11
München
Samstag, 23:15 Uhr
Auf dem Campingplatz im Norden von München herrschte friedliche Ruhe. Anfang Dezember waren Campingplätze nie besonders gut besucht. Die meisten hatten nicht einmal geöffnet. Ole besaß einen Plan mit allen Plätzen, die ganzjährig Unterstellmöglichkeiten für sein Wohnmobil boten. Sein ganzer Stolz gab hinter ihm ein leises Brummen von sich, während er auf dem Platz davor in der kalten Nacht ein Malzbier aus der Flasche trank. Er hatte in der maximal möglichen Entfernung zu den wenigen anderen Wohnmobilen oder Wohnwagen geparkt, sodass deren Bewohner das Brummen bestimmt nicht hören konnten. Und wenn doch, dann würden sie sicher eine Heizung oder Ähnliches dahinter vermuten. Was in gewisser Hinsicht ja auch stimmte. In zwei anderen Wagen brannte noch Licht. Es waren keine Urlauber, sondern wahrscheinlich Handelsvertreter oder Wanderarbeiter. Leute, die beruflich das Wohnmobil nutzten. Wie er.
Ole trank den letzten Schluck Malzbier und stieg
zurück in das sieben Meter lange, weiße Fahrzeug. Es war ein sogenanntes Alkovenmobil, das über der Fahrerkabine Platz für ein Doppelbett hatte. Zwei weitere Personen konnten im hinteren Teil auf einem geräumigen Doppelbett schlafen. Genügend Platz für Ole und seine Familie, wenn sie im Sommer damit durch die Welt fuhren. Er hatte den Wagen bereits vor zehn Jahren gekauft und seitdem in seiner kleinen Werkstatt immer weiter verbessert. Von außen wirkte er wie jedes andere Wohnmobil. Ole hatte Wert darauf gelegt, dass es nicht aus der Masse herausstach, über keine einprägsamen Ausstattungsmerkmale verfügte. Außen. Innen sah das anders aus. Als er die Tür hinter sich schloss, war das Brummen deutlicher zu vernehmen. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um die Lautstärke so weit zu senken. Nun störte es ihn nicht einmal mehr beim Schlafen. Er schlief vorne. Bei seinen beruflichen Fahrten verzichtete er auf das hintere Bett. Dort deckte ein massives Brett den darunter befindlichen Hohlraum ab, in dem in den Ferien die Koffer und Fahrräder verstaut werden konnten. Jetzt befand sich dort ein fast zwei Meter breiter Edelstahltank. Genauer gesagt waren es zwei Tanks, ein etwas kleinerer in einem größeren. In dem Außentank wurde Wasser erhitzt – daher rührte das Brummen. Im Innentank befand sich eine Natronlauge. Und an Tagen wie diesem auch eine Leiche. Da die Frau eher zart gewesen war, hatte sogar noch ihr Hund mit hineingepasst.
Ole ließ den Deckel über dem Hohlraum ein Stück hochfahren und überprüfte die Messinstrumente. Alle Werte waren, wie sie sein sollten. Am nächsten Morgen
würde von Hund und Frauchen nur noch eine braune Brühe übrig sein. Bei großen Menschen blieb manchmal ein Stück Knochen übrig, meistens vom Oberschenkel. Aber da hatte Ole bei der Frau wenig Sorgen. Auch Goldzähne hatte sie keine gehabt, und ein Herzschrittmacher würde ihn überraschen. Selbst wenn: Solche Reste vergrub er getrennt voneinander irgendwo im Wald. Die sämige Flüssigkeit dagegen würde er am Morgen an der Entsorgungsstation des Campingplatzes durch den Abwasserschlauch in die Kanalisation leiten. Eine umweltfreundliche Methode. Eine völlig unauffällige noch dazu. Manchmal unterhielt er sich dabei sogar mit anderen Campern, die auf ihren Platz an der Station warteten.
Um das Wohnmobil so auszustatten, noch dazu mit einem hermetisch verschlossenen Tank und leichten Umbaumöglichkeiten für die Reisezeiten, hatte Ole ziemlich tüfteln müssen. Er hatte keine Ausbildung als Ingenieur oder Schlosser. Er hatte überhaupt keine Ausbildung. Aber er war immer schon ein Erfinder gewesen und hatte sich über die Jahre alles Notwendige angeeignet. Durch seine Arbeit hatte er genügend Geld verdient, um die alte Scheune neben dem Haus der Familie zu einer Werkstatt auszubauen. Dadurch war es auch für Nadine und das Finanzamt glaubwürdiger, dass er mit Umbauten und Reparaturen von Wohnmobilen sein Geld verdiente.
Beim Gedanken an Nadine schaute Ole auf die Uhr. Es war noch nicht Mitternacht. Sie war bestimmt noch wach und wartete auf seinen Anruf. Also nahm er sein Handy heraus und rief sie über Facetime an. Schon nach wenigen
Sekunden erschien auf dem Display die Frau, die für Ole sein Leben bedeutete. Sie war dreiunddreißig, fast genau zehn Jahre jünger als er. Aber sie sah trotz der beiden Geburten immer noch aus wie ein großes Mädchen. Strahlend blaue Augen, lange blonde Haare, weibliche Formen, die man sogar in ihrem Fernseh-Jogginganzug gut erkennen konnte. Für Ole war sie die schönste Frau der Welt.
»Hallo, Süßer«, rief Nadine freudig.
»Na?«, brummte er ins Handy. »Noch nicht geschlafen?«
»Quatsch«, sagte sie mit ihrem unverwechselbaren Lachen. »Hab noch Fernsehen geschaut. Läuft doch Supertalent
.«
Nadine liebte Castingshows. Sie hatte sich selbst für einige beworben, und Ole verstand beim besten Willen nicht, warum sie nie angenommen wurde. Sie konnte sogar singen. Manche sagten, sie sei zu klein. Aber was hatte die Größe mit Singen zu tun?
»Kommst du jetzt erst von der Arbeit?«, fragte sie.
»War noch mit dem Kunden essen. Kennst du doch. Man muss sich einschleimen, bis die mal was kaufen.«
»Und wie sieht es aus?«
»Sehr gut! Ein Großauftrag. Gleich acht Spezialeinbauten. Danach brauche ich jahrelang nichts mehr zu verkaufen.«
»Nicht übermütig werden«, antwortete sie lachend. »Wir haben doch große Pläne!«
Nadine konnte nie genug bekommen. Dabei stimmte es, was Ole sagte. Nach diesem Auftrag würde er nie
wieder arbeiten müssen. Acht Jobs, noch dazu in recht kurzer Zeit. Eigentlich hatte Ole dem Auftraggeber eine absurde Summe genannt, weil er mittlerweile von seinen tatsächlichen Umbauten von Wohnmobilen einiger ausgewählter Kunden (und dem Ersparten) ganz gut leben konnte. Aber der Mann hatte keine Sekunde lang gezögert, der Bezahlung zuzustimmen. Mit dem Geld konnten sie Nadines Traum wahr machen und ein Jahr lang in Kalifornien leben. Vielleicht auch für immer. Wenn sie das mit der Schule der Kinder hinbekommen würden.
»Zeig mir die Mädchen«, sagte er zu Nadine.
Sie stand vom Sofa im Wohnzimmer auf. Ole sah kurz den Fernseher und das große Fenster, aus dem sie bei Tageslicht über die Felder bis hinunter ins Tal blicken konnten. Die Siedlung hieß nicht umsonst »Schöne Aussicht«. Ein kleiner Ort im Bergischen Land, der offiziell zu Leverkusen gehörte. Die Stadt, in der Nadine aufgewachsen war. Ole war liebend gerne zu ihr gezogen, denn in seiner Heimat Hamburg hatte ihn nichts gehalten. Nach ein paar Jahren hatten sie das Haus gekauft, die Kinder waren geboren worden. Er liebte das Haus. Für Kalifornien würde er es verlassen. Nein, nicht für Kalifornien. Für Nadine und ihren Traum vom Haus am Meer.
Oles Frau stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf und schlich leise in das Zimmer von Jana. Seine Große schlief friedlich. Die Zehnjährige war mindestens genauso eine Schönheit wie ihre Mutter. Bei den dunkleren Haaren und den braunen Augen hatten sich Oles Gene durchgesetzt, aber ansonsten glücklicherweise
nicht. Ihre feinen Gesichtszüge waren identisch mit denen von Nadine. Seine Frau drehte das Handy um und lächelte entzückt in die Kamera. Dann machte sie sich auf den Weg zu Finja. Doch noch während sie auf dem Flur unterwegs war, hörte Ole ein Piepsen aus dem Handy. Jemand rief ihn an. Das passte ihm gar nicht.
»Scheiße«, zischte er. »Beeil dich. Ein Anruf.«
»Willst du nicht erst drangehen?«, flüsterte Nadine.
»Mach!«
»Sei nicht so garstig!«
Nadine schaute ihn kritisch an. Ole hasste es, wenn sie das tat. Aber er sagte nichts. Er wollte Finja sehen. Schließlich kam Nadine zu dem kleinen Blondschopf. Oles Tochter hatte mal wieder ihre Bettdecke weggetreten und lag quer im Bett. Das hatte sie schon immer gemacht. Ole musste lächeln, aber wegen des Piepsens konnte er den Moment nicht genießen.
»Deck sie zu!«
»Das musst du mir nicht sagen«, kam es von Nadine gereizt zurück. »Ich bin ihre Mutter.«
»Ich muss auflegen. Schlaf gut.«
»Ole!«
Er drückte das Gespräch weg. Für Nadines Empfindlichkeiten hatte Ole jetzt keinen Nerv. Er würde ihr von der Dienstreise ein teures Geschenk mitbringen, dann war alles wieder gut. Missmutig schaute er auf sein Display, wo der Name seines Auftraggebers erschien. Kein gutes Zeichen. Anrufe während der heißen Phase waren nie ein gutes Zeichen. Am Abend zuvor hatte er bereits
seinen ganzen Ablaufplan auf den Kopf stellen müssen, weil ein Job hatte vorgezogen werden müssen. Ole hoffte, dass es nicht wieder um so etwas ging.
»Ja?«, meldete er sich.
»Habe ich Sie geweckt?«, kam es zurück.
»Nein.«
»Wo sind Sie?«
»In der Nähe von München.«
Ole zog es vor, dass seine Auftraggeber so wenig wie möglich über seine Arbeit wussten. Umgekehrt wollte er nur das Notwendigste über die Zielpersonen wissen. So war es besser für alle, falls mal etwas schiefging.
»Wir müssen das Tempo anziehen«, verkündete sein Auftraggeber.
»Was? Wieso?«
»Die Polizei schaut sich Nummer drei genauer an. Sie hätten ihn verschwinden lassen sollen.«
»Dann hätte ich heute nicht noch eine geschafft. Ich hab’s Ihnen gesagt: Das ist sportlich, acht Leute in einer Woche.«
Eigentlich war er ganz zufrieden mit der Lösung in den Bergen gewesen. Die Zielperson hatte es ihm mit dieser einsamen Wandertour am Morgen leichtgemacht. Ole setzte sich auf das Brett über dem Hohlraum mit dem Tank. Seine ganze Konzentration war bei dem Telefonat.
»Haben die eine Spur?«, fragte Ole.
»Nein, sie tappen im Dunkeln. Aber sie sind aufmerksam. Die anderen vier brauchen wir bis morgen Abend.«
»Das geht nicht«, antwortete Ole reflexartig
.
»Sie müssen sie nicht alle verschwinden lassen. Hauptsache das Auge … Sie wissen schon.«
Dieser Auftrag war nicht wie frühere. Die bloße Anzahl der Zielpersonen war schon ungewöhnlich. Aber noch ungewöhnlicher war der Wunsch des Auftraggebers gewesen, dass auf jeden Fall das jeweils rechte Auge aller Personen zerstört werden musste. Allerdings nicht immer auf dieselbe Art. Es sollte nicht auffallen, auf keinen Fall ein Zusammenhang zwischen den Personen herstellbar sein. Deswegen war Ole am Morgen extra noch dem Mann in den Bergen hinterhergeklettert und hatte einen Felsen auf seinen Kopf fallen lassen.
»Das ist trotzdem nicht zu schaffen«, erklärte Ole zunehmend ungehalten.
»Sie bekommen noch einmal fünfzigtausend, wenn Sie es doch schaffen.«
Ole stockte. Woher nahm dieser Kerl so viel Geld? Konnte er darauf vertrauen? Der Mann war ihm durch einen guten Freund aus Hamburger Zeiten vermittelt worden. Ole hatte schon zwei Jobs für ihn erledigt. Vor einigen Jahren. Damals schien es aber um einen Nebenbuhler und das andere Mal um einen Streit gegangen zu sein. Eher persönliche Sachen. Diese Nummer hier hatte eine völlig andere Dimension. Ganz normale Leute aus ganz Deutschland, deren Augen irgendetwas Besonderes an sich hatten. Das roch danach, dass man einen Zusammenhang zwischen diesen Menschen herstellen konnte. Vier von ihnen an einem Tag zu ermorden würde nur noch mehr Aufmerksamkeit auf die ganze Sache lenken. Ole war stolz darauf, dass er nicht mal einen Punkt in
Flensburg hatte oder dass sonst etwas über ihn bei der Polizei bekannt war.
»Zu riskant«, sagte er.
»Hunderttausend«, kam es aus dem Hörer zurück.
Ole seufzte. Das würde eine kurze Nacht werden.