GEJAGT UND ANGESPUCKT – JUGEND IN MARKT SCHWABEN
Um ganz ehrlich zu sein, mit gesellschaftlichen Prozessen und Vorgängen habe ich mich erst sehr viel später auseinandergesetzt. Trotzdem, und das muss an dieser Stelle auch erzählt werden, kam es in meiner Jugend zu einigen Übergriffen und Vorfällen, die sich so stark in meine Erinnerungen eingebrannt haben, dass ich manchmal, in einsamen melancholischen Momenten, daran zurückdenke und mich frage, wie das eigentlich passieren konnte. Es waren Erlebnisse, die mich und meinen Umgang mit anderen ziemlich geprägt haben.
In meiner Jugend lernte ich mit der Zeit, mit meinem »Schwarz-Sein« umzugehen. Ich war ja nicht nur schwarz, sondern vor allem ein bayerischer Junge aus Markt Schwaben und natürlich voll ins Dorfgeschehen eingebunden. Eine dieser urbayerischen Traditionen, die in meiner Jugend einen hohen Stellenwert hatte, war die sogenannte »Kramperljagd«, die jedes Jahr stattfand. Über Nikolaus, in der Nacht vom fünften auf den sechsten Dezember erscheint nach bayerischer Tradition der Krampus, eine Schreckgestalt in Begleitung des heiligen Nikolaus. Während der Nikolaus die braven Kinder beschenkt, werden die unartigen vom Krampus bestraft. In den berühmt-berüchtigten Kramperljagden jagen die älteren Jugendlichen immer die jüngeren und stellen alle mögliche Sachen mit ihnen an, meistens waren es so Dummejungenstreiche, wie eine Zwiebel zu essen oder Ähnliches. Das Ganze ist nicht wirklich ernst gemeint und erinnert eher an ein Ferienlager, in denen die älteren Kinder bei Nachtwanderungen die jüngeren erschrecken. Ganz easy. Ich erinnere mich allerdings an eine Kramperljagd, in der das Spielerische verloren ging und ich wirklich Angst hatte.
Ich war damals zwölf Jahre alt und mit meinen Kumpels Flo und Volkan unterwegs, die aus meiner Hochhaussiedlung kamen. Wir zogen nachts durch Markt Schwaben. Die Stimmung war an diesem Tag natürlich etwas aufgeheizt, und wir wussten, was uns bevorstand, aber es war eben diese prickelnde Anspannung, dass irgendwelche älteren Markt Schwabener Jungs, die wir wahrscheinlich aus der Schule kannten, uns jagen würden. Ein nettes Katz-und-Maus-Spiel eben. Wir waren unweit des Marktplatzes unterwegs, als kurz hinter uns ein Auto mit quietschenden Reifen hielt. Wir drehten uns um und erwarteten, dass wir ein paar Jungs sehen würden, die irgendeinen Blödsinn mit uns anstellen wollten. Ich stellte mich schon auf eine kleine Rauferei ein, aber da ich letztes Jahr schon eine Zwiebel vertilgt hatte, wäre es auch nicht so schlimm, in diesem Jahr noch eine zu essen. Aber weit gefehlt. Aus dem roten Volvo stiegen drei waschechte glatzköpfige Neonazis mit Bomberjacke und Springerstiefeln aus und starrten uns an. Ich sah sie und wusste direkt, dass das die Hohenlindner waren. Hohenlinden war damals, Mitte der 90er-Jahre, eine kleine Neonazi-Hochburg. Wann immer es in unserem Umfeld Stress mit Nazis gab, waren es die Hohenlindner. Und jetzt hatten sie direkt mal zwei Jungs, Volkan und mich, die nicht wirklich biodeutsch aussahen, vor sich. Die Typen stiegen mit abgebrochenen Autoantennen aus.
»Bleibt stehen, ihr Drecks-Kanacken.«
Die Stimme des Fahrers hallte durch die Nacht. Sie hatten nicht einmal den Motor abgeschaltet, sondern waren einfach direkt aus dem Wagen gestiegen. Das Auto dampfte. Volkan, Flo und ich blickten uns an. Dann rannten wir, so schnell wir konnten, los. Wir liefen die Ebersberger Straße einige Hundert Meter entlang, bis wir zum Wirtshaus Oberbräu kamen. Hier angekommen wurden wir von den Bier trinkenden und Leberkas mümmelnden Gästen verdutzt angeschaut, doch das war uns jetzt ziemlich egal. In Panik verfallen stürmten wir die Treppe hoch und versteckten uns im oberen Stockwerk, in dem normalerweise Veranstaltungen stattfanden. Heute allerdings war es leer. Wir stierten aus dem Fenster und sahen auf der Straße die drei Typen mit ihren abgebrochenen Autoantennen vor dem Wirtshaus stehen und wild ihre nächsten Schritte diskutieren. Ich atmete tief ein und aus und fuhr mir durchs Haar. Wir waren fürs Erste in Sicherheit.
»Alles gut Jungs?!«, fragte Flo, und ich nickte.
Gerade noch einmal gut gegangen. Ich schaute nach links zu Volkan, der die Neonazis von oben beobachtete, die langsam, aber sicher von unserer Bildfläche verschwanden und zu ihrem Auto zurückgingen. Er schüttelte energisch den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein, dass wir hier einfach verschwinden. Mir reicht das jetzt.«
Er warf uns noch einen Blick zu, dann rannte er die Treppe wieder runter.
»Volkan?!« Flo und ich schauten ihm vollkommen baff hinterher, wie er unser Versteck verließ. War er größenwahnsinnig geworden? Wir blickten vom Fenster aus zu ihm hinab, wie er aus der Gaststätte kam, konnten ihn dann aber nicht mehr sehen. Lief er denen etwa hinterher? In diesem Moment dachte ich, Volkan würde sterben. Er war komplett wahnsinnig geworden. Flo und ich starrten uns an. Was sollten wir jetzt machen? Hilfe holen? Ihm hinterherrennen?
»Ey, der ist doch völlig durch«, sagte Flo, »diese drei Typen sind mindestens 18 oder 20 oder so, die hauen den mit ihren abgebrochenen Autoantennen zu Brei.«
»Wir müssen hinterher«, insistierte ich, obwohl ich natürlich auch keine große Lust verspürte, drei erwachsenen Neonazis hinterherzurennen. Aber es half ja nichts. Volkan war ein guter Freund, und wir konnten ihn auf gar keinen Fall im Stich lassen.
Wir liefen also die Treppe hinunter und wurden und von den Restaurantgästen immer noch wie Aliens angestarrt. Ich riss die Tür der Gaststätte auf und stellte mich schon auf eine waschechte Klopperei mit Neonazis ein, doch vor uns stand Volkan und grinste uns frech an: »Na Jungs, alles klar?«
»Volkan was ist passiert?«, fragte Flo.
»Na ja«, er breitete triumphierend die Arme aus, »was soll ich sagen. Die hatten sich schon auf den Weg zurück zum Auto gemacht, und ich bin dann hinterhergelaufen. Und einer von denen hat sich umgedreht und gerufen: ›Da ist ein Türke.‹ Und dann sind sie ins Auto gestiegen und weggefahren. Ich sehe wohl ziemlich gefährlich aus.« Volkan grinste breit. Er hatte als einziger von uns bereits Bartwuchs. Wirklich gefährlich sah er jedoch nicht aus. Aber der Move war schon extrem stark. Was für ein Typ! Heute ist Volkan im Übrigen ein erfolgreicher Business-Mann und genau mit dieser »Attacke«-Attitüde – immer vorwärts rein, nicht weglaufen, sondern auch einmal dagegenhalten – später beruflich so erfolgreich geworden. Er hat sich einfach von keinem was sagen lassen, nie.
In dieser Kramperlnacht war Volkan unser unbestrittener Held, und der Rest der Nacht verlief einigermaßen friedlich. Das war eigentlich mit das Wichtigste: Am nächsten Tag bekamen wir alle vom Nikolaus unsere Süßigkeiten.
Eine weitere Erfahrung, die mich ziemlich fertig gemacht hat, passierte ungefähr ein Jahr nach dieser Kramperlsache. Ich fuhr mit meinen Freunden vom Gymnasium zum Ostbahnhof nach München. Hier befand sich ein Game Zone. Das war für uns das Paradies schlechthin. Ich steckte mit meinen Freunden in einer ziemlichen Nerdphase, und ein Ausflug nach München war keine Seltenheit. Oft hingen wir aber auch einfach so rum, gingen zu McDonald’s und genossen es einfach mal, nach München zu fahren. Wir verließen die Bahnstation am Ostbahnhof und latschten am helllichten Tag unserem persönlichen Glück, der Game Zone und dem neu erschienenem PC Spiel »Monkey Island 2«, entgegen, als ein Typ unseren Weg kreuzte, vielleicht 20 Jahre alt mit schwarzen kurzen Haaren und Jeansjacke. Er sah eigentlich ziemlich normal aus. Meine Kumpels gingen vor mir und unterhielten sich. Ich lief einige Meter hinter ihnen und war in Gedanken. Der Typ blieb kurz vor mir stehen. Dann schaute er mich von oben herab an. Und dann, ehe ich mich versah, spuckte er mich an. Mitten ins Gesicht. Einfach so. Dann ging er weiter. Fassungslos blieb ich stehen. Ich war in Schockstarre und konnte mich zuerst kaum rühren. Nach einigen Sekunden wischte ich mir seine gelbe Rotze vom Gesicht und folgte meinen Freunden, die von der Aktion nichts mitbekommen hatten. Und da stand ich nun auf dem Bürgersteig mit den Resten fremder Spucke in meinem Gesicht und war gedemütigt. Ich war nie jemand gewesen, der von sich aus zuschlug oder Stress suchte, aber ich konnte mich im Ernstfall schon immer zur Wehr setzen. Doch diesmal war das anders. Diese Aktion war aus dem puren Nichts entstanden. Ich konnte es kaum fassen. Meine Freunde hatten sich mittlerweile umgedreht, und wir unterhielten uns weiter über Videospiele, die wir heute anzocken wollten. Nur ich hielt mich jetzt etwas zurück, meine Gedanken blieben bei dem Jugendlichen mit der Jeansjacke. Und da war es wieder, das alte Mantra, dass meine Hautfarbe mich bremste und mir schadete. Ich war an diesem Tag einfach nur ein ganz normaler Jugendlicher auf dem Weg zu einem Computerspielladen, um mit seinen Freunden ein paar Zombies zu erschießen, doch die Rotze in meinem Gesicht, die von dem Jeansjackenträger völlig emotionslos aus seinem Mundraum abgefeuert worden war, zeigte mir mal wieder, dass ich nicht dazugehörte und es Menschen gab, die mich nicht nur nicht mochten, sondern sich aufgrund meiner bloßen Existenz so sehr gestört fühlten, dass sie es völlig in Ordnung fanden, mich anzuspucken. Für den Typ war es einfach nur Spucke gewesen. Für mich war es die größtmögliche Demütigung, die ich mir vorstellen konnte.
Im Nachhinein hätte ich mich wahrscheinlich wehren sollen. Ich hätte den Typen am Kragen packen und ihn fragen sollen, was der Scheiß denn sollte. Ich hätte meine Emotionen mit meinen Freunden teilen müssen, den Übeltäter auf offener Straße bloßstellen und ihm zeigen müssen, dass er so nicht mit mir und auch keinem anderen Menschen umgehen konnte. Aber in dem Moment der Tat war ich einfach viel zu perplex und zu verstört gewesen, um irgendwie zu reagieren.
Ich ließ mir den ganzen Tag nichts anmerken und später, als ich mit meinen Freunden fröhlich Zombies abschoss, verlief von außen betrachtet alles wie immer. Aber in mir war innerlich etwas zerbrochen, was ich mir nach meinen ersten frühen Erfahrungen im Kindergarten und in der Schule mühselig wieder zusammengebastelt hatte – nämlich die Idee, dass ich einfach ein ganz normaler Jugendlicher unter vielen war. Es wäre schön, wenn ich an dieser Stelle noch einhaken und erzählen könnte, dass sich solche Übergriffe auf mich in Grenzen hielten, vor allem weil die Polizei hervorragend arbeitete und eine Minderheit, wie ich sie repräsentierte, besonders in Schutz nahm. Tatsächlich kam es in meiner Jugend aber anders und zu meinen Teenagerzeiten, als ich pubertierte, mir die ersten Haare im Gesicht wuchsen, meine Stimme kräftiger wurde und ich quasi über Nacht gefühlte anderthalb Meter wuchs, trat nun auch noch die Exekutive in mein Leben – und zwar anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Doch nicht mehr so gut gelaunt am Ende des ersten Schultags. Markt Schwaben, 1987
Die besten Erinnerungen habe ich an die Urlaube mit Mama. Badewannenstopp im ehemaligen Jugoslawien. Pfingstferien, 1988
Kindergarten Markt Schwaben, 1984. »Ein Neger darf nicht neben mir sitzen.« Und da sitze ich.
Collage in der SVE, ca. 1986. Die Aufgabe war, die eigene Familie darzustellen: Mama, Papa, ich. Alle weiß. Und ein Golden Retriever.
Davids Vater in der Zeitung
Ich, als Bürgermeister um 1995, in einer Aufführung der Schauspielgruppe. Ein schwarzer Bürgermeister. Ja, so was gab es nur bei uns in der Theatergruppe. Deshalb habe ich mich da auch so wohlgefühlt.
DJing in der Punkband Millhouse, ca. 1997 in Dorfen. Punk and Rap! Yeah, that’s where my heart’s at.
Als Rapper auf der Ausgehetzt-Demo 2018 in München. Diesmal ein paar mehr Zuschauer!