammtisch dort so befunden. Die ältere Dame aus der Spülküche hat selbst nach einer Woche nicht kapiert, dass ich sie problemlos verstehe. Beim Praktikum im Reisebüro von Bekannten verlangten die Kunden mit dem Finger auf mich gerichtet: »Ich will das, was SIE hatte …« *Hihihihihi*. Eine Stammkundin befand, dass ich »Urlaubsfeeling« verbreite. Jemand wie ich müsste eigentlich das Dauerwerbegesicht der Urlaubsindustrie werden.
Ganz erfreut waren die Menschen immer über meine Deutschkenntnisse. »Du sprichst aber gut Deutsch«, habe ich so oft gehört. Für Bayern, ganz besonders Chiemgauer, ist es in der Tat eine Leistung, einen korrekten deutschen Satz zu bilden. Deutsch lernt man in Bayern schließlich nur in der Schule, die deutsche Sprache wird von den Bayern seit Jahrhunderten konsequent abgelehnt. Man bevorzugt den Dorfdialekt zur Kommunikation. Wenn ich dann aber auf Bayerisch spreche, dann sind die Menschen oft so perplex, dass sie nur Jiberish verstehen. Als wäre ich ein Alien.
Schön war, dass ich mich oft nicht vorstellen musste. In einem Radius von gut 50 Kilometern war ich eine der wenigen schwarzen Personen. Ich war somit für viele auch die erste und wahrscheinlich einzige schwarze Person, die diese Menschen je zu Gesicht bekommen haben. Bis heute werde ich nicht vergessen, wie es sich angefühlt hat, wenn ich angestarrt wurde. Wenn sich die Leute gewundert haben, was ich hier mache und warum ich überhaupt da bin. Wenn Kinder am Jackenärmel gezupft haben, um ihre Mütter vertrauensvoll zu sich herunterzulocken. Ich konnte ihr Unbehagen direkt fühlen. Für diese Kinder war ich ein Alien.
Als Kind war Rassismus eher ein Gefühl für mich. Ich wusste immer, dass das, was da passiert, nicht richtig ist, sondern grundlegend falsch und ein Verbrechen an der Menschheit. Es hat sich immer angefühlt, als hätte ich ein Loch, dort, wo mein Herz sein sollte. Ich konnte mir nicht erklären, warum Menschen mich anders behandelten oder plötzlich unfreundlich wurden. Rassismus war für mich etwas, das mich als Deutsche, geboren in Bayern, nicht betreffen kann. Rassismus gab es für mich nur gegenüber Ausländern, und das bin ich ja schließlich nicht. Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, genauso zu sein wie alle anderen. Niemand konnte mich darauf vorbereiten, dass die Welt das anders sieht.
Ich wurde immer wieder an meine äußerlichen Merkmale und deren Zuschreibungen erinnert. Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass ich exotisch, fremd und rassig bin. Das beste Beispiel dafür ist das obligatorische »Wo kommst du her?« – bis heute.
Natürlich reicht es NIE, wenn ich sage, dass ich aus Bayern komme. Denn man sieht ja, dass ich »andere Wurzeln« habe. Ich muss also ausführlich erklären, welches meiner Elternteile nicht weiß ist, wo mein Vater herkommt, wo meine Mutter herkommt, ob sie getrennt sind und seit wann, wo beide jetzt leben, bei wem ich aufgewachsen bin. Dann wird natürlich noch gefragt, ob ich schon mal »dort« war. Diese Gespräche führe ich beim Arzt, im Zug, beim Gassi gehen oder in der Arbeit mit Kunden. Diese Fragen kommen oft von Menschen, mit denen ich zuvor gerade mal ein bis zwei Worte gewechselt habe.
Der nächste Schritt der »Unterhaltung« ist dann, dass mir mein Gegenüber von eigenen Erfahrungen berichtet. Sei es ein Kollege aus Ghana, der echt supergute Arbeit macht, tip top ohne Meckern. Oder die neue Freundin vom Enkel, deren Vater aus Nigeria stammt, mein Gott, kann das Mädchen gut singen, aber das liegt ja in den Genen. Oder ein älterer Herr erzählt von seinen Reisen nach Kenia. Da gibt’s ja so wunderschöne Frauen. Dass er da nur zum preisgünstigen Ejakulieren hinreist, verschweigt er mir natürlich.
Ich weiß, nicht generalisieren und so, aber es kommt zu oft vor, dass ich eine Unterhaltung mit weißen Mitbürgern führe, die nahezu identisch nach einem Schema ablaufen. Ich fühle mich dabei, als würde ich durchleuchtet und abgeschätzt werden. Als würde ich mich dafür rechtfertigen müssen, dass ich in dieser Form existiere. Für mich sind das unglaublich unangenehme Momente.
Wir müssen darüber reden, was Rassismus wirklich ist. Es ist nicht rassistisch, einen Menschen zu fragen, wo er herkommt. Es wird aber kritisch, wenn man mit der Antwort nicht zufrieden ist, weil sie nicht ins Weltbild passt. Warum kann eine schwarze Frau partout nicht aus Bayern kommen?
Rassismus ist so normal in unserer Gesellschaft, dass er oft nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Es ist nichts, was bewusst oder beabsichtigt ausgeübt werden muss. Selbst wenn man es gut meint, kann es beim Gegenüber falsch ankommen.
Am liebsten wär es mir, wenn ich über schöne Dinge schreiben könnte. Einen Liebesroman oder so. Ich möchte nicht mehr über Rassismus und das Schwarz-Sein sprechen, weil es unfassbar ermüdend und auslaugend ist. Mir ist aufgefallen, dass meine Gesprächspartner ungehalten werden, wenn ich aus ihrer Komfortzone ausbreche und nicht brav mitspiele und Fragen beantworte oder Mikroaggressionen über mich ergehen lasse.
Manchmal fühle ich mich, als wäre ich nur schwarz, und das ist einfach alles, was ich bin. Die Menschen sehen mich an und wissen eh schon, wer ich bin. Ich kann singen, ich kann tanzen, ich bin exotisch, ich spreche kein Deutsch, ich bin keine Deutsche. Manche Menschen können nicht mehr über die selbst errichtete Mauer aus Vorurteilen hinwegblicken. Selbst wenn sie es versuchen. Die Mauer der Vorurteile ist solide und von gutem Fundament. Einige können eventuell auf Zehenspitzen einen Blick über den Rand erhaschen. Wer aber neugierig ist und wissen möchte, was auf der anderen Seite der Vorurteilsmauer ist, der muss sich anstrengen, der wird sich die Knie aufschürfen und schwitzen.
Es ist schwierig, in einer Gesellschaft wie der unseren über Rassismus zu sprechen. Niemand will etwas damit zu tun haben, nicht mal die Nazis oder die rechten Parteien wie die »Alternative für Deppen« oder die »Freizeitliche Polonäse Österreich«. Wer Rassistisches öffentlich anprangern möchte, ist meist am Ende selbst der Depp. Es gilt als ungeschriebenes Gesetz, dass Rassismus nur von bösen und schlechten Menschen ausgeht. Wer ein guter Mensch ist, kann kein Rassist sein und niemals nie Rassistisches sagen oder tun. Auch wer schwarze FreundInnen/PartnerInnen/Kinder oder ArbeitskollegInnen hat und das explizit betonen muss, kann etwas Rassistisches von sich geben. Ja auch ich habe Vorurteile, die ich abbauen muss. Ich dachte als Kind zum Beispiel sehr lange, dass schwarze Babys abfärben, weil sie dreckig sind. Die Asylbewerber im Nachbardorf fand ich auch suspekt, schließlich klauen die ja den ganzen Tag nur Dinge wie Fahrräder.
Ich bin der beste Beweis dafür, dass Rassismus etwas ist, das anerzogen und antrainiert wird. Wir werden alle rassistisch sozialisiert. Ja, ich meine wirklich ausnahmslos ALLE. Wie sonst kann man einem schwarzen Kind, das in einem weißen Umfeld aufwächst, Vorurteile gegenüber POCs anerziehen? Wo sehen wir denn People of Color in der Gesellschaft? Haben Sie schwarze Vorgesetzte, und wenn nein, was empfinden Sie bei dem Gedanken daran? Was löst die Vorstellung einer schwarzen Bundeskanzlerin in Ihnen aus?
Ich helfe Ihnen bei Ihrem Weg über die Mauer. Lesen Sie »Deutschland Schwarz Weiß« von Noah Sow. Wenn Sie das Buch bis zu Ende lesen, dann garantiere ich Ihnen einen Blick auf die andere Seite der Mauer.
UND WO KOMMST DU JETZT HER? DIE SCHUBLADEN UND ICH
Obwohl ich in meinem kulturellen Selbstverständnis aufgrund meiner Sozialisation und meiner Erziehung (ich war ja wirklich ein ziemliches Dorfkind) immer zuerst ein Bayer war, wurde und werde ich oft in eine bestimmte kulturelle Schublade gedrückt, meistens in eine afrikanische. Die Leute sehen mich an und fragen sich, wo ich herkomme. Das ist wirklich die Frage schlechthin. Meine Standardantwort hierauf lautet immer und seit jeher: Markt Schwaben. Und hier fängt es an. Manche nicken und verstehen, dass ich Markt Schwabener bin. Und ich sage bewusst »Markt Schwaben« und nicht Deutschland, weil ich meinem Gegenüber das Gefühl geben will: Egal, worauf du hinauswillst: Ich komme dir entgegen und spezifiziere meine Herkunft so exakt, dass du einfach verstehen musst, dass ich nicht aus Afrika oder sonst woher komme, sondern aus dem schönsten Autodurchfahrtsort bei München: Markt Schwaben. Manche Mitmenschen lächeln mich nach meiner Antwort aber auch süffisant an und sagen dann so etwas wie »Neee, ich meinte eher so …«, gefolgt von einer kurzen Pause, »… wo du wirklich herkommst«, wobei sie das »Wirklich« unangenehm laut betonen. Ich wiederhole dann immer: »Markt Schwaben.« Das ist mein letztes Angebot. Viele nicken und schauen dann peinlich berührt weg. Und dann gibt es diejenigen, die immer noch nicht verstanden haben, was ich ihnen sagen wollte, und die fragen dann genauer nach (Grüße an die Wirtin vom AfD-Infostammtisch): »Ne, also deine Eltern und so …« Die Härtefälle ergänzen: »Irgendwo aus Afrika?« Da muss ich schon echt durchschnaufen und mit den Augen rollen. Fuck you man.
Geboren in München am Sendlinger Tor.
Großgeworden in Markt Schwaben.
Bayerischer wird’s nimmer. Die Frage nach der Herkunft, aus welchen Gründen auch immer, interessiert meine Umgebung vielleicht. Aber der Zeitpunkt, an dem diese Frage gestellt wird, ist immer belastend, denn sie wird immer dann gestellt und ausformuliert, wenn ich jemandem zum ersten Mal begegne. Nicht meine Interessen, meine Arbeit oder meine Hobbys stehen bei einem Erstkontakt im Vordergrund, sondern meine Herkunft. Klar, in Bayern ist das nicht unüblich, und wir haben auch oft (berechtigte!) Vorurteile gegen andere Nachbardörfer, die auch einen Fußballverein haben, aber bei meinen weißen Freunden wird nie direkt nachgebohrt. Die Leute checken ja vielleicht nicht, dass die Frage nach ein paar Jahrzehnten etwas nervig ist, und ich habe auch kein Problem damit, jemandem im Detail zu erzählen, woher mein Vater aus dem Kongo jetzt genau stammt, genauso gern erzähle ich auch die Geschichte von meinen vertriebenen Großeltern aus Schlesien, oder dass mein Opa bei der Wehrmacht war. Aber eigentlich interessiert das niemanden so wirklich. Meiner Erfahrung nach geht es einfach nur darum, mich in eine Schublade zu stecken, die, betrachtet aus dem Blickwinkel meines Gegenübers irgendwie Sinn macht.
Diese an mich herangetragene Vorstellung, dass ich ja »ganz bestimmt« Afrikaner bin, ist einfach eine rassistische Idee, weil ich auf meine äußeren Merkmale reduziert werde. Solche Ausgrenzungsmechanismen sind leider, auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft, immer noch aktuell. Auch in München, meiner Geburtsstadt. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 19. August 2018 berichtete eine Mitarbeiterin von der Beratungsstelle »Before«, die sich an Betroffene von rechter Gewalt wandte, über die Dringlichkeit und Notwendigkeit ihrer Arbeit. In Bayern gebe es zwar – im Vergleich zu den neuen Bundesländern – weniger »krasse« Gewaltvorfälle, dafür sei der Alltagsrassismus hier aber deutlich ausgeprägter. Es herrsche eine »Das wird man wohl noch sagen dürfen«-Mentalität, die ich nur bestätigen kann.
»Russn derf ma nimmer song, Neger derf ma nimma song« war die Baseline der AfD-Wirtin. Ihre Agenda. Das ist doch Wahnsinn. Warum sollte es denn auch bitte schön erlaubt sein, mit einem Begriff, um sich zu werfen, der ausschließlich negativ behaftet ist und der Sklaverei entspringt? Aber dazu in einem späteren Kapitel mehr.
Ich bin jetzt wirklich nicht der Ultrasensibelste, wenn es darum geht, dass manche Menschen die Straßenseite wechseln, wenn ich mit meinem Hund Biggie Gassi gehe oder ältere Damen in der U-Bahn ihre Handtaschen festhalten, wenn ich mich neben sie setze. Klar nervt das und ist seltsam, aber ich habe versucht, damit umzugehen und es zu akzeptieren. Ich versuche einfach immer, freundlich zu sein, auch wenn ich das Gefühl habe, ich muss immer eine Spur freundlicher sein, um meine dunkle Hautfarbe zu überwinden, die erst einmal dafür sorgt, dass mein Umfeld sich unwohl fühlt. Das mag vielleicht seltsam klingen, aber ich muss immer etwas mehr geben als eine weiße Person, um in einem größtenteils weißen Umfeld allen Anwesenden klarzumachen, dass ich cool bin und eben ein ganz normaler Typ, und das ist so weit schon in Ordnung für mich. Ich habe aber auch schwarze Freunde und Musikerkollegen, die von solchen passiven Aktionen anderer um einiges genervter sind als ich. Und ich kann das nachvollziehen, denn wenn allein die eigene Anwesenheit in einem Raum dafür sorgt, dass sich andere Menschen offenbar unwohl fühlen, wie soll man sich dabei denn selbst wohlfühlen?
Mein Musikerkollege Afrob ist viel unterwegs und hat sich deshalb eine Bahncard 100 gegönnt. Erster Klasse! Ziemlich nice. Erster Klasse ICE zu fahren ist mit Abstand die beste Art zu reisen. Man hat superviel Beinfreiheit, es gibt Kaffee und Zeitungen umsonst, und es ist einfach nie richtig voll. Als wir uns im vorherigen Jahr für die Aufzeichnung des »Samy Deluxe Unplugged Album« trafen, erzählte er mir, wie krass es für ihn immer wieder sei, mit der Bahn zu fahren, weil er immer der einzige Schwarze in der ersten Klasse sei und ihn manche deswegen schon mal schief anschauen. Und er spürt über die Blicke, die ihm zugeworfen werden, dass die anderen Bahnreisenden glauben, er sei hier falsch. Für diese Anzugträger, die an ihren Smartphones noch irgendwelche superwichtigen E-Mails schreiben, passt ein Schwarzer mit einem Afro einfach nicht in das wunderbar hell leuchtende Erster-Klasse-Abteil eines ICE, an dem man die F.A.Z. schmökert und von nett lächelnden Bahnmitarbeitern einen frischen Latte macchiato an den Platz geliefert bekommt. Kommt dann ein Kontrolleur, schauen die anderen Bahnreisenden ihn auch an, von wegen: Ah, jetzt wird die Wahrheit ans Licht kommen und ihm wird mitgeteilt, dass er hier falsch ist, denn das ist er ja offensichtlich. Afrob rollt dann mit den Augen, zückt seine Bahncard 100 und bleibt ruhig sitzen. Oft geht der Kontrolleur aber auch an ihm vorbei, einfach weil der keine Lust auf eine Konfrontation hat. Er muss dann diesen schwarzen Typen nach seinem Ticket fragen, und im Kopf des Kontrolleurs beginnt direkt dieser Film: »Fuck, was mache ich jetzt, wenn der kein Ticket hat?« Die Blicke der anderen Mitinsassen reichen Afrob oft aber schon aus, um sich genervt und bedrängt zu fühlen, und ich kann das komplett nachvollziehen. Denn Leute wie wir bekommen so das Gefühl mitgegeben, wir müssen uns in irgendeiner Art und Weise dafür rechtfertigen, dass wir dort sitzen. Und dann ist da wieder die Frage (von der ich nicht glaube, dass Afrob sie sich noch stellt, die ich mir aber direkt nach dem Kindergarten gestellt habe): Muss ich das jetzt tun? Muss ich mich rechtfertigen? Bin ich vielleicht nicht doch falsch, hier in der ersten Klasse? Bin ich eher so zweite Klasse? Oder vielleicht besser dritte, wenn’s die gäbe? Und um ganz ehrlich zu sein: Bei genügend Blicken, die hinter großen Zeitungen hervorlugen, während der ICE mich in die nächste Stadt bringt, wo ich dann vor Tausenden Hip-Hop-Fans auftrete, fühle ich mich manchmal genauso. Zweitklassig. Oder drittklassig. Rassismus im Alltag wird von den meisten (weißen) Personen in meinem Umfeld nicht wahrgenommen, aus einem nahe liegenden Grund: Sie sind weiß. Punkt. Man kann versuchen, sich in die Lebensrealität einer schwarzen Person reinzudenken, aber es ist schlichtweg nicht möglich, sich komplett hineinzufühlen. Ich kann mir ja auch nur ansatzweise vorstellen, wie es ist, eine junge, lebensfrohe Frau zu sein und eine Nacht in einem überfüllten verschwitzen Klub am Ballermann zu verbringen, aber erleben tue ich das selbstverständlich nicht. Ich sehe zwar von außen irgendwelche Ballermann-Typen, die einen Deutschland-Sombrero tragen, wie er auf der Ablage in der Gaststätte des AfD-Infotreffen liegt, und merke, wie sie sich total besoffen an die Frau ranmachen, aber im Zweifel finde ich das eher lustig, weil ich einfach näher an den Typen dran bin. Ich sehe nicht, wie diese Frau sich innerlich stresst, aber das Ganze dann noch versucht, mit einem Lächeln zu überspielen. Wie sie sich unwohl fühlt. Wie sie vielleicht Angst vor diesen besoffenen Typen hat und lieber nach Hause gehen will. Aber was soll sie machen? Also einfach gute Miene zum bösen Spiel und noch etwas weiterfeiern. Irgendwann werden sie damit aufhören. Zumindest für heute.
Und ich stehe daneben, habe die Party meines Lebens und kann nicht fühlen, was sie gerade fühlt. Ich fand das ziemlich interessant, als diese #MeToo-Debatte losging und Frauen über sexuelle Übergriffe berichteten. Spannend fand ich hier vor allem die Reaktion vieler Männer, die sich in zahlreichen Kommentarspalten an der Debatte beteiligten und anfingen, Frauen erklären zu wollen, ab wann ein sexueller Übergriff jetzt ein sexueller Übergriff ist und ab wann eben nicht. Völlig reflexartig positionierten sich unbeteiligte Männer an einer Diskussion, die von einer mutigen Frau losgetreten wurde, und nahmen sich das Recht heraus, einfach mal mitzureden. Es ist eine Debatte der Frauen, und das sollte sie auch bleiben, ich tue mich ja auch schwer damit, wenn mir irgendein weißer Typ, der nie rassistisch angegangen wurde, versucht zu erklären, was jetzt rassistisch ist und was nicht. Oder wenn sich zwei weiße Menschen in meinem Beisein darüber austauschen, dass »das ja ganz schlimm für eine schwarze Person sein muss«. Dabei ist mein persönliches Empfinden für Rassismus individuell und hat nichts mit dem meines schwarzen Mitbürgers zu tun. Nur weil wir beide eine dunkle Hautfarbe haben, haben wir trotzdem eine andere Sensibilisierung. Die Gefühlswelt »aller« Schwarzen über einen Kamm scheren zu wollen ist doch, wenn man mal darüber nachdenkt, genauso rassistisch – zumindest im Ansatz.
Und weil wir gerade dabei sind: Ich sehe einige Parallelen zwischen Sexismus und Rassismus. Es ist dasselbe Muster: Frauen wird von Sexisten vorgeworfen, sie seien ja »selbst schuld«, wenn sie sexuell angegangen werden, da sie sich einfach nicht angemessen und/ oder zu wenig bedeckt kleiden … In der Argumentationsstruktur von Rassisten ist ein Opfer, das rassistische Gewalt erlebt, selbst schuld, weil er oder sie sich »halt nicht richtig anpassen«. Benimmt sich ein Hellhäutiger in seinem Umfeld aber mal nicht regelkonform und wütet zum Beispiel an einem öffentlichen Platz, ist diese weiße Person einfach jemand, der randaliert. Handelt ein Schwarzer an derselben Stelle, rechtfertigt seine Tat und sein Auftreten wieder rassistische Reaktionen auf sein Tun. War ja klar, dass »so einer« das macht. Wenn ich in der Bahn sitze und meine Füße auf die vordere Bank gestützt habe, wird mir nicht gesagt »Guten Tag, nehmen Sie bitte Ihre Füße herunter«, stattdessen heißt es eher: »Das kannst du da machen, wo du herkommst.« Ich hatte es bereits an früherer Stelle geschrieben: Rassismus und die Wahrnehmung von Rassismus ist immer etwas Individuelles. Ich muss da nur in meinen eigenen Familienstammbaum schauen. Mein Vater hatte diesbezüglich einen sehr hohen Toleranzrahmen. Wenn ich Sachen höre, die ihm früher passiert sind, kann ich nur den Kopf schütteln. Für Rassismus, vor allem für den, der sich in unserem Alltag ausdrückt, gibt es keinen wirklichen Maßstab. Ist es rassistisch, wenn ein Fan mich nach einer Freestyle-Session auf Englisch anspricht? Oder wenn mir jemand in einem Copyshop einen Stapel zum Kopieren in die Hand drückt (so geschehen an der Uni München)? Sind das einfach nur schlechte Manieren, oder will mir jemand etwas Böses?
Für meine Buchrecherche bin ich auf einen Artikel des ZEIT Campus Redakteurs Hannes Schrader, vom 14. August 2018 gestoßen. Er beschreibt darin, wie er sein eigenes Onlinedating-Verhalten hinterfragte, weil ihm auffiel, dass er sich eigentlich nur mit weißen europäischen Frauen traf. Woher kommt das? Die Soziologin Julia Hahmann und der Sozialpsychologe Andreas Zick argumentieren gegenüber ZEIT Campus hier mit dem Prinzip der Ähnlichkeit. Wir haben ganz einfach Präferenzen für Personen, die einen ähnlichen Bildungshintergrund und einen ähnlichen biografischen Werdegang haben. Ähnlichkeit erzeugt ein Gefühl der Sicherheit. Das kann, wenn es ausgrenzend wirkt, ein Fehler sein, ist aber psychologisch nachvollziehbar. Zudem haben Gesellschaften mit kolonialer Vergangenheit (wie der Unsrigen) in der Vergangenheit sehr viel gegen die Beziehungen von Nichtweißen und Weißen unternommen. Und so lange ist die Zeit, als solche Beziehungen verboten waren und Schwarze als eine minderwertige Rasse und Kultur wahrgenommen wurden, auch nicht her.
In Wahrheit hat unsere Gesellschaft den Rassismus nicht überwunden, sondern er ist, wie bereits in den ersten Kapiteln angedeutet, verborgener und nicht mehr so klar erkennbar. Eine Form dieses modernen Rassismus ist der sogenannte aversive Rassismus. Aversive Rassisten plädieren zwar für die faire und gerechte Behandlung sämtlicher Gruppen einer Gesellschaft, haben aber negative Emotionen gegenüber Schwarzen und versuchen, den Kontakt mit ihnen zu meiden. Erleben sie aber einen Kontakt, was in einer globalisierten Welt ja durchaus eine realistische Option ist, reagieren sie gestresst und versuchen, die für sie unangenehme Situation so schnell wie möglich zu beenden. Und das ist eben genau dann nervig, wenn ich es in meinem Alltag so offensichtlich auf dem Silbertablett serviert bekomme, beispielsweise, wie eben angesprochen, im Zug, wenn jemand wie ich gemütlich in der ersten Klasse eines ICE sitzt und eine Zeitung liest und ganz genau checkt, dass jemand nichts lieber will, als dass ich gerade nicht da bin.
Ein nicht zu unterschätzender Fakt ist auch, das schwarze und weiße Menschen in Deutschland aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit einfach keine gesunde Beziehung zueinander aufbauen konnten und wir deshalb einander fremd sind, ohne dass wir uns kennen. Hinzu kommt der Mangel an ethnischer Diversität in unserem Alltag. People of Color werden kaum dargestellt und abgebildet. Sicher wird immer großflächig und medienwirksam damit geworben, wie vielfältig und divers unsere Gesellschaft ist, aber davon habe ich weder in meiner Kindheit noch Jugend etwas mitbekommen. Als ich mit meiner Mutter das erste Mal in Amerika war und dort mit ihr einen wunderbaren Urlaub verbrachte, sah ich das erste Mal als Teenager schwarze Menschen in Anzügen. Ich war begeistert. So etwas hatte ich vorher nie wahrgenommen. Ich sah in New York elegant angezogene schwarze Business-Men, die ziemlich wichtig aussahen und die auch nicht komisch angeschaut wurden. Sie waren einfach ganz normale Leute, die zur Arbeit gingen und einen Aktenkoffer unter dem Arm hatten. Und dann gab es noch andere Schwarze. Müllmänner, Polizisten, Supermarktkassierer. Einfach alles. Nicht nur schwarze Basketballspieler oder schwarze Rapper. Das mag jetzt vielleicht lapidar klingen, aber versuchen Sie, sich das nur kurz vorzustellen: So etwas kannte ich in Deutschland nicht. Weder aus Markt Schwaben noch aus der Werbung oder sonst woher. Und irgendwie gab mir das Mut, dass auch ich später jemand sein konnte, der superwichtig mit seinem Anzug durch die Straßen läuft und Geschäfte regelt, etwas, das ich mir viele Jahre nicht vorstellen konnte, weil diese Vorstellung einfach meinen geistigen Rahmen sprengte.
Meine Geschwister und ich haben im Übrigen komplett andere Herangehensweisen, mit Rassismus, der uns entgegenkommt, umzugehen. Mein Bruder ist beispielsweise IT-Berater in einem großen Unternehmen. Er hat also, im Gegensatz zu mir, der ja irgendwie alles Mögliche gleichzeitig macht, einen recht normalen und vor allem einen soliden Beruf. Er erzählte mir einmal, dass sich in seinem Büro zwei Kollegen in Hörweite darüber unterhalten hatten, ob man jetzt eigentlich »Neger« sagen dürfe oder nicht. Sie hatten so laut gesprochen, dass ihnen hätte klar sein müssen, dass mein Bruder sie verstand. So laut, dass er das Gefühl gehabt hatte, dass sie darauf abgezielt hatten, dass er sich an der Diskussion beteiligte, quasi als Experte, »der das ja wissen müsse«. Mein Bruder hatte jetzt mehre Optionen gehabt. Er hätte einerseits einsteigen können und mit zwei weißen Jungs im Office darüber diskutieren, ob man jemanden wie ihn jetzt »Neger« nennen dürfe oder nicht. Oder er hätte hingehen können und so etwas sagen können wie: »Ey Jungs, ich hör euch doch. Wenn ihr Fragen habt, schließt mich doch nicht einfach aus, sondern bindet mich ein. Das ist viel leichter. Wirklich.« Er hatte keines von beidem getan. Ein bisschen so, wie mein Vater reagiert hätte, nur dass mein Bruder diesen Vorgang im Nachhinein nicht so sehr ausblenden konnte wie mein Vater. Er wollte eben auch nicht dieser Typ sein, der Zoff machte.
Uns, wenn man es so sagen will, »Mischlingskindern«, verbindet alle dieselbe seltsame Zerrissenheit, weil wir uns natürlich nicht klar von »Deutschen« oder »Weißen« abgrenzen können, wie das zum Beispiel mein Vater konnte. Wir sitzen immer irgendwo zwischen den Stühlen, wissen im schlimmsten Fall nicht einmal, wo das Holz für die Stühle, zwischen denen wir uns bewegen, herkommt und müssen versuchen, damit umzugehen. Natürlich möchte ich auch gern zu so einer halb öffentlichen Diskussion hingehen und ganz ruhig erklären, warum ich das schwachsinnig und verletzend finde. Aber das geht nicht, weil ich dabei nicht ruhig bleiben kann. Ich finde nicht die richtigen Worte – ähnlich wie beim Info-Stammtisch der AfD, wo ich dachte, ich wäre unantastbar und dank meines gewonnenen Bavarian Brasilien Jiu-Jitsu-Titels eh der größte. Bis ich merkte: Fuck, ich kann nicht mit denen reden.
Meine Schwester geht wieder anders mit dieser Thematik um. Sie hätte, wäre sie in der Situation meines Bruders gewesen, so etwas gesagt wie: »Stopp. Das geht zu weit. Hört auf damit«, und ich würde ganz einfach ein paar wertende Kommentare droppen, ohne das Ganze ausdiskutieren zu wollen, vor allem nicht, wenn es Leute sind, mit denen ich jahrelang zusammenarbeiten muss.
Hierzu passt an dieser Stelle vielleicht noch eine andere Geschichte von mir. Eine ehemalige Arbeitskollegin (wo ich da gerade gearbeitet habe, ist nicht so wichtig, und wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch nicht mehr genau, wann und wo das war) scrollte sich durch meinen ziemlich falschen Wikipedia-Artikel. Irgendwo stand da wohl, dass mein Berufswunsch, Polizist zu werden (???), mir aufgrund von Diskriminierungserfahrungen verwehrt wurde. Sie las diesen Absatz und murmelte so was wie »Das ist ja mal wieder typisch« und schloss den Browser-Tab. Damit meinte sie wohl, dass es mal wieder typisch sei, dass jemand, der eine dunkle Hautfarbe habe, sich über nichts anderes als Diskriminierung auslassen kann. Ich fand das ziemlich krass. Wie abwertend ist es denn bitte, wenn man zu dieser Aussage sagt, dass es eben »typisch sei?« Wer soll die Geschichte, dass einem ein Berufswunsch aufgrund einer diskriminierenden Erfahrung verwehrt wurde, denn sonst erzählen, außer ein dunkelhäutiger Mensch? Vielleicht ein blonder Typ, der in der Verwaltung arbeitet?
Ich saß also beobachtend daneben, während mir ganz offensichtlich das Recht abgesprochen wurde, mich diskriminiert zu fühlen. Die Frau, die »das ist ja typisch« sagte, machte in diesem Moment, wo sie diese Aussage tätigte, genau das, was das grundlegende Problem ist. Sie verdrängt durch das einfache Abtun eines Problems dieses aus ihrer Wahrnehmung – existent bleibt das Problem aber trotzdem noch.